Friedensdystopien
Moritz Hieronymi, Brandenburg an der Havel
Im März 2011 stimmte der EU-Abgeordnete Lothar Bisky einer Resolution zu, die eine Flugverbotszone über Libyen begrüßte. Bisky versuchte mit dieser Abstimmung einen Präzedenzfall zu schaffen, der die Aufweichung der friedenspolitischen Positionen zur Folge gehabt hätte. Doch der Tabubruch ging nach hinten los. Aus der Flugverbotszone wurde ein Angriffskrieg gegen Libyen, in dessen Verlauf das höchstentwickelte Land auf dem afrikanischen Kontinent in die Steinzeit gebombt wurde. Weder Lothar Bisky noch die ihm nahestehenden Reformer sahen sich damals oder später veranlasst, diese Einschätzung als schwerwiegenden politischen Fehler zu bezeichnen.
Auch 10 Jahre später hat sich an dieser Prinzipienlosigkeit wenig geändert. Die jüngsten Debatten um das »Diskussionsangebot« von Matthias Höhn [1] und den Programmentwurf zur Bundestagswahl zeigen die Vulnerabilität der friedenspolitischen Positionen auf. In gleicher Manier und mit ähnlichen Methodiken versuchen diejenigen, die »politische Verantwortung« übernehmen möchten, programmatische Grundfesten der Partei in Frage zu stellen. Dabei sind die gegenwärtigen Diskussionen nicht auf die Bundestagswahlen begrenzt. Da auch die Regierungswilligen in der Partei die Grundrechenarten beherrschen sollten, werden sie sich anhand der gegenwärtigen Umfragen bewusst sein, dass mit aller Wahrscheinlichkeit in der nächsten Legislaturperiode keine Bundesregierung unter Beteiligung der LINKEN zustande kommen wird.
Die Aussage der designierten Ko-Parteivorsitzenden, Susanne Hennig-Wellsow, die ihre zukünftige Aufgabe darin sieht, die LINKE auf eine Regierungsfähigkeit im Bund vorzubereiten [2], ist ein Weckruf: Der nächste Parteivorstand wird zielstrebiger versuchen, die Partei neu auszurichten. Dass damit die friedenspolitischen Positionen gemeint sind, weil hier die größten inhaltlichen Diskrepanzen zur SPD und den Grünen bestehen, ist naheliegend.
Deshalb ist es dringend erforderlich, dass der linke Flügel eine akzentuierte und wahrnehmbarere friedens- und außenpolitische Strategie fortentwickelt.
Linke Politik muss sich an objektiven Bedingungen orientieren
Ausgangspunkt der Debatten um die Friedenspolitik ist neben militär- und sicherheitspolitischen Erwägungen in erster Linie die Außenpolitik. Globalpolitische und -ökonomische Grundlinien müssen erkannt werden, um Entwicklungen im außenpolitischen Kontext nachvollziehen zu können.
Unsere Zeit ist von einer Veränderung der geopolitischen Großräume geprägt, die ihren Ausdruck im Antagonismus zwischen den USA und der VR China findet. Die Rivalität zwischen den USA und China ist dabei nicht auf wirtschaftliches, technologisches und militärisches Gebiet beschränkt, sondern findet im Besondern auf ideologischer Ebene statt. Die sogenannte soft power der USA (moralische, kulturelle und wissenschaftliche Vorbildfunktion) diente dazu, dass der westliche Lebensstil in aller Welt als idealtypisch propagiert wurde. Spätestens die Corona-Pandemie offenbarte das soziale und moralische Versagen der nordamerikanischen Staaten und der EU in der Seuchenbekämpfung – eine tödliche Bilanz. Dagegen steht ein hocheffektives, promptes und kompromissloses Vorgehen durch die Kommunistische Partei Chinas. Dieses stellt einen massiven Imageverlust für die USA dar, der sich zugunsten der Volksrepublik auswirkt und ihr Ansehen in den meisten Entwicklungsländern stärken wird.
