"Gefahr für wundervolles Regierungssystem" - Angela vor 40 Jahren freigesprochen
Horst Schäfer, Berlin
Der Jubel, den ich an jenem Sonntag, dem 4. Juni 1972, im und vor dem Gerichtssaal von San José in Kalifornien erlebte, war wirklich unbeschreiblich. Viele reckten die Fäuste, andere sangen und tanzten, wildfremde Menschen lagen sich in den Armen und die Journalisten-Kollegen eilten zu den Telefonen und Fernschreibern, um die Sensation in alle Welt zu verkünden: Angela Davis, die afroamerikanische Professorin und Kommunistin, war freigesprochen worden – nach nahezu zweijähriger Verfolgung durch Politik, Polizei und Sonderkommandos des FBI (sie stand auf der FBI-Liste der meistgesuchten Verbrecher), nach 16-monatiger Haft und in einem eineinhalb Jahre zuvor begonnenen Gerichtsverfahren. Die zwölf weißen Geschworenen hatten in allen drei Anklagepunkten – Mord, Entführung und Verschwörung – mit "nicht schuldig" gestimmt. Angeblich habe Angela Davis, so die Anklage, Waffen für einen gescheiterten Befreiungsversuch der aus rassistischen Gründen inhaftierten Soledad-Brothers zur Verfügung gestellt, bei dem mehrere Menschen in einem Gerichtssaal starben. Das wollten rechte politische Kreise um Kaliforniens Gouverneur Ronald Reagan und US-Präsident Richard Nixon nutzen, die Kommunistin und Bürgerrechtlerin zu kriminalisieren, sie als abschreckendes Beispiel hinter Gitter oder sogar auf den elektrischen Stuhl zu bringen. Doch dieser Anschlag war soeben gescheitert.
Sofort wurde in wichtigen US-Medien versucht, den Freispruch entweder als Fehlurteil oder als überzeugenden Beweis dafür zu verkaufen, dass die USA eben doch ein freiheitlicher Rechtsstaat mit einem gut funktionierenden Justizsystem seien, in dem letztlich jeder Gerechtigkeit erfahre. Auch das Hamburger Nachrichtenmagazin Der Spiegel, das heute wieder zur Spitzengruppe bei der Verunglimpfung der Linken gehört, tat sich in diesem Chorus hervor.
Eine Woche nach dem Freispruch machte das Blatt Angela Davis zur radikalen Feindin der USA, denn es werde nach dem Freispruch auch als erwiesen angesehen, "dass der Rechtsstaat USA selbst seine radikalen Feinde schützt". Außerdem, so kolportierte das Magazin, habe es "gewichtige Indizien gegen Angela Davis gegeben, die nur deshalb nicht zu Buch schlugen, weil die Jury extrem objektiv oder aber von den Machenschaften der Verteidigung verwirrt war". Welche Art Jury und welche Verteidigung hätte sich denn der Spiegel für die Kommunistin gewünscht? Und natürlich ist Angela Davis laut Spiegel gar nicht frei, sondern nur "freigesprochen in die Gefangenschaft derer, die diesen Freispruch auszuschlachten gesonnen sind". (Spiegel Nr. 25, 12. 6. 1972) Angela Davis hielt damals denjenigen entgegen, die das 18-monatige Verfahren und den 16 Monate dauernden Gefängnisaufenthalt wegen des letztlichen Freispruchs für "fair und gerecht" erklärten: "Fair und gerecht wäre es gewesen, wenn es diesen Prozess nie gegeben hätte."
Offiziell hatten die Verfolgungen fast genau zwei Jahre zuvor begonnen, am 19. Juni 1970. An diesem Tag schickte der Gouverneur und spätere US-Präsident Reagan ein Memorandum an alle Fakultäten der Universität von Kalifornien in Los Angeles (UCLA) mit dem Hinweis, "dass die Professorin der Philosophie, Angela Davis, nicht länger zu den UCLA-Beschäftigten gehört". Weder er als Vorsitzender des Board of Regents, des Führungsgremiums der Uni, noch das Board selbst "wird kommunistische Aktivitäten in staatlichen Institutionen dulden". Weiter heißt es in Reagans Mitteilung: "Kommunisten sind eine Gefahr für dieses wundervolle Regierungssystem, … auf das wir alle stolz sind." Schon 1949 sei beschlossen worden, "dass es für ein Mitglied der Kommunistischen Partei verboten ist, an dieser Institution zu lehren", so der Antikommunist Ronald Reagan.
Einer der für mich bewegendsten Momente während der sieben Monate, in denen ich 1971 und 1972 als Sonderkorrespondent für DDR-Medien über den Prozess aus Kalifornien berichtete, war mein Besuch Mitte Februar 72 bei Angela im Gefängnis und ein fast einstündiges Fernsehinterview mit der 28-jährigen aus der Gefängniszelle. Niemanden wird es verwundern, dass ich angesichts der blassen jungen Frau im grauen Gefängniskittel mit den schwarz umrandeten Augen an meine Mutter dachte, die in Deutschland viele Jahre ihres Lebens – weil sie wie Angela Kommunistin war – in Zuchthäusern und im KZ zubringen musste.
Die große Unterstützung beim Zustandekommen dieses Interviews sowie auch bei meiner monatelangen Berichterstattung durch Mitglieder des Solidaritäts-Komitees, durch die Anwälte von Angela und durch ihre Familie hatten mich bewogen, Angela und ihre Freunde für Freitag, den 2. Juni 1972, zu einem kleinen Danke-Schön-Essen einzuladen – denn der Prozess war beendet und die Geschworenen hatten sich zur Beratung über das Urteil zurückgezogen.
