Gagarin und die Sesamstraße
Reinhard Junge, Bochum
Zum 90. Geburtstag des ersten Kosmonauten am 9. März
Wenn es etwas gibt, das »die Amerikaner« gar nicht können, dann ist es dies: Verlieren. Das betrifft nicht nur die Okkupation des Begriffes »Amerika« als Ersatz für »USA«. Besonders deutlich wurde und wird das im Sport.
So denke ich mit Schadenfreude zurück an das Olympia-Finale im Basketball der Männer 1972 in München: 3 oder 4 Sekunden vor Schluss führten die USA mit einem Punkt Vorsprung gegen die UdSSR. Letzter Angriff der Sowjets – zwei Punkte zum Sieg. Heiße Proteste – Wiederholung. Mit dem gleichen Spielzug erzielten die »Russen« erneut 2 Punkte. Zweite Wiederholung – und diesmal erkannten die Schiris den Sieg der Roten an. Zur Medaillenvergabe traten die Amis nicht an. Sie hatten gerade wohl ein paar lukrative Profiverträge entwertet. Und Sport war sowieso schon damals die Fortführung des Kalten Krieges mit anderen Mitteln.
Was das mit Gagarin und der Sesamstraße zu tun hat? Bitte etwas Geduld! Die Amis mussten damals noch zwei historische Traumata verdauen, die sie heute noch gerne aus den Geschichtsbüchern verbannen würden. Das erste war die Tatsache, dass sie 1945 nicht als Erste in Berlin waren. Und die zweite »Schande« ging Gagarins Flug um nur dreieinhalb Jahre voraus: Das war der Sputnik-Schock.
Ich weiß noch genau, wie und wo ich vom Start des ersten Satelliten erfuhr. Es war ein Sonntag und ich saß vormittags in einem Linienbus. Ich sollte von einem Genossen Nachhilfe in Latein bekommen, was nach etlichen Fünfen verdammt nötig war. Der Motorblock des Busses lag damals noch zwischen dem Fahrer und dem vorderen Einstieg unter einem breiten Blech versteckt. Und oben drauf lag das Lügenblatt Nr. 1. Mit einer Sensationsmeldung, die sogar stimmte: Der Sputnik!
Wenn ich mich recht erinnere: BILD wusste sofort, wie die »dummen Russen« das geschafft hatten: Mit den 1945 entführten deutschen Raketenexperten, die in der SU gefangen gehalten wurden. Klar, die Männer um Helmut Gröttrup (1916-1981) waren zumeist nicht freiwillig in die UdSSR gegangen. Aber dass sie sich sowohl 1945 als auch 1953 nach ihrer Rückkehr in den Westen geweigert haben, in die Dienste der USA zu treten – das habe ich jetzt erst bei Wikipedia gelesen. Und auch nach Peenemünde war Gröttrup im Krieg nicht freiwillig, sondern per Einberufung gekommen.
Blamiert und alarmiert
Die »Amis« waren angesichts der Erfolge der UdSSR mehr als beleidigt. Immerhin hatte Präsident Eisenhower schon zwei Jahre vor dem ersten Sputnik verkündet, dass »Amerika« den Start eines Forschungssatelliten vorbereitete. Und jetzt setzten die Sowjets einen Monat später noch einen drauf: Zu Ehren der Oktoberrevolution startete am 3. November 1957 Sputnik 2 mit einem Hund an Bord.
Das brachte in der BRD vor allem das Blut der Tierschützer in Wallung: Die »Russen« wollten, weil sie Laika nicht zurückholen konnten, das arme Tier vergiften! Als »PR Gag«! Dieses Geschrei verstummte erst, als die USA ein gutes Jahr später mit Affen testeten, ob irdisches Leben die Schwerelosigkeit überstehen konnte.
Die US-Führung und ihre Militärs fühlten sich 1957 nicht nur blamiert, sondern auch alarmiert. Erstens durfte es nicht sein, dass die SU die USA technisch überholt hatte. Und zweitens waren die Sowjets offenbar in der Lage, die USA mit Raketen anzugreifen!
Wernher von Braun, einst Hitlers Star-Ingenieur und Sklaventreiber in unterirdischen KZs, hatte seine Dienste den USA schon 1945 angeboten und wurde nie bestraft. Jetzt war Eile geboten. Aber die ersten – unbemannten – US-Raketenstarts Anfang 1958 gingen in die Hose: Live im Fernsehen verglühten mehrere unbemannte US-Raketen schon auf der Startrampe oder nach kurzem Flug. Mein Opa Willi, Kommunist und Ex-Zuchthäusler unter Hitler, freute sich wie Bolle: »Das gönne ich diesem Verbrecher!«
Um künftige Blamagen auszuschließen, wurde die NASA gegründet – angeblich zur nicht-militärischen Erkundung des Weltraums. Doch den größten Paukenschlag konnte man nicht verhindern. Am 12. April 1961 umrundete Juri Gagarin als erster Mensch die Erde im Weltraum. Ein Dorfjunge aus der Nähe von Smolensk, gelernter Gießer, zwei kleine Töchter, Jagdflieger und Oberleutnant der Sowjetarmee – ein Kommunist.
