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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Heimkehr der Faschisten

Rolf Richter, Eberswalde

 

Blick in aktuelle historische Fachliteratur

 

Anlaß unserer Artikelfolge [Überarbeitete Fassung einer im Mai, Juli und September 2011 in "Barnimer Bürgerpost" (BBP) erschienen Artikelfolge. Die hier referierte neue Literatur wurde in den Fußnoten um einige ältere Publikationen ergänzt.] ist eine Kampagne, die der (Westberliner) Sender RBB in Kooperation mit dem Leiter der BstU-Behörde, Jahn, seit dem Frühjahr 2011 zur "Stasi-Belastung" des Öffentlichen Dienstes in Brandenburg im Interesse der Oppositionsparteien (vor allem der CDU) führt. Ziel dieser Einflußkampagne ist offensichtlich, die Potsdamer Regierungskoalition in die Enge zu treiben und sie womöglich zu spalten. In Justiz und Polizei mit Hilfe der Stasi-Unterlagenbehörde "entdeckte" "Fälle" wurden ohne solide Rechtsgrundlage vom RBB skandalisiert. Sie lieferten dann den Vorwand, trotz Fehlens weiterer Substanz mit Hilfe einer Enquetekommission des Landtags die Medienkampagne fortzusetzen und völlig unsinnige weitere "Überprüfungen" zu fordern.

Wenn hier neuere Forschungsergebnisse zur Situation in der frühen Bundesrepublik vorgestellt werden, in der Teile der ehemaligen NS-Eliten in einflußreiche Führungspositionen gelangten, so sollen keineswegs Parallelen zur heutigen Situation gezogen werden. Anzahl, Einfluß und Position des jeweiligen Personals, vor allem die gegen dieses zu erhebenden Vorwürfe (im Fall der Nazi-Elite oft schwere Verbrechen), sind in keiner Weise vergleichbar. Der Rückblick zeigt aber, wie sehr sich die Maßstäbe für das für die Gesellschaft "Tragbare" – zumal bei der CDU (damals Regierungspartei, heute Motor der Kampagne gegen "Stasi-Täter") – verschoben haben.

Auffällig ist schließlich die heutige Beschönigung der Akzeptanz schwer belasteter Nazis nach 1945 im Vergleich zur Skandalisierung der Beschäftigung etwa von IM in Brandenburg. Selbst scharfe Kritiker verharmlosen die "Heimkehr der Faschisten" als "Rückkehr in die Bürgerlichkeit" (Mallmann/Angrick), "gelungene Integration" (Burger). Und Egon Bahr rechtfertigend: "Wir hatten keine anderen, wir konnten nicht sofort umschalten." [Interview mit Alex Krämer in RBB-Inforadio, 7. Juni 2011.]

 

I

Die BND-Akte V-43118. Im Februar 2011 beauftragte BND-Chef Uhrlau eine vierköpfige Historikerkommission mit der "Aufarbeitung" der "Frühgeschichte des BND bis 1968". Im Aprilheft der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG) berichtete P. Hammerschmidt über Bemühungen, in Akten des Pullacher Archivs zu recherchieren [P Hammerschmidt, "Daß V-43 118 SS-Hauptsturmführer war, schließt nicht aus, ihn als Quelle zu verwenden." Der Bundesnachrichtendienst und sein Agent Klaus Barbie.]. Seine Versuche ab Mai 2010, Akten zum in Frankreich verurteilten Kriegsverbrecher Klaus Barbie einzusehen, wurden vom BND abgelehnt und erst vom aufsichtsführenden Kanzleramt im September bewilligt. Zuvor hatte aber eine Journalistin die Einsicht in BND-Akten zu Adolf Eichmann erst mittels Urteil des BVwG erzwingen müssen, die ihr ebenfalls verweigert worden war.

