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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Ukraine 1918. Fiasko eines deutschen Abenteuers - Teil 2 und Schluß

Rolf Richter, Bündnis für den Frieden Eberswalde

(Fortsetzung von Heft 1/2009, Seite 22 bis 27, mit den ersten beiden Abschnitten "I. Kiew" und "II. Der Rückzug", Überarbeitete Fassung einer in der "Barnimer Bürgerpost", Heft 10–12, 2008, erschienenen Artikelfolge.)

 

III. Odessa

Im März waren Österreicher aus Galizien in Odessa eingetroffen, deutsche Truppen aus Rumänien zogen durch. Die Stadt wurde Sitz des k.u.k. Kommandos. Dessen "Ausnützungsgebiet", so der Bericht der k.u.k. Ostarmee, waren die Gouvernements Podolien, Cherson, Jekaterinoslaw (Dnjepropetrowsk). [Krauß, Alfred, u. Klingenbrunner, Franz, Die Besetzung der Ukraine 1918. Wien 1928. General Krauß war Kommandierender, Klingenbrunner Heeresintendant der k.u.k.(kaiserlich und königlichen) Ostarmee.] Die Lage in der Stadt war dramatisch. Die Industrie lag still, bis Juni kein Straßenbahnverkehr, Mangel an Kohlen, Erdöl und allen wichtigen Gütern. In dem ertragreichen Gebiet langten die Ergebnisse der "Beitreibungen" für die Versorgung nicht hin. Im August wurden in Odessa – erstmals! – Brotkarten eingeführt. "Die zahlreiche Arbeiterbevölkerung war bolschewikisch gesinnt ... Bauern und Arbeiter fürchten die Früchte der Revolution zu verlieren ... Sie [die Bauern – R.R.] wollen wohl Ordnung und Sicherheit, aber nur eine solche, die ihnen ihren Raub [das Gutsland!] beläßt." Ja, die Sicherheit: "Bauern und Arbeiter sind allgemein bewaffnet." In Odessa erbrachte die Entwaffnung am 29. 4. bis 1. 5. – also 6 Wochen nach Einmarsch! – 30.000 Gewehre, 100 MG, 6 Geschütze, 50 Minenwerfer, 2 Panzerautos. Als sich Hetmanregierung und Besatzer im August über die "Teilung" der russischen Heeresvorräte geeinigt hatten, flogen am 31. 8. die riesigen Munitionslager am Rande Odessas in die Luft, wie schon im Juli in Kiew ... [Krauß u. Klingenbrunner, a.a.O.]

Im ungeheuren Chaos des Kriegsendes, das Mittel- und Osteuropa erfüllte, bewegten sich einige Menschen, deren Schicksale mir vertraut sind. In Odessa war das die Familie Banner, die später mit meinem Vater in Berührung kam. Nach dem Tod meiner Eltern gerieten mir einige Gegenstände in die Hände, die von der Tochter Nanni geblieben waren, und ich versuchte, mehr über ihre Geschicke zu erfahren. Weniges ist sicher belegt, vieles nur auf Grund von Indizien zu vermuten. Nanni Banner, Nuschka genannt, wurde 1898 in Memel geboren. Ihr Vater war Musiklehrer, die Mutter Erzieherin. Die Familie ist vor Kriegsbeginn 1914, wohl bald nach Nuschkas Geburt, nach Rußland ausgewandert. Mehrere zwischen 1909 und 1913 geprägte Kopekenstücke erinnern daran, eine Münze der deutschen Militärverwaltung von 1916 spricht für zeitweilige Berührung mit deren Machtbereich. Nuschka hat wohl in Odessa die Schule besucht. Eine zweisprachige, vom Direktor einer Odessaer Schule verfaßte deutsche Grammatik stammt aus dieser Zeit. Die große Zahl deutscher Siedler in der Umgebung der südrussischen Hafenstadt wurde schon erwähnt. Auch in Odessa lebten viele Deutsche. Nach Tanja Penter betrug ihre Zahl 1897 über zehntausend (2,5% der Einwohner). Die Einwohnerzahl der Stadt stieg zwischen 1897 und 1914 von knapp 404.000 auf über 669.000. Ein Teil der deutschen Zuwanderer kam wie die Banners aus den baltischen Gebieten, darunter "viele akademisch Gebildete, insbesondere Lehrer, Erzieher und Ärzte, aber auch Kaufleute..." [Penter, Tanja, Odessa 1917, a.a.O.] Vermutlich ist die Familie gezielt nach Odessa gegangen, wo die Bedingungen für Zuwanderer besonders günstig waren.

