Ermächtigungsgesetz für Hitler
Prof. Dr. Heinz Karl, Berlin
Auch 75 Jahre nach der Errichtung der faschistischen Diktatur der deutschen Großbourgeoisie und Großagrarier wird über diesen tiefen geschichtlichen Einschnitt, seine Ursachen und treibenden Kräfte, deren Motive und Ziele, über mögliche Alternativen und die Verantwortlichkeit für die Folgen heftig gestritten. Eine wesentliche Voraussetzung für die Beantwortung der Frage "Wie konnte das geschehen?" ist die Analyse der politischen Entwicklung in den zwei bis drei Monaten nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und seiner konservativ-faschistischen Koalitionsregierung am 30. Januar 1933. Diese war nicht das Ergebnis einer ansteigenden Massenbewegung, nicht einmal das einer parlamentarischen Umgruppierung, sondern von Lobbyismus und politischen Intrigen, abgesichert durch das sich "unpolitisch" gebende Militär und noch mehr im Hintergrund agierende großkapitalistische Kreise.[1]
Deshalb war die Konsolidierung der faschistischen Diktatur kompliziert. Sie hing vor allem davon ab, daß es gelang, SPD und Gewerkschaften durch pseudolegales Taktieren zum Stillhalten zu veranlassen, unbedingt eine Einheitsfront der Arbeiterparteien und -organisationen zu verhindern; die bürgerliche Mitte und die Kirchen durch ihnen bedeutsam erscheinende Zugeständnisse zu ködern; die Kommunisten und andere aktive Antifaschisten zu isolieren, durch flächendeckende rigorose Verbotsmaßnahmen und selektiven brutalsten Terror niederzuhalten und zu lähmen. Entsprechend dieser Linie wurde am 4. Februar eine "Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des deutschen Volkes" erlassen, die jede Kritik an der Reichsregierung unter Strafe stellte und durch Versammlungs- und Zeitungsverbote die KPD faktisch in die Illegalität drängte. Am 22. Februar wurden SA, SS und der militaristische "Stahlhelm" zur Hilfspolizei erklärt. Sofort nach der Reichstagsbrandstiftung (am 27. Februar abends) wurde am 28. Februar eine Notverordnung "Zum Schutze von Volk und Staat" erlassen, die eine Reihe von Verfassungsartikeln außer Kraft setzte und umfangreiche Beschränkungen der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechts, Haussuchungen u.a. bewirkte.
Dennoch brachte die Reichstagswahl am 5. März nicht die erhoffte absolute Mehrheit für die Nazipartei. Auch war die faschistische Regierungskoalition weit von einer Zweidrittelmehrheit entfernt, die sie benötigte, um auf Grundlage des Artikels 76 der Weimarer Verfassung ein verfassungsänderndes Gesetz durchzubringen, das die Regierung ermächtigte, Gesetze zu erlassen ("Ermächtigungsgesetz"), d.h. faktisch ohne Reichstag zu regieren.[2] Um das Kräfteverhältnis im Reichstag entsprechend zu ändern, wurden zunächst (am 9. März) die 81 KPD-Mandate verfassungswidrig annulliert, was von den anderen Parteien hingenommen wurde.
Die Methode, gestützt auf ein Ermächtigungsgesetz zu regieren, war keineswegs neu. Bereits in der politischen Krisensituation von 1923 waren (am 13. Oktober und 8. Dezember) Ermächtigungsgesetze angenommen worden. Auf Grund des letzteren wurden an die 70 Verordnungen erlassen, die einschneidende soziale Verschlechterungen beinhalteten, u.a. die faktische Abschaffung des Achtstundentages. Das von den Regierungsparteien (NSDAP und DNVP) eingebrachte Ermächtigungsgesetz war als "Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich" deklariert. Seine wichtigsten Bestimmungen bestanden darin, daß die Reichsregierung ermächtigt wurde, Reichsgesetze zu erlassen, in diesem Falle das in der Weimarer Verfassung (Art. 68-77) dafür festgelegte Verfahren keine Anwendung fand und dies auch ausdrücklich für den Haushalt (Art. 85, Abs. 2) und die Aufnahme von Anleihen und Krediten (Art. 87) betreffende Gesetze festgestellt wurde.