Hinzu kommen die global-politischen Ambitionen Chinas, die denen der USA zuwiderlaufen. So beteiligen sich an der Seidenstraße-Initiative 71 Staaten von drei Kontinenten unter Führung der Volksrepublik. Diese neue Führungsdominanz, die sich momentan auf süd- und zentralasiatische sowie einige afrikanische Staaten erstreckt, soll zukünftig proaktiv von den USA bekämpft werden. Der neue Asien-Berater von Joseph Biden, Kurt Campbell, schrieb in einem Gastbeitrag [3] im Januar, dass die neue US-Administration nicht nur im Wesentlichen die Trumpsche Chinapolitik beibehalten sollte, sondern dass die USA in Südostasien ihre strategische Balance durch wirtschaftliche und militärische Kooperationen mit den chinesischen Anrainern wiederherstellen müsse. Auch Biden wird den indo-pazifischen Schwerpunkt in der US-Außenpolitik hervorheben.
Kurzum, drei Szenarien [4] lassen sich beschreiben:
1. Der neue Kalte Krieg. Die Welt zerfällt in einen US- und in einen chinesischen Block. Deutschland und die EU werden keine bedeutende Rolle spielen und einen wirtschaftlichen wie militärischen Bedeutungsverlust erfahren.
2. Diemultipolare Weltordnung. Chinas wirtschaftliche Entwicklung verlangsamt sich, während andere Staaten wie Indien, Vietnam, Brasilien und Mexiko wirtschaftlich erstarken. Folglich kommt es zu einer multipolaren Weltordnung ohne eindeutige Dominanz.
3. Der neue Weltkrieg. Die Widersprüche in den US-chinesischen Verhältnissen entfalten sich unkontrolliert und es kommt zu einer militärischen Eskalation.
Eine Nebelmaschine namens Äquidistanz
Die LINKE hat trotz der veränderten Weltlage keinen eindeutigen Umgang mit den USA und mit China gefunden. Diese Leerstelle ermöglicht es erst, von den globalen Entwicklungen entfernte Thesen zur Debatte zu stellen. Das schlimmste Übel, welches Einzug in die parteiinternen Auseinandersetzungen genommen hat, ist die Äquidistanz. Diese beruht auf der vereinfachenden Formel, dass die Verwendung von verwerflichen Mitteln und Methoden durch Staaten, zu einer Gleichsetzung dieser Staaten führen muss. So erhöhen sowohl China, Russland und die USA ihre Militärausgaben, wie Matthias Höhn richtig festhält. Hieraus schlussfolgert er, dass das neue Hochrüsten gleichermaßen Russland, China und den USA geschuldet ist. Dabei werden historische und ökonomische Bedingungen vorsätzlich außer Acht gelassen. Die Äquidistanz ist damit eine Isolierungsmethode, mit der beliebige Erscheinungen zum Gesetz werden.
Beispielhaft steht hierfür die Unterstellung von Höhn, dass Russland gleich den USA kein Interesse an der Aufrechterhaltung des INF-Vertrages (Vertrag zur Vernichtung der russischen und US-amerikanischen boden- bzw. landgestützten mittel- und Kurzstreckenraketen) hatte. [5] Diese Unterstellung sei belegbar, denn beide Staaten zauberten, nachdem der INF-Vertrag ausgesetzt wurde, wie aus dem Nichts, zuvor verbotene Raketensysteme aus dem Hut. Im Sinne der Äquidistanz hätten beide rechtswidrig gehandelt; somit wären Russland und die USA gleichwertige Delinquenten. Ein kritisches Hinsehen ergibt dagegen ein diametral anderes Bild: Der INF-Vertrag ist Bestandteil eines US-russischem Abrüstungsregimes, welches seit 1972 kontinuierlich entwickelt wurde und sich stetig auf weitere Waffensysteme erstreckte. Diese Entwicklung kam zu einem abrupten Ende, als im Jahr 2003 George W. Bush einseitig aus dem ABM-Vertrag austrat und Raketenabwehrsysteme in Osteuropa installierte. Damit begann das Ende einer bilateralen Abrüstungspolitik zwischen Russland und den USA, welche in der Beendigung des INF-Vertrages mündete.