Im Lauf des Krieges änderte sich das allerdings bald. Die Kriegsjahre brachten Inflation, Mangel, Schwarzmarkt und Spekulation, ausufernde Kriminalität und eine krasse soziale Spaltung der Gesellschaft. Darunter litten besonders die nicht mit der Kriegswirtschaft verbundenen Bevölkerungsschichten, zu denen die Banners gehörten. Nach Kriegsbeginn wurden deutsche Sprache und deutscher Sprachunterricht in Rußland verboten, deutscher Großbesitz enteignet, ein Teil der Deutschen ins Hinterland umgesiedelt – da war Nuschka sechzehn. 1917 erschienen wieder deutschsprachige Presseorgane in Odessa. Die Mächte wechselten dort oft und schnell. Im Januar 1918 gelang ein Aufstand der Bolschewiki mit Hilfe der Geschütze der Schwarzmeerflotte. Die ukrainischen Hajdamakentruppen der Zentralrada wurden vertrieben. In der multiethnischen Stadt mit überwiegend russischer und jüdischer Einwohnerschaft hatte deren engstirnig-nationalistische Ukrainisierungspolitik wenig Sympathie genossen. Die Sowjetrepublik Odessa mußte im März 1918 den österreichischen Truppen weichen. Doch im Oktober begann die Revolution in der Doppelmonarchie, der Vielvölkerstaat brach auseinander. Die österreichisch-ungarischen Truppen strömten spontan in ihre Heimatländer zurück. Dafür rückte die deutsche 7. Landwehrdivision ein. Schon zuvor hatten die entlassenen deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen den gleichen Weg genommen. Mit dem Abkommen von Brest-Litowsk, das diese Freilassung vorschrieb, hatten die Vertreter der Mittelmächte ironischerweise selbst für die Infektion ihrer Länder mit dem Virus der "russischen Krankheit" gesorgt. Entsetzt berichtete Skoropadskij von einer Eisenbahnfahrt: "Es fuhren österreichische Kriegsgefangene mit uns. ... Sie sprachen alle ausgezeichnet russisch. Die reinsten Bolschewiki ... Dann ging ich in ein anderes Abteil, in dem Ungarn saßen. Die stellten sich hinsichtlich ihrer politischen Überzeugungen auch nicht besser heraus." [Skoropadskyj, Pavlo, a.a.O., S. 124.]

Nach dem Zusammenbruch des Hetmanats kehrten Petljuratruppen nach Odessa zurück. Sie wurden im Dezember durch französischen Truppen verdrängt, blockierten aber nun die Stadt. Die Versorgung brach zusammen, die Preise stiegen hemmungslos. Das letzte, in den Kasernen zernierte deutsche Militär wurde im März per Schiff evakuiert.

Diesem fortgesetzten Chaos suchten die Banners zu entkommen. Zwischen April und Dezember – Eintreffen und Abzug der deutschen und österreichischen Truppen – hatte sich für die Deutschen in Odessa ein Zeitfenster geöffnet. Die Rückkehr nach Deutschland wurde möglich. Vorher blockierte die Front, danach erschwerten Wirren und Ententetruppen eine solche Reise. In dieser Zeit haben sich die Banners nach Deutschland durchgeschlagen, unbekannt, wie. Offenbar haben sie Odessa eher spät verlassen und sind Ende 1918 oder Anfang 1919 in Berlin angelangt. Sie lebten jedenfalls 1919 in Berlin, doch das jeweils im Vorjahr gedruckte Berliner Adreßbuch verzeichnete sie erst 1920. Da ist bereits von der Witwe Banner die Rede. Der Vater war in Berlin verstorben, wohl als Folge der Kriegsumstände, der Reisestrapazen oder der Seuchen.