Gerade war die Vorspeise serviert, da stürmte Sheriff Donald Tamm in das Restaurant und forderte von Angela, sofort mitzukommen. Er müsse sie ins Gericht bringen. Lähmendes Entsetzen breitete sich aus. Was war geschehen? Hatten die Geschworenen bereits auf "Schuldig" entschieden? Befürchtete der Richter eine Flucht der Angeklagten?
Dann erfuhren wir, dass ein Flugzeugentführer, der mit einer Passagiermaschine über San José kreiste, laut FBI verlangt hatte, Angela Davis solle sich in einem weißen Kleid sowie mit 500.000 Dollar und zwei Fallschirmen ausgestattet auf einem nahen Flugplatz einfinden. So aber wollte Angela keineswegs "befreit" werden. Schließlich gab sich der Hijacker mit der halben Million Dollar zufrieden, entließ die Hälfte der 98 Passagiere in San Francisco und düste ohne sein Objekt der Begierde Richtung Algerien, berichteten US-Zeitungen. In San José kursierte die Vermutung, dass es sich um eine verdeckte Provokation des FBI oder anderer staatlicher Stellen gehandelt haben könnte – auch wenn es nur darum gegangen wäre, den einen oder anderen Geschworenen zuungunsten von Angela Davis zu beeinflussen. Sollte es wirklich nur ein Zufall sein, dass die sogenannte Befreiungsaktion des Hijackers genau mit den Beratungen der Geschworenen koordiniert zu sein schien? Selbst kalifornische Zeitungen berichteten am nächsten Tag über eine mögliche "Verbindung" zwischen Prozess und Flugzeugentführung.
Angela war der Kommunistischen Partei der USA 1968 beigetreten, weil, wie sie begründete, die Kommunisten die konsequentesten Kämpfer gegen Rassendiskriminierung und Kapitalismus seien. Damals habe sie sich für den Kampf gegen Rassismus, Ausbeutung, Unterdrückung und Ungleichheit in den USA sowie gegen die Kriegspolitik der US-Regierungen entschieden. Nach 22 Jahren trat sie zwar aus der KP aus, weil es schwierig gewesen sei, "die Partei zu demokratisieren", aber sie blieb ihren linken Ideen treu. Deshalb habe sie zusammen mit Sozialisten und Kommunisten in den USA eine linke Sammelbewegung – die Committees of Correspondence for Democracy and Socialism (CCDS) – gegründet, die am Ziel des Sozialismus festhalten würden. "Eine solch breite sozialistische und radikal demokratische Organisation wird in den USA dringend gebraucht", erklärte sie mir vor einigen Jahren in einem Interview. "Ich wollte immer die Bewegung gegen Rassismus und für die Befreiung der Schwarzen zusammenzubringen mit der Bewegung zur Befreiung der Arbeiterklasse. Und das ist heute noch wichtiger als jemals zuvor."
Denn die heutige Situation sei auf eine beängstigende Weise der in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts vergleichbar – sowohl in der Wirtschafts- und Innenpolitik mit wachsender Armut und Unterdrückung als auch in der immer aggressiveren Außenpolitik der westlichen Führungsmächte mit ihren zahlreichen verheerenden Kriegen und der Gefahr ihrer Ausweitung.
1997 erlebte ich Angela an der Universität von Oakland in Kalifornien, wie sie auf einer überfüllten Veranstaltung zum 25. Jahrestag ihres Freispruchs vor 600 Teilnehmen – vorwiegend Studenten – über ihren Prozess erzählte und die wichtige Rolle der internationalen Solidarität insbesondere der DDR und der anderen sozialistischen Staaten und ihrer kommunistischen Parteien für ihre Freilassung hervorhob. Anschließend setzte sie sich im nahen San Francisco an die Spitze eines machtvollen Marsches von 10.000 Demonstranten für die Befreiung des wegen angeblichen Polizistenmords in Philadelphia zum Tode verurteilten afroamerikanischen Journalisten, Schriftstellers und Menschenrechts-Aktivisten Mumia Abu-Jamal, der damals bereits 16 Jahre in der Todeszelle gesessen hatte und trotz erwiesener Unschuld auch heute – 15 Jahre später – immer noch nicht freigelassen wurde.
Angela Davis wies erst kürzlich in einem Interview im US-Fernsehsender PBS darauf hin, dass in den USA die Zahl der eingesperrten Afroamerikaner größer sei als die Zahl der schwarzen Sklaven im 19. Jahrhundert. Seit Jahrzehnten ist der Kampf gegen rassistische und politische Verfolgungen in den USA, gegen die Todesstrafe und insbesondere gegen die US-Gefängnisindustrie mit insgesamt 2,3 Millionen Menschen in den zum Teil privatisierten Strafanstalten eines ihrer wichtigsten Anliegen. Dazu gehört der Kampf um die Freiheit für Mumia Abu-Jamal genau so wie die Forderung nach Freiheit für den Indianerführer Leonhard Peltier, der seit 1976 unschuldig im Gefängnis sitzt, und für die Cuban Five, die 1998 mit zum Teil lebenslangen Haftstrafen eingekerkert wurden. Es ist seit dem Freispruch von San José am 4. Juni 1972 das Credo der Professorin aus Kalifornien, ein wenig von der weltweiten Solidarität zurückzugeben, die vor 40 Jahren wesentlich zu ihrer Befreiung aus dem Gefängnis beigetragen hat.
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