An diesem Beispiel sehen wir, dass Höhn aus einem Aggressor einen Beteiligten, aus dem Unbeteiligten einen Aggressor gemacht hat. Unzweifelhaft hat Russland in der Abfolge der Eskalation US-russischer Beziehungen auch eigne Machtinteressen durchgesetzt, aber nicht die Voraussetzungen für eine brandgefährliche Hochrüstung in Europa geschaffen.
Die Erlösung im Europäertum
Die LINKE sieht sich als eine Partei in der Tradition des Internationalismus. Der Internationalismus wird grundsätzlich in Abgrenzung zum Nationalismus verwendet. Dagegen wird das horizontale Verhältnis zwischen Internationalismus und internationalen Organisationen selten betrachtet.
Im Sinne des Völkerrechts sind internationale Organisationen nichts Weiteres als Verträge, die in der Regel zwischen Staaten geschlossen werden. Mithin ist eine internationale Organisation der Ausfluss eines Staates, seiner Interessen und Machtstrukturen in einem bestimmten bi- oder multilateralen Umfeld; somit pars pro toto der ökonomischen und gesellschaftspolitischen Verhältnisse der jeweiligen nationalen Rahmen. Nichts anderes ist es, wenn wir über die EU reden. In der Tat ist die EU darauf ausgerichtet, die Interessen in den Mitgliedsstaaten zu vergemeinschaften, sodass Konflikte nicht militärisch ausgetragen werden. Die hieraus gezogene Schlussfolgerung, dass die EU deswegen besonders friedliebend sei, ist aber eine große Mär.
Die EU fördert auf internationaler Ebene extralegale Militäreinsätze, wie die responsibility to protect. [6] Als globaler Akteur leistet die EU den USA treue Dienste, indem sie den Einsatz militär-ähnlicher und nachrichtendienstlicher Einheiten in angrenzenden Seegebieten zu China und Russland organisiert. [7]
Die LINKE führt dagegen die Debatten um die EU ausschließlich in Abgrenzung zum Nationalstaat. Eine Kritik an der überbürokratisierten und wirtschaftsradikalen EU kann somit leicht als rechte Gesinnung denunziert werden. Eine sachdienliche Auseinandersetzung anhand des EU-Primärrechts findet nicht statt. So würde die Auseinandersetzung z.B. mit Art. 106 AEUV (Vertrag über die Arbeitsweise der EU) ergeben, dass öffentliche Unternehmen keine marktbeherrschende Stellung einnehmen dürfen. Diese Bestimmung wäre mit der Vorstellung von einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus unvereinbar.
Ob es um die EU oder um die NATO geht, diesbezügliche Diskussionen können nicht von wirtschaftlichen und geopolitischen Gesamtumständen losgelöst werden. Die Befürwortung einer EU-Armee unterstellt, dass die Mitgliedstaaten von den USA unabhängiger würden. Dabei werden die tatsächlichen Machtverhältnisse im Neoimperialismus ignoriert.
Linke Identitätslosigkeit
Außenpolitik und Friedenspolitik sind untrennbar mit einer Analyse des Kapitalismus und seiner Machtverhältnisse verbunden, da maßgebliche Protagonisten nicht gewillt sind, die strukturelle Kritik an der kapitalistischen Wirtschaftsordnung in Verbindung mit bürgerlichem Denken zu setzen.
Dieses drückt sich in der Aneignung von Begriffen des Establishments aus. So spricht die LINKE von autoritären Regimen und Menschenrechtsverletzungen, ohne nachvollziehbar zu machen, woran solche gemessen werden. Im Jahr 2006 erklärte André Brie [8], dass das Verständnis von politischer Freiheit in der Linkspartei unterentwickelt sei. Was politische Freiheiten sind, ließ Brie unbeantwortet. Diese Art der Diskussion ignoriert, dass der Großteil des heutigen Menschenrechtsverständnisses von den philosophischen und rechtlichen Vorstellungen der westlichen Welt geprägt ist. Dieses Verständnis überbetont bürgerliche und politische Rechte. Kollektive und soziale Rechte werden dagegen als Zielbestimmungen interpretiert, die in den meisten westlichen Staaten nicht einklagbar sind.