IV. Berlin

Der Armierungssoldat, Rechtsanwalt, Reichsstagsabgeordnete Karl Liebknecht verfolgte im Zuchthaus Luckau gebannt das Geschehen im Osten – die Geschicke der Revolution, das Schicksal der Angehörigen. Seine Frau Sophie stammte aus Rostow am Don und bangte um Mutter und Geschwister ("Alles bewegt mich wie Dich, jede Zeitungsnachricht, die auf ihre Lage Bezug haben kann" – Brief vom 10. 3. 1918). Er begriff weit früher und genauer als die Groener und Skoropadskij den zwangsläufigen Ausgang des Ukraine-Abenteuers. "Guerillakrieg - erfordert größere Truppenmassen als der übliche Frontkrieg. – Demoralisierend, nicht ungestraft wird ein modernes Massenheer im Bürgerkrieg, im Klassenkrieg als Gendarm ... gegen Revolution benutzt ... Dieser Krieg wird zu einem immer schmutzigeren Geschäft. – Zersetzung der Disziplin (‚Moral’) in den Truppenteilen, die an Ostfront von Russen infiziert - bei Verschickung nach der Westfront dahin getragen ..." Schließlich: "Und nichts ist sicherer Episode, als was den Stempel plumper Opposition gegen die Naturgesetze trägt ..." [Liebknecht, Karl, Gesammelte Reden und Schriften. Bd. IX, Mai 1916 bis 15. Januar 1919. Berlin 1974, S. 430–564.]

In Berlin hatten schon im Januar Hunderttausende für sofortigen Frieden gestreikt. Trotz Belagerungszustand, Massenverhaftungen, Einberufungen blieb die Millionenstadt unruhig. Die Opposition gegen den Krieg wurde immer erbitterter. In Kassibern an die Berliner Freunde drängte Liebknecht von Luckau aus: "Aktion - Aktion! Ist gar nichts möglich? Es muß aber!" (April) – "...Hämmern. Bis der Nagel fest sitzt. Axtschlagen - bis der Baum fällt. Pochen - bis Schlafende aufwachen. Peitschen - bis Träge und Feige aufstehn u. handeln" (September). [Ebenda.]

Im Mai wurde auch mein Vater wieder einberufen – Sohn einer Berliner Arbeiterfamilie in Kreuzberg, Kunststudent. Im November schloß er sich dem Roten Soldatenbund (RSB) an, der Militärorganisation des Spartakusbundes. Seine Familie war unpolitisch, doch dieser Schritt war kein Zufall. Sein "arger Weg der Erkenntnis" hatte mit den Schulerlebnissen begonnen. Beim Eintritt ins Realgymnasium verzog der Schuldirektor das Gesicht und fragte wohlmeinend, ob man die Angabe des väterlichen Berufs (Transportarbeiter, Packer) nicht "anders ausdrücken" könne, damit der Schüler keine Nachteile habe. Nachdrücklich belehrt wurde der ahnungslose Kriegsfreiwillige 1915 während der Ausbildung beim preußisch-deutschen Militär. Für weitere Erkenntnisse sorgte das Studium an der Königlichen Kunstschule in Schöneberg (heute Universität der Künste, UDK). Die dortigen Lehrkräfte waren zumeist Opponenten des kaiserlichen Regimes. Zu den Lehrern gehörten die Professoren Tappert, ein namhafter Expressionist, und Hasler, in den zwanziger Jahren führender Reformator des preußischen Kunstunterrichts. Beide waren Ende 1918 Mitbegründer der Berliner Künstlervereinigung "Novembergruppe". Die Bekanntschaft mit dem sozialkritischen Maler Hans Baluschek, der später gelegentlich Richters schwer kranke Frau materiell unterstützte, tat ein übriges. Diese Künstler zählten auch später zu den demokratischen Kräften in der Weimarer Republik.