Klaus Barbie alias Altmann (1913-1991): Ab 1942 im besetzten Frankreich in leitender Position in SD und Gestapo tätig. Sondereinsätze gegen Résistance. In Lyon 21 führende Widerstandskämpfer ausgeschaltet. Persönlichen Vertreter de Gaulles und Präsident des Nationalrats der Résistance, Jean Moulin, zu Tode gefoltert [Zu Moulin: F Armanet, M Armanet (Hg), La Résistance. Ses héros, ses histoire. In: Les Collections du Nouvel Observateur No. 16. Paris o.J. [1993].]. Barbie nach Kriegsende in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Durch den ehemaligen SD-Mitarbeiter Schwend als Agent an den CIC (Counter Intelligence Corps) vermittelt. 1951 mit Hilfe des in Verbindung mit dem Vatikan tätigen kroatischen Pater Draganovic illegal auf der "Rattenlinie" Flucht nach Bolivien. Geschäftlich als "Klaus Altmann" für Chemiefirma Boehringer in Peru tätig, dann wohl für die Bundeswehr Waffenverkäufe in Südamerika. Ab1965 durch den BND-Agenten Holm (V-43017) an die BND-Zentrale empfohlen ("entschiedener Kommunistengegner", "kerndeutscher Gesinnung"), angeworben. Führungsstelle 934 hielt ihn für einen ehemaligen SS-Hauptsturmführer. Nach Ermittlung und Fahndung von LKA Wiesbaden und Zentralstelle Ludwigsburg zu Barbie schaltet die BND-Zentrale die Quelle "Altmann" Ende 1966 ab, offenbar ist man sich (nun?) über die Identität von Altmann mit Barbie im Klaren. 1987 nach Auslieferung in Frankreich Barbie zu lebenslänglich verurteilt. 1972 notiert man in der BND-Zentrale: "Die damalige Führungsstelle hatte es unterlassen, amtliche Auskünfte über Altmann einzuholen." Unklar bleibt, ob im BND die Identität von Barbie mit "Altmann" bekannt war. Der Autor bemerkt dazu: "Als sich im September 2010 die Tore des BND-Archivs in Pullach erstmals für die historische Forschung öffneten, ... war nicht absehbar, in welchem Ausmaß der westdeutsche Geheimdienst ... mit ehemaligen SS-Angehörigen kooperierte."

II

Die Diplomaten. In der BND-Akte Barbie ist vom damaligen bundesdeutschen Botschafter in Peru die Rede, Günther Motz, dessen (Information aus Ostberlin) Dissertation von 1935 habe sich mit den "Nürnberger Gesetzen" beschäftigt. Vor einigen Jahren hatte Außenminister Fischer eine Historikerkommission mit der Aufarbeitung der Vergangenheit des Auswärtigen Amtes (AA) beauftragt. Schon seit 1978 lag dazu eine ausführliche englische Dissertation vor [Inzwischen in deutscher Übersetzung erschienen: Christopher R Browning, Die "Endlösung" und das Auswärtige Amt, Darmstadt 2010.]. An der "Wannsee-Konferenz" war die AA-Deutschlandabteilung vertreten, ihr Protokoll wurde von Staatssekretär Ernst von Weizsäcker persönlich abgezeichnet. Das AA erhielt auch die Lageberichte der Einsatztruppen an der Ostfront und unterstützte die Aktivitäten der SS in den besetzten Ländern. Dreißig Jahre lang nach Erscheinen jener Arbeit hielt das AA keine Reaktion für nötig. Inzwischen ist der Bericht der Historikerkommission als Buch erschienen [E Conze u.a., Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik, München 2010; krit. Besprechung des ersten Teils – bis 1945 – von J Hürter vom Institut für Zeitgeschichte im Aprilheft 2011 der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte.]. Der Bericht sieht das AA als die zentrale bzw. als eine Stelle neben dem RSHA für die Durchsetzung der Judenvernichtung in Europa. Die Behauptung, das AA sei der Hort des Widerstandes gewesen, war nur eine nach 1945 gepflegte Legende. Viele Spitzendiplomaten, häufig selbst Antisemiten, haben die völkerrechtswidrige und mörderische NS-Politik – manche etwas distanziert, jüngere intensiv – unterstützt. Die Sicht des Berichts auf das AA ist zu sehr verengt nur auf die Judenvernichtung, während die Massenverbrechen gegen Zivilbevölkerung und Kriegsgefangene in Osteuropa unterbelichtet sind. Zahlreiche NS-belastete Diplomaten wurden nach 1949 in den Dienst der Bundesrepublik übernommen.

