Gedanken zum Einigungsvertrag und seinen Folgen. Wozu die Einheit mißbraucht wird
Prof. Dr. Anton Latzo, Langerwisch
Mit Wirkung vom 3. Oktober 1990 wurde die DDR nach Artikel 23 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland Bestandteil dieses Staates. Allgemein wird dieser Vertrag als Einigungsvertrag gekennzeichnet. Er soll einen positiven Endpunkt charakterisieren.
In Wirklichkeit ist damit ein Tiefpunkt einer Entwicklung auf deutschem Boden fixiert, die, von Antikommunismus getragen, von den Ereignissen im Sommer und Herbst 1989, in denen nicht wenige Bürgerinnen und Bürger der DDR zunächst noch für Umgestaltungen in ihrem sozialistischen Land auf die Straße gingen, über die Grenzöffnung am 9. November 1989 zu den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 geführt hat.
Die Situation in der DDR im Sommer und Frühherbst 1989, die diese Entwicklung und schließlich dieses Ergebnis ermöglicht hat, wurde im Nationalen Sicherheitsrat der USA wie folgt eingeschätzt: "Offen kritisch trat nur eine winzige Minderheit auf: Vertreter einer Gegenkultur aus Friedens-, Frauen- und Ökologiegruppen, ein paar Figuren des literarischen Establishments und eine Handvoll kritischer marxistischer Intellektueller. Einen gewissen Schutz für ihre Aktivitäten fanden sie in der evangelischen Kirche, die sich eine stets gefährdete Unabhängigkeit von direkter staatlicher Kontrolle bewahrt hatte. Die Dissidenten blieben jedoch eine Randerscheinung der ostdeutschen Gesellschaft. … Wenn es eine Bedrohung des Regimes in Ostberlin gab, dann kam sie von reformerischen Kräften innerhalb der SED." [Philip Zelikow/Condoleezza Rice: Sternstunde der Diplomatie, 1997, S.69f., Zitiert nach: K. Eichner/E. Langrock, Der Drahtzieher, Vernon Walters – Ein Geheimdienstgeneral des Kalten Krieges, 2005. S. 159.]
Destabilisierung stand am Anfang
Schon im Oktober bis Dezember 1989 hat Bundeskanzler Helmut Kohl die Politik des "Wandels durch Annäherung" aufgegeben und hat erneut auf die Adenauersche Politik der Stärke zurückgegriffen. Zielgerichtet leistete er seinen Beitrag zur Destabilisierung der DDR-Regierung unter Hans Modrow, betrieb zunehmend eine Politik der direkten Einmischung in die inneren Angelegenheiten der DDR und schürte eine öffentliche Stimmung für die Vereinigung im Sinne des deutschen Kapitals, die er mit der Losung von der "Einheit Deutschlands" und "Wir sind ein Volk" kaschierte.
Dabei zeigte sich aber, daß eine Ursache für den Erfolg dieser Politik auch darin lag, daß die SED-PDS nicht in der Lage war, ihr immer noch beträchtliches geistiges wie auch Mitgliederpotential zu mobilisieren, um die Bewegung der Massen im Sinne der Erhaltung und Festigung der sozialistischen Verhältnisse zu lenken. Statt dessen wurden Rückzugsgefechte geführt, die bei Manchem sogar von mangelndem Willen geprägt waren, die Partei und den Sozialismus zu erhalten. Die Partei geriet in eine chronische politische, organisatorische und geistige Krise, die sie Anfang 1990 an den Rand der Auflösung führte.
Gleichzeitig verstärkten sich bei den politischen Gruppen, die bis November 1989 die oppositionelle Bewegung in der DDR prägten, Differenzierungs- und Spaltungsprozesse. Sie verloren zunehmend die Führung und die Fähigkeit, die entstandene Bewegung in Richtung auf einen von ihnen anfangs proklamierten besseren Sozialismus zu orientieren.
Diese Prozesse ausnutzend, verstärkte sich die Einmischung der politischen Kräfte der BRD in die inneren Angelegenheiten der DDR. Sie brachten bedeutende Teile der politischen Kräfte in der DDR unter ihre Kontrolle. Dementsprechend distanzierten sich auch die Blockparteien in der DDR von ihren früheren Positionen, insbesondere von einer sozialistischen Perspektive der DDR. Bald danach verzichteten sie auch auf die Eigenständigkeit der DDR.