In den Märztagen verhandelten Hitler und die Naziführer Göring und Frick vor allem mit Zentrum und BVP, um deren Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz zu erlangen. Daran war Hitler sehr gelegen, weil – wie er im Kabinett darlegte – die Zustimmung des Zentrums eine "Prestigestärkung gegenüber dem Ausland"[3] bedeuten würde. Hitler sicherte ihnen in den Verhandlungen und dann in seiner Regierungserklärung zum Ermächtigungsgesetz insbesondere die Einhaltung der vom Staat mit der evangelischen und der katholischen Kirche geschlossenen Verträge (bekräftigt u.a. im Reichskonkordat mit der katholischen Kirche vom 20. Juli 1933) bezüglich ihrer Rechte und Privilegien, der konfessionellen Struktur des Schulwesens und der kirchlichen Einflußnahme darauf zu und garantierte ihnen ihren umfangreichen Besitz. Die beiden Großkirchen erhielten vom Reich 1933: 130 Mill. RM, 1934: 170 Mill., 1935: 250 Mill., 1936: 320 Mill., 1937: 400 Mill. und 1938: 500 Mill. RM; dazu jährlich 85 Mill. RM von den Ländern und 7 Mill. RM von den Gemeinden. Die Kirchen waren die größten Grundeigentümer nach dem Staat mit Land- und Forstbesitz im Wert von rd. 10 Mrd. RM mit rd. 300 Mill. RM jährlichen Erträgen. Sie waren steuerbegünstigt und genossen für Schenkungen, Vermächtnisse usw. Steuerfreiheit.[4] In den Verhandlungen mit Zentrum und BVP sicherte Hitler auch das Verbleiben der ihnen angehörenden Beamten im faschistischen Staatsapparat zu, was dann Leuten wie Dr. Hans Globke oder Ritter von Lex zugute kam. Bei seinen Berichten über diese Verhandlungen im Vorstand der Zentrums-Fraktion stellte der Parteivorsitzende, Prälat Kaas, "die Begründung Hitlers für die Notwendigkeit dieses Gesetzes (Vernichtung von KPD und SPD)" in den Vordergrund. Hitler machte "kein Hehl daraus, daß er die ‚Marxisten’ vernichten wolle".[5]
In der Reichstagssitzung am 23. März 1933 begründete Hitler in einer Regierungserklärung das Ermächtigungsgesetz. Er bekundete seinen Haß gegen die Novemberrevolution 1918 und feierte das Naziregime als deren Korrektur. Mit den üblichen demagogischen Nazi-Tiraden über Versailles spielte er sich als Kämpfer für Deutschlands Gleichberechtigung auf. Die Bourgeoisie des In- und Auslands schreckte er mit der Gefahr des Kommunismus und zeterte, daß "der Ausbruch eines kommunistischen Chaos in dem dichtbesiedelten Deutschen Reich zu politischen und wirtschaftlichen Folgeerscheinungen besonders im übrigen westlichen Europa führen würde, deren Ausmaße unvorstellbar sind."[6] Keinen Zweifel ließ Hitler am kapitalistischen Charakter seines Regimes und seiner Politik, an seiner Grundposition, daß niemand als die Repräsentanten des Kapitals selbst die Wirtschaft leiten sollten. "Grundsätzlich wird die Regierung die Wahrnehmung der wirtschaftlichen Interessen des deutschen Volkes nicht über den Umweg einer staatlich zu organisierenden Wirtschaftsbürokratie betreiben, sondern durch stärkste Förderung der privaten Initiative unter Anerkennung des Privateigentums."[7] Hitlers Regierungserklärung schloß mit der unverhüllten Drohung, daß er jede Ablehnung als Kampfansage betrachten würde. "Mögen Sie, meine Herren, nunmehr selbst die Entscheidung treffen über Frieden oder Krieg."[8]
Nach einer dreistündigen Vertagung sprach in der Diskussion als erster der SPD-Vorsitzende Otto Wels. Er begründete die Ablehnung des Ermächtigungsgesetzes durch die SPD und protestierte gegen die Verfolgungen und Diskriminierungen. Eine mutige Haltung, zumal wenn man bedenkt, daß der Reichstag und sein Sitzungssaal von Hunderten provozierenden SA- und SS-"Gästen" wimmelte – und wenn man sie mit dem devoten Verhalten der bürgerlichen Parlamentarier vergleicht. Dennoch kommt man nicht umhin, kritisch zu vermerken, daß er sich mit der demagogischen "Gleichberechtigungs"forderung Hitlers solidarisierte und bezugnehmend auf dessen gespielte Entrüstung über angebliche ausländische "Greuelpropaganda" selbst von "Übertreibungen" sprach.[9]