III

Die Juristen. Eingangs war von heutigen Brandenburger Juristen die Rede. Größenordnung: etwa 13 Richter mit "Stasi-Verstrickung", etwas über 100 sonstige Mitarbeiter im Justizdienst. Selbstverständlich sind alle bei Einstellung gemäß StÜG überprüft worden. Verstöße gegen Strafgesetze lagen bei ihnen nicht vor [In der Brandenburger "Stasi-Kampagne" spielt auch der Fall des Leiters einer Polizeiwache eine Rolle, der vor 1990 als Vernehmer tätig war. Konkrete Vorwürfe wurden gegen ihn nicht erhoben. An dieser Stelle sei daher auch auf die Situation in der Polizei der alten BRD verwiesen. Dazu siehe G Fürmetz u.a. (Hg), Nachkriegspolizei. Hamburg 2001, sowie J Matthäus, Alte Kameraden und neue Polizeimethoden, in: K-M Mallmann, A Angrick (Hg), Faschismus nach 1945. Darmstadt 2009 (hier der krasse Fall Heuser: als KdS Minsk schwere Verbrechen, 1958 Leiter LKA Rhld-Pf.) - Liste von 284 NS-belasteten Polizeibeamten im BRD-Dienst, davon 27 im BMI, in: K Eichner, G Schramm (Hg), Angriff und Abwehr. Die deutschen Geheimdienste nach 1945. Berlin 2007, S. 238-282.]. – Zur Übernahme von Nazi-Juristen in der Bundesrepublik liegt längst eine umfangreiche, Recherche vor [Wir klagen an: 800 Nazi-Blutrichter - Stützen des Adenauer-Regimes. Ausschuß für Deutsche Einheit (Hg), Berlin 1959. – Teilergebnisse der Recherche schon seit Frühjahr 1957 teilweise in Pressekonferenzen bekanntgegeben. Diese später ergänzt, 1960 in Form von Urteilskopien der Bundesanwaltschaft in Karlsruhe übergeben.]. Zu den hier alphabetisch genannten Zivil-, Militärrichtern, Staatsanwälten waren die Todesurteile nebst Urteilsgründen vermerkt (teils in den besetzten Gebieten), frühere Positionen und ihre Verwendung nach 1949 angeführt. 222 Belastete NS-Juristen amtierten an Landgerichten (davon 121 als Präsidenten/ Direktoren), 181 als Staatsanwälte (davon 55 als leitende). Beispiele: 1959 Richter am BGH – früher Reichskriegsgerichtsrat, Chef-Militärrichter in Dänemark (Todesurteile); 1959 Erster Staatsanwalt in Schleswig – forderte 1944 für eine Rot-Kreuz-Schwester Todesurteil, weil sie bedauerte, daß das Attentat vom 20. Juli mißglückt war; 1959 Landgerichtsrat in Ravensburg – als Richter am Volksgericht 100 Todesurteile. Die Recherche ist 189 Seiten stark ... Von westdeutscher Seite kamen auch später keine vergleichbar umfassende Forschungsbeiträge zu den Nachkriegskarrieren der Nazi-Blutjuristen. Dies nicht, weil der Stoff erschöpft war – die NS-Justiz hat mehr als 40.000 Todesurteile erlassen. Allein aufs Konto des "Volksgerichtshofs" kamen über 5000. Annette Weinke urteilte 1998, "daß die DDR-Publikationen ... teilweise nur die Spitze des Eisbergs angekratzt hatten." [Annette Weinke, Die Selbstamnestierung der bundesdeutschen Justiz 1957-1965: der Fall Westberlin. In: ZfG 46, 622-637, 1998. Bei Weinke auch die makabre Geschichte der "Überprüfung" der westdeutschen Justiz, während der schwerbelastete Juristen bei Höchstpension und Zusicherung von Straflosigkeit in den Ruhestand gingen. W. wirft den Justizverwaltungen, die Personalakten ihrer Bediensteten "mit peinlicher Sorgfalt unter Verschluß" hielten, "Blockadehaltung" und Behinderung der Forschung vor.]