Da die SED und die politischen Kräfte der anderen Linken in der DDR nicht in der Lage waren, die Führung in diesem Kampf zu behaupten, ist diese Führung auf die deutsche Bourgeoisie übergegangen. Der Weg zur Restauration kapitalistischer Verhältnisse in der DDR war vorgezeichnet. Die "Einheit Deutschlands" wurde als zentrales Instrument zur Erreichung dieses Zieles eingesetzt. Damit sollte zugleich verdeckt werden, daß in Wirklichkeit die kapitalistische Werteskala – Konsum- und Gewinndenken, Individualismus und fast ausschließlich in diesem Sinne interpretierte Freiheitsrechte – eingeführt und Solidarität, soziale Gleichheit, Geborgenheit aus den Gesellschaftskonzepten und aus dem täglichen Leben der Menschen eliminiert wurden.
Sicherung der politischen Macht
Im Januar-Februar 1990 entschied sich Bundeskanzler Helmut Kohl mit Rückendeckung der USA für den direkten wirtschaftlichen und politischen Anschluss der DDR an die BRD. Diese Situation, die international durch die Vorgänge der Zwei-plus-Vier-Verhand-lungen flankiert wurde, schuf eine durch wachsende antikommunistische Stimmungen charakterisierte Atmosphäre in der DDR, die der CDU (Allianz für Deutschland) bei den Wahlen vom März 1990 zur Mehrheit und damit zur Regierung, zum einem ersten Sieg verhalf.
Damit wurde eine weitere Etappe abgeschlossen. Die Regierung wurde von Kräften dominiert, die politische Richtungen vertreten haben, die sich in der DDR alle erst im Verlauf des letzten halben Jahres vor den Wahlen als Organisation konstituiert hatten, eine Periode, in der in der DDR und auch in den anderen sozialistischen Staaten Europas der offene Antikommunismus praktiziert wurde. Sie waren zum großen Teil die Träger und Propagandisten dieses Antikommunismus bzw. Antisozialismus.
Mit der Regierung de Maiziere wurde die politische Macht in der noch bestehenden DDR unter die Kontrolle der Beauftragten des deutschen Kapitals aus Bonn gestellt.
Im Kampf gegen den Sozialismus auf deutschem Boden hat die Bourgeoisie die politische Macht so weit erobert, daß sie die weitere Entwicklung als demokratische Entwicklung, als Willensäußerung der Bevölkerung der DDR ausgeben konnte.
Die politische Macht wurde dazu genutzt, den Prozeß der weiteren Zersetzung der Gesellschaft, der Zurückdrängung der Kräfte des Sozialismus und der Machtergreifung durch das Kapital aus dem Inneren der DDR zu gestalten und zu sichern, sie als demokratische Willensäußerung der Bevölkerung der DDR zu präsentieren.
Die Große Koalition (CDU, DSU, DA und SPD sowie den Liberalen), die die Regierung de Maiziere trug, war sich darin einig, daß Deutschland zügig nach Art. 23 GG durch den Beitritt der DDR zur BRD vereinigt wird.
Schon am 20. März 1990, zwei Tage nach den Wahlen in der DDR und noch vor der Koalitionsbildung, beschloß die Bundesregierung, mit der DDR über eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zu verhandeln. Sie hat auch den Termin vorgegeben: bis zum Sommer 1990 soll sie verwirklicht sein.
Ausgehend von dieser Zielstellung berieten tags darauf in Bonn die Spitzenköpfe der "Allianz für Deutschland", de Maiziere (CDU), Ebeling (DSU) und Eppelmann (Demokratischer Aufbruch) mit Bundeskanzler Kohl und Finanzminister Waigel über die Regierungsbildung in der formal noch bestehenden DDR. Bundeskanzler Kohl hat die Lenkung des politischen Geschehens selbst in die Hand genommen! Die DDR wurde als Anschlußgebiet der BRD behandelt.
Sicherung der ökonomischen Macht. Die Einheit, ein Objekt des Profits
Der Vertrag über die Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion wurde am 18. Mai 1990 unterzeichnet und trat am 1. Juli 1990 in Kraft. Die Währungsunion begann am 1. Juli 1990 mit der Einführung der DM in der DDR unter der alleinigen geldpolitischen Verantwortung der Deutschen Bundesbank. Die DDR und ihre Wirtschaft erhielten einen nachhaltigen Todesstoß!
Die "soziale Marktwirtschaft" wurde als Basis der Wirtschaftsunion eingeführt und gefeiert. Damit war die Wiedereinführung des kapitalistischen Eigentums, die kapitalistische Konkurrenz, "freie" Preisbildung und "volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und Dienstleistungen" in der DDR verbunden. Wesentliche Bedingungen für die Entfachung des Kapitals waren geschaffen.