Nach seinem Flug wurde Gagarin in vielen Ländern als Held gefeiert. Rund um die Welt hing sein Bild in Kinderzimmern. Sogar die Queen lud ihn ein – und zeigte dem verlegenen Arbeitersohn, in welcher Reihenfolge man bei einem Galadinner Messer und Gabeln zu benutzen hatte. Die BRD aber wollte ihn nicht. Ein lächelnder Russe? So ein bescheidener junger Mann war Kommunist? Ein Kommunist als Friedensengel? Nee.
Zur Bereinigung der öffentlichen Erinnerung haben sich nach 1989 viele Emporkömmlinge in Kommunen der Ex-DDR nicht entblödet, nach Gagarin benannte Schulen oder Straßen wieder umzubenennen. Wie war das noch mit der »Systemnähe«?
Der sowjetische Kosmonaut Nikolai Rukawischnikow (1932-2002) war unter anderem beim Testflug für die erste Koppelung zwischen einem sowjetischen und einem US-Raumschiff im All. Bei einem Besuch in der BRD hat er jungen Sozialisten gesagt: »Wir erforschen den Weltraum für friedliche Zwecke. Wir wollen die Menschheit klüger machen.«
Nach diesem Motto hat die UdSSR zu vielen späteren Flügen Gäste mitgenommen, z. B. aus Indien, Israel, Südafrika. Auch der DDR-Bürger Sigmund Jähn war als erster Deutscher mit den Sowjets im All. Daraus hat sich letztlich die ISS entwickelt, in der immer noch Russen und »Amis« kollegial zusammenarbeiten. Gagarin hätte das gefallen. Aber er ist viel zu früh gestorben. Mit 34 Jahren kam er bei einem Testflug in der Nähe von Saratow um.
Bildungsnotstand
Weder Gagarin noch Rukawischnikow mussten es erleben, dass heute profitgeile Milliardäre auf Privatflügen ins All davon träumen, auf dem Mond teure Bodenschätze zu schürfen. Diesen Kerlen müsste man aus erzieherischen Gründen ein paar »Startrek«-Staffeln verordnen. Es gab schon vor 40 Jahren US-Bürger, die von friedlicher Raumfahrt träumten.
Im politischen Westen wurde nach Gagarins Flug aber nicht nur über Militärisches nachgedacht – sondern auch über Bildungspolitik. In den USA, so Wikipedia, stellte man entsetzt fest, dass die SU die doppelte bis dreifache Menge an Ingenieuren ausbildete wie die USA. Mehr als 1,6 Milliarden Dollars habe man damals für mehr Stipendien, eine bessere Lehrerausbildung, neue Schulen und Vorschulen aufgetrieben. Auf dem platten Land brauchte man zudem Schulbusse, damit mehr Kinder den Unterricht besuchen konnten.
Auch in der BRD entdeckten kluge Menschen Anfang der 60er Jahre üblen Bildungsnotstand. Nur 8 Prozent der Studenten stammten aus Arbeiterfamilien. Auch wir brauchten mehr Schulen, Lehrer und Stipendien. Legendär ist der Auftakt der Proteste: Bei einem Aufmarsch von Professoren der Uni Hamburg im Jahr 1967 trugen Studenten den Schwarzkitteln ein Transparent voran: »Unter den Talaren – der Muff von tausend Jahren«. Und bald tat sich wirklich eine Menge.
Ach ja, die Sesamstraße. In den USA wurde zur Überflügelung der »Russen« auch das Bildungsfernsehen eingeführt. Wie das genau aussah und wirkte, entzieht sich meiner Kenntnis. Aber wir Wessis haben davon später auch profitiert: Wir haben die »Sesamstraße« geerbt, lange Zeit auch bei Eltern die beliebteste Kindersendung in der BRD. Witzige Figuren, deren Macken kindgerecht aufs Korn genommen wurden. Und nebenbei lernten Zigtausende von Kindern spielerisch die ersten Buchstaben und Ziffern. Dafür möchte ich mich ausnahmsweise bei den USA bedanken – und, natürlich, bei Gagarin und den anderen Weltraumpionieren.
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