IV

Parteien & Parlamente. Eine neue Studie untersucht die Zusammensetzung des hessischen Landtags [H-P Klausch, Braunes Erbe. NS-Vergangenheit hessischer Landtagsabgeordneter der 1.-11. Wahlperiode (1946-1987). Oldenburg/Wiesbaden 2011.]. Im Unterschied zu Angaben von 1988 wurde hier das Document Center herangezogen [Zu den Landtagen vgl. auch R Billerbeck, Die Abgeordneten der ersten Landtage (1946-1951) und der Nationalsozialismus. Düsseldorf 1971.]. Nur in einer Fraktion (KPD bis 1956) fanden sich keine NSDAP-Mitglieder, Unter 140 SPD-MdL gab es 15 Fälle (jüngere Personen ohne gravierende Belastung), unter 97 CDU-MdL fanden sich 22 Fälle von NSDAP-Mitgliedschaft (fast alle im Zeitraum 1954-1962), darunter Alfred Dregger (MdB, Landesvorsjtzender 1967-82) und Georg Rösch (NSDAP 1931). Die FDP-Fraktionen (59 MdL) wiesen 23 Ex-Nazis auf, darunter 6 mal NSDAP-Eintritt vor 1933, 8 mal am 1.5.33 (die behenden Karrieristen!). In den Legislaturperioden ab 1958 und ab 1962 gab es in der FDP-Fraktion jeweils eine "NS-Mehrheit" von 66 bzw. 73%, dabei je einmal SS bzw. SS-Reiterstaffel. Unter den Hessen-Altnazis waren Fraktionsvorstände, Landesminister bzw. -staatssekretäre und der Landesvorsitzende des Richterbundes (dieser CDU, NSDAP 1933).

In der NRW-FDP um Middelhauve trug sich 1952 eine spektakuläre Affäre zu [K Buchna, Nationale Sammlung an Rhein und Ruhr. Friedrich Middelhauve und die nordrhein-westfälische FDP (1945-1953). München 2010; Rez. in Das Historisch-Politische Buch (HPB) 58 (5) 500, 2010.]. M. "zog einschlägige Nationalsozialisten des sogenannten Naumann-Kreises ... in sein politisches Umfeld ... Im Januar 1953 ließ der britische Hohe Kommissar Werner Naumann und einige Mitstreiter verhaften". Dr. Werner Naumann war Goebbels letzter Staatssekretär. Zum Kreis – mit Ablegern in mehreren FDP-Landesverbänden – gehörten Dr. Werner Best (RSHA, Stellv. Heydrichs), Ex-Reichsrundfunkkommentator Hans Fritzsche, und der unten zu erwähnende Six. Diese Truppe versuchte die FDP mit einem "Deutschen Programm" förmlich zu übernehmen. Hierher gehört der Essener Anwalt Dr. Achenbach (FDP, MdB 1953-1976) mit engen NS-Beziehungen u.a. zum Naumann-Kreis. An der deutschen Botschaft in Frankreich mit Judendeportationen befaßt, nach 1945 Verteidiger von Best, Six und anderen NS-Größen. Zusammen mit dem FDP-geförderten Kölner Generalstaatsanwalt Pfromm, einem ehemaligen NS-Führungsoffizier, sabotierte er die Strafverfolgung von Gestapo-Leuten (Abschnitt "Gestapo nach 1945") [Hierher gehören auch die Parteien und Verbände der "Vertriebenen", so BHE, Bund der Vertriebenen, Witiko-Bund, und ihr z.T. stark NS-lastiges Personal. Einige ihrer Vertreter gelangten in hohe Staatsämter: Waldemar Kraft – mit Kontakt zu Naumanns "Gauleiter-Kreis" – war stellv. MP in SWH und Bundesminister; Theodor Oberländer Bundesvertriebenenminister. Vgl. B Stöver, Pressure Group im Kalten Krieg. Die Vertriebenen, die USA und der Kalte Krieg 1947-1990. In: ZfG 53. 905-911, 2005.]. Diese Fakten kennzeichneten die frühe BRD, in der eine braune Vergangenheit zeitweilig zumindest nicht von Nachteil war. Dementsprechend war man auch in den Sphären von Universitäten, Wissenschaft, Kultur und Publizistik nicht bereit, einen ernsthaften Schnitt zur Vergangenheit zu machen und sich von Personen zu trennen, die Stützen der faschistischen Institutionen gewesen waren.

(Fortsetzung folgt)

 

Mehr von Rolf Richter in den »Mitteilungen«: 

2011-08: Vor 60 Jahren: III. Weltfestspiele in Berlin 1951

2010-10: Besser Exit als Exitus, Die Bundeswehr am Hindukusch

2009-02: Ukraine 1918. Fiasko eines deutschen Abenteuers – Teil 2 und Schluß