Ende 1918 betätigte sich der junge Soldat als Agitator und Flugblattverteiler an den Truppenstandorten um Berlin, nicht ohne Gefahr, von reaktionären Offizieren festgesetzt zu werden. Er nahm an Aktionen zur Waffenbeschaffung und zur Aushebung von Konterrevolutionären teil und wurde zur bewaffneten Begleitung Liebknechts eingeteilt. Dessen mutiger Auftritt am 1. Mai 1916, bei dem er nach dem berühmten Ausruf "Nieder mit dem Krieg! Nieder mit der Regierung!" verhaftet und verurteilt wurde, hatte am Potsdamer Platz; fast vor Richters Haustür, stattgefunden (die Familie wohnte damals in der Köthener Straße, einer der Demonstrationszüge führte dort vorbei). Seitdem genoß Liebknecht die Hochachtung großer Teile der Berliner Arbeiterbevölkerung. Eine Grippewelle setzte Richter im Dezember außer Gefecht. Im Januar 1919, noch Rekonvaleszent, war er bei Ausbruch der Kämpfe im Zeitungsviertel, so lange das "Vorwärts"-Gebäude nicht von Noske-Truppen abgeriegelt war, Melder für den Kampfstab. Aufgewachsen in der Zimmerstraße, Schule in der Kochstraße – er kannte die Schleichwege im Zeitungsviertel. Die Januarkämpfe dauerten nur wenige Tage und endeten mit blutigem Terror, dem auch Liebknecht und Luxemburg zum Opfer fielen. Im Februar wurde mein Vater, wie Tausende Soldaten der zerfallenden Armeen in Berlin und Umgebung, offiziell demobilisiert. Der Landsturmmann wurde wieder zum Kunststudenten.

Wie immer die Familie Banner aus Odessa nach Berlin gelangte, über Warschau und Posen oder über Budapest, Wien und Prag, überall war die Revolution ihr Reisebegleiter. Und Banners waren nur ein Molekül im Strom der Flüchtlinge und Emigranten aus dem Osten. "In Berlin zählt man 1919 schon 70000 bei 3,8 Millionen Einwohnern, Monat für Monat kommen etwa 1000 dazu" – Kaufleute und Unternehmer, Wissenschaftler und Künstler, Juristen und Offiziere aus Rußland. [Mierau; Fritz (Hrsg.), Russen in Berlin. Literatur-Malerei-Theater-Film 1918–1933. Leipzig 1987.] Das Berliner "russische Milieu", soweit künstlerisch geprägt, zog auch den Kunststudenten Richter an. Irgendwann Ende 1918 oder Anfang 1919 lernte er die junge Nanni Banner kennen. Als er 1920 die Zeichenlehrerprüfung abgelegt und in Nowawes (heute Potsdam) eine Anstellung gefunden hatte, heirateten die beiden. Über die Persönlichkeit der jungen Frau gibt ihre spärliche Hinterlassenschaft Auskunft. Sie muß kunstinteressiert gewesen sein, brachte die Kenntnis russischer Malerei mit nach Berlin und war mit den Studienfreunden meines Vaters bekannt. Von ihnen stammen ihr Exlibris, kleine Farbskizzen und Linoldrucke, die ihre Bücher schmückten. Nuschka bewunderte offenbar Lew Tolstoi. Aus Rußland hatte sie Fotokarten Tolstois und Tschechows mitgebracht. Mehr als der berühmte Romanautor beeindruckte sie wohl der radikale Gesellschaftskritiker, der kompromißlose Pazifist. Als Tolstoi 1910 aus Jasnaja Poljana, aus der Familie, aus der ganzen von ihm verachteten Gesellschaft floh – und starb, war ganz Rußland in Aufregung. Damals war Nuschka zwölf. Das junge Paar besaß Übersetzungen wichtiger russischer Schriftsteller – Gogol, Dostojewski, Andrejew, Tolstoi, Gorki. Tolstoi war nicht mit den großen Romanen, sondern mit seinen reformatorischen Schriften vertreten ("Die Kreuzersonate", "Und das Licht scheinet in der Finsternis", "Was sollen wir also tun"). In Nuschkas Neuem Testament, einem kleinen, mit eigenem Schmuck versehenen Büchlein, sind einige Verse angemerkt, darunter die Stelle, die die Lauen, Gleichgültigen verwirft: "Ach, daß du kalt oder warm wärest! Weil du aber lau bist und weder kalt noch warm, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde" (Offenbarung Johannis 3.15). Zu den Lauen hat sie nicht gehört. Mein Vater hatte eine gleichgesinnte Gefährtin gefunden. Mehr als das. Diese "junge Frau von 1918" (frei nach Arnold Zweig), schwer lungenkrank und bereits vor der Hochzeit Patientin in den Beelitzer Heilstätten, hat ihm die russische Kultur nahegebracht, die Sprache, die Lebensgewohnheiten. Sie hat sein Denken und Handeln nachhaltig beeinflußt.