Die LINKE, in welcher Identitätsfragen und gendergerechte Sprache gern umschweifend problematisiert werden, vernachlässigt im menschenrechtlichen Diskurs alternative Rechtsansätze, wie die in der afrikanischen Banjul-Charta. Dort werden kulturelle, kollektive und tribale Rechte herausgestellt, und sie garantieren einen höheren Rechtsschutz als im anglosächsischen Raum. Recht ist immer Abbild der gesellschaftlichen Verhältnisse und kann kein werteneutrales, apolitisches Ordnungsprinzip bilden. Wir sollten diese Rechtsrelativität in den menschenrechtspolitischen Debatten berücksichtigen. Anderseits, wenn das Ordnungsprinzip nicht hinterfragt wird, bleibt nur die Anpassung übrig.
Aussichten
Als Lothar Bisky für die Libyen-Resolution stimmte, war ihm sehr bewusst, was er tat. Seine Absicht ging aber nicht auf. Die LINKE konnte sich ihre friedenspolitischen Positionen über die Jahre hinweg bewahren.
Ich möchte an dieser Stelle einen Gegenvorschlag zu Höhns Abenteurertum und dem soften Entwurf zum Bundestagswahlprogramm machen:
Wir bleiben uneingeschränkt beim Frieden. Wir fordern, nach dem Vorschlag von Winston Churchill, dass auf jedem Kontinent eine regionale Organisation gegründet wird, in der nur die Staaten des jeweiligen Kontinents versammelt sind, die ihre Angelegenheiten unter spezifischer Berücksichtigung kultureller, historischer, sozialer und wirtschaftlicher Eigenheiten bestimmen. Diese fünf regionalen Organisationen finden sich unter dem Dach der Vereinten Nationen wieder. Der UN-Sicherheitsrat wird aufgelöst und durch einen Rat der fünf regionalen Präsidenten ersetzt.
So realistisch wie dieser Vorschlag ist, so realistisch ist es, dass durch Krieg Menschenrechte gefördert werden. – Ersterer verlangt keine Toten, letzteres ermöglicht die Regierungsbeteiligung.
Anmerkungen:
[1] Höhn, Linke Sicherheitspolitik, abrufbar unter: www.matthias-hoehn.de/fileadmin/lcmshoehn/user/upload/Debatte_Sicherheitspolitik_MatthiasHo__hn_210117.pdf [21.2.2021].
[2] dpa, Hennig-Wellsow: »Bundeswehr hat im Ausland nichts zu suchen«, Westfälische Nachrichten, 19.2.2021.
[3] Campbell/Doshi, How America Can Shore Up Asian Order, Foreign Affairs, 12.1.2021, abrufbar unter: www.foreignaffairs.com/articles/united-states/2021-01-12/how-america-can-shore-asian-order [21.2.2021].
[4] Otte, Die Krise hält sich an Regeln, S. 128.
[5] Fn. 1, S. 2.
[6] Newman/Stefan, The European Union and the Responsibility to Protect, JCMS, 13.5.2020, abrufbar: jcms.ideasoneurope.eu/2020/05/13/the-european-union-and-the-responsibility-to-protect/ [21.2.2021].
[7] EC, European Union Martime Security Strategy, Responding Together to Global Challenges, abrufbar unter: ec.europa.eu/maritimeaffairs/sites/maritimeaffairs/files/leaflet-european-union-maritime-security-strategy_en.pdf [21.2.2021].
[8] Interview André Brie, Die Linkspartei ist feige, taz.archiv, 3.3.2006, abrufbar: taz.de/!466709/ [21.2.20212].
Mehr von Moritz Hieronymi in den »Mitteilungen«:
2021-01: Der wahre Sohn Afrikas
2020-10: Außenpolitische Vakua und die Friedensfrage
2020-03: Die Mystifizierung von Kriegen