Für das Zentrum erklärte Prälat Kaas die Zustimmung. In der Fraktion hatte es allerdings von einer Minderheit, insbesondere von Heinrich Brüning und Joseph Wirth, starken Widerspruch gegeben. Aber die große Mehrheit folgte den konformistischen Argumenten von Kaas, und die Minderheit beugte sich der Fraktionsdisziplin. Der Sprecher der BVP, Ritter von Lex, war schon ganz vom germanisch-bajuwarischen furor teutonicus des Dritten Reiches erfaßt und tönte in den Reichstag: "Deutsche Männer! Deutsche Frauen! ... Die Bayerische Volkspartei als Partei der christlich-nationalen Weltanschauung und Staatsauffassung hat nach der schmachvollen Revolution von 1918 in vorderster Linie für die Erhaltung und Wiedergewinnung nationaler Gesinnung in allen Ständen und Schichten des Volkes gekämpft."[10] Der von ihm geführte BVP-Wehrverband "Bayernwacht" hatte kurz zuvor erklärt, er sei "als christlich-nationaler Wehrverband ... der Auffassung, daß die Niederkämpfung der antinationalen, volkszerstörenden Elemente, die Wiedererringung der Wehrhaftigkeit und das große nationale Aufbauwerk die Mitarbeit aller vaterländischen Kräfte erfordern."[11]
Für die Deutsche Staatspartei bekundete Reinhold Maier: "Wir fühlen uns in den großen nationalen Zielen durchaus mit der Auffassung verbunden, wie sie heute vom Herrn Reichskanzler hier vorgetragen wurde."[12] In der namentlichen Abstimmung stimmte die sozialdemokratische Fraktion geschlossen gegen das Ermächtigungsgesetz, die Fraktionen aller bürgerlichen Parteien – außer den genannten noch der Volksdienst (Evangelische Bewegung), die Deutsche Bauernpartei und die DVP – mit "Ja". Damit hatte der Reichstag als gewählte Volksvertretung und gesetzgebendes Organ sich selbst entmachtet.
Stellt man sich die Frage, warum die nicht zur faschistischen Regierungskoalition gehörenden bürgerlichen Parteien sich so verhielten, findet man wohl vor allem zwei Gründe. Zum einen begann ihr Weg zu dieser Entscheidung schon lange vor dem 30. Januar 1933. Bereits im November/Dezember 1927 hatten die Unternehmerverbände von der Regierung gefordert, "den Kampf mit der Masse und mit dem Reichstage"[13] aufzunehmen und antidemokratische Veränderungen zu vollziehen, die "eine sehr einschneidende Verfassungsänderung"[14] bedeuten würden. Im September und Dezember 1929 forderten der Reichsverband der Deutschen Industrie (RDI) – der Vorläufer des BDI – einschneidende sozialreaktionäre Maßnahmen und erklärte zugleich, daß dies unter einem parlamentarischen Regime nicht durchführbar ist und deshalb auf die Ausschaltung des Reichstages Kurs genommen werden soll. Vom RDI wird die Forderung nach "einer festen und beständigen Regierung, die durchzugreifen ernsthaft gewillt ist" und nach einem Ermächtigungsgesetz erhoben und verlangt, "durch Verordnungen den Zustand zu schaffen, den die fehlende Gesetzgebung uns nicht schaffen kann"[15]. In allen bürgerlichen Parteien gab es einflußreiche Kräfte, die diese Auffassungen teilten und verfochten. Sie alle waren Anfang der 30er Jahre an der Umwandlung des parlamentarischen Regimes in eine Präsidialdiktatur beteiligt. Ihr Agieren im März 1933 entsprach der Logik ihrer politischen Entwicklung.
Zum anderen gab es zwischen ihnen, den Rechtskonservativen der DNVP und den Nazifaschisten ideologisch-politisch erhebliche Annäherungen bis Übereinstimmungen. Sie alle vertraten Positionen des Nationalismus, mit geringen Ausnahmen (bei Teilen der DStP und am linken Rande des Zentrums) auch des Revanchismus, des Antikommunismus und einer tiefverwurzelten Abneigung gegen Bewegungen der Massen. Nicht wenige der Hitlerermächtiger aus den bürgerlichen Parteien finden sich in den folgenden Jahren im faschistischen Reichstag als Gäste der NSDAP-Fraktion, so Paul Bang, Axel v. Freytagh-Loringhoven, Alfred Hugenberg und Franz v. Papen von der DNVP, Emil Georg v. Stauß von der DVP, Oskar Farny und Albert Hackelsberger vom Zentrum, Graf Quadt zu Wykradt und Isny von der BVP.