V. Bilanz

"Wenn wir den Krieg gewonnen hätten," schrieb Erich Kästner nach jenem ersten, "dann läge die Vernunft in Ketten und stünde stündlich vor Gericht. Und Kriege gäb’s wie Operetten. Wenn wir den Krieg gewonnen hätten – zum Glück gewannen wir ihn nicht!" Was jenes spezielle Abenteuer betrifft, die Besetzung der Ukraine, läßt Arnold Zweig den Chef von Ober-Ost Bilanz ziehen: "9231 Waggons Getreide, laut Verteilungsschlüssel 10/17 davon an die verehrten Bundesbrüder, der Rest an uns. In Zahlen: 3750 Waggons. Jeden zu 200 Zentner angesetzt: 75 Millionen Pfund. Und da wir ein 70-Millionen-Volk sind, etwas mehr als ein Pfund auf den Kopf unserer löblichen Bevölkerung." Resümee: "Keine Rede davon, Eroberungen zu behalten, Reiche und Throne, Finnland, Kurland, Litauen, Polen, Ukraine. Man hatte einen großartigen Schlag ins Wasser geführt, mächtig gespritzt hatte es, ein herrliches Vergnügen. Aber jetzt mußte man zugeben, man war patschnaß und sollte sich umziehen." [Zweig, Arnold, Einsetzung eines Königs, a.a.O. Die Ukraine lieferte an Deutschland bis Ende Oktober 1918 58.000 t Getreide und Futtermittel, 34.000 t Zucker 45 Mio. Eier, 39.000 Rinder, 53.000 Pferde (OTTO, Helmut u.a., Der erste Weltkrieg. Berlin/DDR 1968, S. 246). An Österreich-Ungarn gingen 46.225 t Getreide/Mehl, 25.000 t Zucker, 55.000 Rinder, 40.000 Pferde (KRAUß u. Klingenbrunner, a.a.O.) "Vereinbart" war aber die Lieferung von 1 Mio. t Getreide!] Die Herren zogen sich also um. Die meisten Leute kamen allerdings so billig nicht davon.

Was wurde aus denen, die in diesem Bericht vorkommen? General Groener, Ludendorffs Nachfolger in der OHL, schloß am Tag nach Abdankung des Kaisers jenes Abkommen mit dem "Volksbeauftragten" Friedrich Ebert und versuchte, die zurückkehrenden Fronttruppen gegen die Revolution einzusetzen. Das mißlang, die Leute gingen zu Muttern nach Hause. Ludendorff putschte 1920 mit Kapp, 1923 in München mit Hitler gegen die Republik. Später saß er für die NSDAP im Reichstag. Paul von Hindenburg wurde Reichspräsident und brachte Hitler an die Macht. Hauptmann Meißner wurde Staatssekretär im Reichspräsidentenamt. Das blieb er unter Ebert, Hindenburg und Hitler. Die deutsche Geschichte hat schon etwas Eigenes. Der "Hetman" Skoropadskij tauchte nach seinem Sturz in Kiew unter. Er wurde, um und um bandagiert, in einem deutschen Lazarettzug durch die Kontrollen der Ukrainer geschmuggelt und ließ sich in einer 16-Zimmer-Villa in Berlin-Wannsee nieder. Bis zu seinem Tod 1945 bezog er vom Reichspräsidenten (Ebert, Hindenburg, Hitler!) einen Ehrensold – ausgezahlt von seinem Bekannten, dem Staatssekretär Meißner. Mit diesem Geld finanzierte er seine sowjetfeindliche Exilbewegung. Auf der Flucht aus Berlin starb er in Bayern an den Folgen eines amerikanischen Luftangriffs. Skoropadskijs Rivale Simon Petljura kämpfte von Polen aus gegen Sowjetrußland und bildete dort eine Exilregierung. Den Judenpogromen seiner Truppen fielen 1919 zehntausende Menschen zum Opfer. 1926 wurde er in Paris von einem ukrainischen Juden erschossen. Das französische Gericht sprach den Täter frei, weil er "in Vergeltung für den Tod von 15 Familienmitgliedern, darunter seiner Eltern" handelte. Teile von Petljuras Nationalistenbewegung kollaborierten 1941 mit den Hitlerfaschisten. Der frisch gewählte ukrainische Präsident Juschtschenko ließ sich 2005 an seinem Grab fotografieren. [http://de.wikipedia.org/wiki/Symon_Wassyljowytsch_Petljura.htm. – Zum Verhältnis zwischen ukrainischen Nationalisten und Deutschland: Grelka, Frank, Die ukrainische Nationalbewegung unter deutscher Besatzungsherrschaft 1918 und 1941/42. Wiesbaden 2005; sowie Bruder; Franziska, Kollaboration oder Widerstand? Die ukrainischen Nationalisten während des Zweiten Weltkrieges. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54, S. 20-44, 2006.] Mein Berliner Großvater verlor 1923 alle Ersparnisse, dann seine Arbeit, und wurde Kleinstrentner mit Sozialhilfe. Nuschka Richter starb 1922, mit 24 Jahren, an Lungentuberkulose – nichts Besonderes damals. Die Unkosten des großen Krieges waren halt ungleich verteilt. Mein Vater war 1945 für einige Monate Oberbürgermeister meiner Heimatstadt in der Altmark. Die frühe Bekanntschaft mit der russischen Kultur hat ihm den Kontakt zu den Offizieren der sowjetischen Kommandantur sehr erleichtert und rasch eine Vertrauensbasis für seine Arbeit geschaffen.

