Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft: Wie entstand das Vernunft-Paradigma?
Jürgen Herold, Berlin
Über die genetische Verschränkung von Universität und Rationalitätskultur
Der Kasseler Mangroven Verlag macht sich seit einiger Zeit schon um marxistische Gesellschaftstheorie verdient. Nun erschien mit der »Institutionalisierung der Vernunft« ein Band [1], der ein wenig aus der Art schlägt. Thema ist nicht die Gegenwart und ihre komplizierten Verhältnisse, sondern die Vergangenheit: Es geht um Ideengeschichte, um wesentliche Aspekte des historischen Materialismus, um Formationsgeschichtliches. Im Zentrum steht der Wechsel von feudalen Verhältnissen hin zu vorkapitalistischen und bürgerlichen Zuständen.
Michael Wengraf, Historiker, Wissenschaftstheoretiker und Journalist, begibt sich dabei auf die Suche nach den Ursprüngen des abendländischen Paradigmas der Rationalität, das heute unser Leben umfassend bestimmt. Dabei handelt es sich keinesfalls um »die Vernunft« schlechthin, wie Wengraf herausarbeitet, sondern um eine sehr spezielle Ausprägung. Diese wesenhaft funktionelle bürgerliche Rationalität, so der Autor, musste sich in einem historischen Prozess erst gegen andere Typen von Rationalität bzw. gegen die vorherrschende mystische Spiritualität durchsetzen.
Das Mittel dazu war die genuin europäische Universität – wie sie sich im 12. und 13. Jahrhundert herausbildete. Deshalb bestimmt ein spezieller Blick auf die Entstehungs- und frühe Entwicklungsgeschichte der ersten europäischen Universitäten die Untersuchung. Dieser geschieht als eine dialektische Zusammenschau von Genese der Universität mit der Befestigung des Rationalitäts-Paradigmas. Parallel dazu erfolgen auch die allmähliche Konstituierung einer wissenschaftlichen Community, eines Corpus der Intellektuellen, und die Geburt neuer sozialer Mobilität (Goliardentum).
Europa firmiert als Wiege einer Rationalitätskultur, die heute in vielfacher Gestalt die Welt beherrscht. Insofern ist die damals befestigte Rationalität als spezielle Machtpraxis zu verstehen. Sie wird dabei selbst zur ökonomischen Produktivkraft und wirkt als effizientes militärisches bzw. politisches Instrument. These ist, dass eine wesenhaft bürgerliche Vernunft Voraussetzung für das permanente Fortschreiten von okzidentaler Expansion war. Was der Text geradezu spüren lässt, ist der »laue Wind der Veränderung«, der die damalige Sattelzeit umweht.
Der Übergang von der antiken Produktionsweise zum Feudalismus vollzog sich über weite Zeiträume und disparate Entwicklungsverläufe. Er kann aus Perspektive des historischen Materialismus zwar prinzipiell, aber kaum im Sinne eines präzisen und konsistenten zeitlichen Rahmens und lokalisierbaren Ortes dargelegt werden. Der Formationswechsel vom Feudalismus zum Kapitalismus ist aber gerade deswegen von Interesse, weil er – so der Autor – historisch der einzige ist, der anhand ausreichender Quellenlage nachvollzogen werden kann.
Dieses Nachvollziehen macht vielleicht auch den Wert des vorliegenden Buches aus, denn solche Untersuchungen, insbesondere ideengeschichtliche, sind im Rahmen des historischen Materialismus dünn gesät. Es gibt nur rare Bemerkungen von Marx und Engels, einige Texte von Ernst Bloch und Hermann Ley, die Dobb-SweezyDebatte – beziehungsweise Leo Koflers »Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft«. Auf all diese Werke nimmt die »Institutionalisierung der Vernunft« Bezug. Ebenso wie auf die hierzu unerlässliche »Dialektik: Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart« von Hans Heinz Holz.
Michael Wengraf zufolge beginnt die europäische Moderne schon mit der Renaissance des 12. und 13. Jahrhunderts. Zeitgleich dazu habe, so der Autor, die Säkularisierung mit dem Import vor allem der arabisch-averroistischen Aristotelik eingesetzt. Sie wird durch einen völlig neuen Schultyp befördert: Die europäische Universität. Ursächlich für diese Prozesse sind das Erblühen der städtischen Kommunen und die Genese eines Bürgertums, das sich neben der gewerblichen Produktion vor allem auf den Handel bzw. Fernhandel stützt.
Für Michael Wengraf impliziert die Herausbildung von Rationalität aber vor allem ein tätiges Moment, die Präsenz eines handelnden Subjekts. Gegenüber einer dinglichen Sicht rückt er die frühe Universität als einen Raum menschlichen Agierens in den Vordergrund. Als einen Raum, in dem Wissen, Sinn und Bedeutung paradigmatische, unter raum-zeitlichen Bedingungen jeweils veränderliche Gestalt annehmen. Ansatz ist, dass vor allem in der Praxis ablaufende Prozesse im Nordwesten Europas und in Italien zur Herausbildung des neuen Schultyps führten. Es ging dabei um die geeignete Strukturierung und Einordnung frischer Erkenntnisse, eines neuen Bedürfnisses an Vernunft, in einen nunmehr rationalen Rahmen.
Nach den Worten Karl Mannheims ist das bürgerlich-kapitalistische Bewusstsein dadurch charakterisiert, dass es prinzipiell keine Grenzen der Rationalisierung kennt. Das führte zu einer Intellektualisierung, die Max Weber als die Entzauberung der Welt beschrieb. Diesen Entwicklungsgang aus marxistischer Perspektive darzustellen ist das Ziel, das Michael Wengraf mit seiner »Institutionalisierung der Vernunft« verfolgt.
Anmerkung:
[1] Michael Wengraf, Institutionalisierung der Vernunft. Zur Genese der Europäischen Universitäten, Mangroven Verlag, Kassel 2019, ISBN: 978-394694-614-4, 27 Euro.
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