Parlamentarier, die 1933 Hitler ermächtigten – wie Theodor Heuß, Jakob Kaiser und Helene Weber – saßen 1948/49 im Bonner Parlamentarischen Rat und formulierten mit am Grundgesetz, waren dann MdB. Theodor Heuß wurde erster Bundespräsident, Jakob Kaiser, Heinrich Krone und Ernst Lemmer Bundesminister. Paul Bausch, Paul Gibbert, Michael Horlacher und Reinhold Maier waren viele Jahre im Bundestag. Ein besonderes Maß an Kontinuität erbrachte Oskar Farny: vom Zentrums-Hitlerermächtiger 1933 über langjährige Meriten als NSDAP-Fraktionsgast zum CDU-MdB 1953. Und da wäre auch wieder Herr Ritter von Lex als eine stets und allseits bewährte, offenbar unentbehrliche versierte Fachkraft. Erfolgreiches Wirken (wie Dr. Hans Globke) im Reichsinnenministerium unter den Ministern Frick und Himmler qualifizierte ihn zu Höherem – zum Staatssekretär im Bundesministerium des Innern. In dieser Eigenschaft leitete er die Prozeßvertretung der Bundesregierung im Verbotsprozeß gegen die KPD. Und hier bewies er am 5. Juli 1955, daß er 1933 nicht stehengeblieben, sondern in der braunen Kaderschmiede zur Hochform aufgelaufen war, wenn er in geradezu klassischem Nazi-Deutsch im Namen der Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht verkündete: Die KPD "ist ein gefährlicher Infektionsherd im Körper unseres Volkes, der Giftstoffe in die Blutbahn des staatlichen und gesellschaftlichen Organismus der Bundesrepublik sendet."[16]
Auf das KPD-Verbot folgte die Notstandsgesetzgebung. Heute leitet Schäuble eine neue Phase der Perfektionierung der "inneren Sicherheit" ein. Kontinuitäten, die weit in die Geschichte zurückreichen, sind nicht zu übersehen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. H. Karl: 30. Januar 1933 – Erfahrung und Warnung. In: Mitteilungen der Kommunistischen Plattform ..., Heft 1/2003, S. 19-23.
[2] Mandatsverteilung: NSDAP 288, SPD 120, KPD 81, Zentrum 73, Deutschnationale Volkspartei (DNVP) 52, Bayerische Volkspartei (BVP) 19, Deutsche Staatspartei (DStP) 5, Volksdienst (Evangelische Bewegung) 4, Deutsche Bauernpartei 2, Deutsche Volkspartei (DVP) 2. – Zum folgenden vgl. Klaus Höpcke: Das "Auffliegen" des Reichstags 1933. In: Utopie kreativ, Nr. 209, März 2008.
[3] R. Morsey: Das Zentrum. In: E. Matthias/R. Morsey (Hg.): Das Ende der Parteien 1933, Düsseldorf (1960), S. 358.
[4] Vgl. Verhandlungen des Reichstags, 4. Wahlperiode 1938, Bd. 460, S. 16.
[5] R. Morsey: Das Zentrum, S. 359/360.
[6] Verhandlungen des Reichstags, VIII. Wahlperiode 1933, Bd. 457, Berlin 1934, S. 26/27.
[7] Ebenda, S. 28.
[8] Ebenda, S. 32.
[9] Vgl. ebenda, S. 32/33.
[10] Ebenda, S. 37.
[11] K. Schwend: Die Bayerische Volkspartei. In: Matthias/Morsey (Hg.): Das Ende der Parteien 1933, S. 490/491.
[12] Verhandlungen des Reichstags, Bd. 457, S. 38.
[13] Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, Bd. 4, Berlin 1966, S. 488.
[14] Ebenda, S. 487.
[15] Ebenda, S. 527.
[16] Weißbuch der Kommunistischen Partei Deutschlands über die mündliche Verhandlung im Verbotsprozeß vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, Berlin 1955, S. 16.
Mehr von Heinz Karl in den »Mitteilungen«:
2008-01: Auf den Spuren des Mordes an Liebknecht und Luxemburg
2007-08: Clara Zetkin über die Perspektiven der Oktoberrevolution und des Sozialismus
2007-07: Vorkämpferin für Sozialismus, Frieden und Menschenwürde