Die Expansionsstrategie der deutschen Wirtschaftsmächte und ihrer Exekutoren in Regierung und Militär ist heute wieder aktuell. Ihre Mittel – Unterstützung nationalistischer und separatistischer Bewegungen, Bildung abhängiger Satellitenstaaten – wurden nach 1990 erneut erprobt. Liebknecht notierte dazu bereits Mitte 1918 im Zuchthaus: "... je weniger sie ohne deutschen Rückhalt bestehen ... können ... , um so mehr ist die deutsche Regierung die De-facto-Regierung dieser Randstaaten ... Das deutsche Vorgehen in der Ukraine war von Anbeginn an eine erstklassige Schurkerei ... Einschleichen unter der Maske der Freundschaft, um alsbald den tückisch überrumpelten Freund an der Gurgel zu packen, zu knebeln und auszuplündern ..." Damals war man allerdings allzu plump: "Militärische Vergewaltigung ist kein Fundament, auf dem Dauerndes errichtet werden kann." [Liebknecht, Karl, a.a.O.] Typisch für die deutsche Expansionspolitik war das Mißverhältnis zwischen Zielen und Möglichkeiten, Unterschätzung des Gegners, Überschätzung der eigenen Kräfte. Dieser abenteuerliche Zug machte sie zwar erfolglos, aber auch gefährlich.

Niederlage im Weltkrieg, Rückzug, "Streik" von Marine und Heer: die Militärkaste hat nie begriffen, was ihr widerfahren war. "Ursache" des Zusammenbruchs war nach offizieller Darstellung (1936) "das Verbrechen der Revolution". Aber es "bleibt doch immer ein Rest von Unerklärtem, den zu enträtseln historisch wie militärisch ebenso schwer wie notwendig erscheint". Von Sozialökonomie und -psychologie hatten diese Generale keinen Begriff, nur von Gewalt. "Man wird nicht zögern dürfen, ... mit rücksichtsloser Gewalt die Herde der Massenerkrankung zu beseitigen." [Die Rückführung des Ostheeres., a.a.O.] Als das geschrieben wurde, gab es bereits KZ und SS.

Zur Bilanz gehört: die Militärs, ihre Auftraggeber und Finanziers haben uns gründlich mit den Russen verfeindet. Vielleicht zu ihrem, jedenfalls nicht zu unserem Nutzen. Nuschka und Reinhold Richter und viele andere haben dazu beigetragen, unser großes europäisches Nachbarvolk zu verstehen – eine Grundvoraussetzung dafür, um auf diesem Kontinent Frieden zu haben.