Die Sozialunion, die dazu gehörte, brachte dem DDR-Bürger die Einführung der bundesdeutschen Arbeitsrechtsordnung, die vom Profit dominierte Sozialversicherung und die Sozialhilfe. Dazu gehörten auch Arbeitsämter, Arbeitslosigkeit und andere Segnungen des Kapitalismus, deren wahren Charakter eine große Anzahl von DDR-Bürgern einseitig mit dem Bild verwechselten, das ihnen Medien und Regierungspropaganda vermittelten.
Mit der Wirtschafts- und Währungsunion Anfang Juli 1990 wurde die zweite Etappe "auf dem Weg zur Einheit" und bereits die tatsächliche Besitzergreifung, der Anschluß der DDR durch die BRD, die Auslieferung der DDR an das deutsche Großkapital vollzogen. Der wirkliche Anschluß erfolgte also lange bevor es zwischen den zwei zu diesem Zeitpunkt völkerrechtlich noch souveränen deutschen Staaten einen diesbezüglichen gültigen völkerrechtlichen Vertrag gab.
Der Vollzug wurde durch selbstherrliche von Bonn entsandte "Berater" überwacht und durchgesetzt, die dafür großzügig belohnt wurden. Ein hemmungsloser Raubzug auf das ehemalige Staats- und Volkseigentum der DDR wurde organisiert. Der gewöhnliche Kapitalismus zelebrierte seinen Einzug. Die Einheit wurde zum Objekt des Profits!
Die politische Union. Die Frage der Macht und des Eigentums entscheiden
Damit waren die Machtfrage und die Eigentumsfrage zugunsten der großen Monopole, Banken und Versicherungen entschieden.
Es folgte die dritte Etappe, der völkerrechtliche Vertrag, auch Einigungsvertrag genannt. Zusammen mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag und der Beitrittserklärung war der Einigungsvertrag nur noch die politische und rechtliche Bestätigung der tatsächlich schon geschaffenen ökonomischen und machtpolitischen Verhältnisse. Der Wirtschafts- und Währungsunion folgte am 3. Oktober 1990 mit dem Einigungsvertrag die politische Union, also die vollständige staatliche Annexion.
Der Einigungsvertrag ist die juristische Fixierung der Niederlage der DDR. Mit ihm wurde die Restauration des Kapitalismus in der DDR juristisch legitimiert. Er ist sozusagen die "Krönung" des erfolgreichen Verlaufs einer erneuten Konterrevolution auf deutschem Boden, der Abschluß mehrerer Etappen, jede mit erkennbarem Inhalt umrissen, zur Zersetzung und Beseitigung der DDR.
Das deutsche Kapital hat allen Pseudorevolutionären und Opportunisten demonstriert, wie man es machen muß. Es wurde demonstriert, daß Macht und Eigentum nicht auf juristische Formeln zu reduzieren sind, sondern Kategorien darstellen, die Klassenverhältnisse widerspiegeln. Das deutsche Kapital hat sozusagen die Leninsche Revolutionstheorie in umgekehrter Richtung verwirklicht!
Der DDR-Schriftsteller und Drehbuchautor Gerhard Bengsch formulierte, "daß der Einigungsvertrag ein juristisch verbrämtes Siegerdiktat und der Beitritt der DDR zur BRD ein völkerrechtlich nicht haltbarer Anschluß war". [UZ, 13. September 2002.]
Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der DDR, aber auch die der alten BRD, hatten dabei keinerlei Entscheidungsrechte. Ihnen wurde und wird erzählt, und das nicht nur von der Bourgeoisie, daß diese friedliche Revolution ein demokratischer Prozeß bzw. die Wiederherstellung der Demokratie gewesen sei! Es wird übersehen, daß mit der Restauration des Kapitalismus, der alten Besitz- und Machtverhältnisse die Weichen dahin gestellt worden sind, daß sich nun in Deutschland die Spaltung der Gesellschaft, der Klassengegensatz von Kapital und Arbeit enorm verschärfen.
Das Wichtigste, das in den vielen Debatten unterbelichtet bleibt bzw. bewußt unterschlagen wird, ist die Frage, welchen Klassencharakter diese Prozesse hatten und haben, welche Klassen diese Prozesse vorbereitet und ihre Richtung bestimmt haben und bestimmen. Man verschweigt, daß das Kapital die Macht und das dazugehörige Instrument, den Staat, erobert und dann benutzt hat, um seine Interessen durchzusetzen und den Sozialismus zu beseitigen. Es war und ist ein Kampf um die Durchsetzung der Interessen von Klassen, deren Realisierung die Gesellschaft Fortschritt ermöglicht oder Reaktion beschert. Reaktion bedeutet, daß Menschen, Klassen, Staaten nicht in Freiheit leben können, sondern voneinander in Unfreiheit und Abhängigkeit leben müssen.
Wiederherstellung außenpolitischer Kontinuität
Das vereinte Deutschland kehrt auch außenpolitisch zu seinen Wurzeln zurück und meldet neue Ansprüche an. Dieselbe Politik, die das deutsche Kapital und seine Regierungen nach innen verfolgten und durchsetzten, wurde auf der Grundlage der neuen internationalen Stellung des vereinten Deutschlands auch in ein deutlich und neu akzentuiertes außenpolitisches Konzept umgesetzt.
Eine zentrale Schlußfolgerung, die der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl vor dem Deutschen Bundestag verkündete, besagte eindeutig: "Deutschland hat mit seiner Geschichte abgeschlossen, es kann sich künftig offen zu seiner Weltmachtrolle bekennen und soll diese ausweiten." [Bundeskanzler Helmut Kohl vor dem Deutschen Bundestag, Januar 1991.]
In der Politik wird diese Generalorientierung der Außenpolitik Deutschlands leider von einigen politischen Kräften verschwiegen und von anderen, leider auch linken Kräften, unterschätzt und höchstens als Fußnote behandelt. Ebenso wird die weitere Konkretisierung dieses Konzepts durch den Vorkämpfer der Delegitimierung der DDR, den damaligen Minister Klaus Kinkel, leider von der Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis genommen. Er erklärte recht offen, wie die deutsche Bourgeoisie die Ziele der Außenpolitik Deutschlands nach der staatlichen Vereinigung sieht: "Zwei Aufgaben gilt es parallel zu meistern: Im Inneren müssen wir wieder zu einem Volk werden, nach außen gilt es etwas zu vollbringen, woran wir zweimal zuvor gescheitert sind: Im Einklang mit unseren Nachbarn zu einer Rolle zu finden, die unseren Wünschen und unserem Potential entspricht." Dies nennt Kinkel "Rückkehr zur Normalität im Inneren und nach außen", was "einem tiefen Wunsch unserer Bevölkerung seit Kriegsende" entspricht. Die Bürger "haben begriffen, daß die Zeit des Ausnahmezustandes vorbei ist". [FAZ, 19. März 1993.]
So genannte Denkfabriken der deutschen Außenpolitik beschrieben die neue Stellung Deutschlands in der Welt wie folgt: "Es ist das Schicksal der großen Mächte, zu denen Deutschland jetzt wieder gehört, nicht nur Nutznießer, sondern – anders als die kleinen Mächte – Gestalter und Träger der internationalen Politik zu sein. Deutschland ist in der Tat jetzt 'Zentralmacht Europas', die im Guten wie im Schlechten die Entwicklung ganz Europas beeinflussen kann, aber es ist zugleich mehr, nämlich einer der Hauptfaktoren des globalen Systems …" [Karl Kaiser, Weltpolitik im neuen Jahrhundert, 2000, S. 602.] Und es blieb nicht bei Erklärungen. Die Bundesregierungen, egal welcher Couleur, haben bisher konsequent an der Präzisierung, Erweiterung und Verwirklichung dieses Konzepts gearbeitet. Es reicht von der Forderung von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) zur "Enttabuisierung des Militärischen" über die Teilnahme Deutschlands an der Aggression gegen Jugoslawien bis zur jetzigen Beteiligung am Krieg gegen Afghanistan. Die BRD ist nach der Einverleibung der DDR erneut weltweit in Militär- und Kriegseinsätze verwickelt. Deutsche Regierungen tragen heute erneut die Verantwortung für die Ausweitung von Kriegseinsätzen einer deutschen Armee in andere Kontinente und verteidigen die Interessen der BRD am Hindukusch. Die Militarisierung von Politik und Gesellschaft wird vorangetrieben.
Wer alle diese Prozesse einer "Wende" zuordnen will, der verharmlost sie und führt die Menschen in die Irre. Er übersieht, daß Militarismus nicht bloß Machtorganisation ist. Er "ist auch Gewalt über den inneren Menschen … Er ist Gesinnung, Geistesrichtung, ist Einstellung des Willens und des Handelns auf bestimmte Ziele mit bestimmten Mitteln". [Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Band II, Berlin 1960, S. 205.]
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