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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Eine Wahl, die Lateinamerika veränderte

Gerhard Mertschenk, Berlin

 

Vor 25 Jahren siegte Hugo Chávez bei den Wahlen in Venezuela.

 

Das Ergebnis der Wahlen vom 6. Dezember 1998 schlug ein wie eine Bombe. Diese Wah­len waren in vieler Hinsicht etwas Besonderes. Die beiden etablierten Parteien AD (sozial­demokratisch) und COPEI (christdemokratisch), die sich seit 1956 in der Regierung ablös­ten und das politische Leben im Lande bestimmten, waren diskreditiert und demoralisiert, weswegen sie keine eigenen Kandidaten aufgestellt hatten und es vorzogen, Henrique Salas Römer, einen bürgerlichen Verlegenheitskandidaten der Partei »Projekt Venezuela« zu unterstützen. Weitere Gegenkandidaten waren Irene Sáez, eine ehemalige Schönheits­königin, und Luis Alfaro Ucero, Generalsekretär der AD, der aber von seiner Partei im Stich gelassen wurde. Hugo Chávez kandidierte für seine Partei »Bewegung V. Republik« (MVR – Movimiento Quinta República).

Seine Kandidatur war nur möglich geworden, weil das Gerichtsverfahren, das gegen ihn wegen seines am 4. Februar 1992 gescheiterten Staatsstreiches gegen die Regierung Carlos Andrés Pérez eröffnet worden war, von Präsident Rafael Caldera 1994 niederge­schlagen worden war, und Chávez nach zwei Jahren Gefängnisaufenthalt auf freien Fuß gesetzt wurde, ohne dass es zu einer Verurteilung gekommen war. Ein Vorbestrafter hätte laut Verfassung nicht als Präsidentschaftskandidat antreten dürfen, auch nicht im Falle einer Amnestie oder Begnadigung. Dieser Umstand verdient deshalb besonders erwähnt zu werden, weil in vielen Quellen vom amnestierten Putschoffizier die Rede ist, als der Chávez angetreten sei. Chávez selber weigerte sich stets, den Aufstand vom 4. Februar 1992 einen Putsch zu nennen. Für ihn war es eine Erhebung fortschrittlicher Militärs, um die Institutionen zu verändern und die Macht dem Volk zu übergeben. Als deutlich wurde, dass der Putsch zum Scheitern verurteilt sein würde, ergab sich Hugo Chávez mit seinen Truppen in Caracas und erhielt auf sein Verlangen hin die Möglichkeit, sich über das Fern­sehen 30 Sekunden lang an seine Mitstreiter zu wenden. In dieser kurzen Ansprache über­nahm er die Verantwortung für den gescheiterten Aufstand und erklärte, dass die Aufstän­dischen ihre Ziele vorerst (por ahora) nicht erreicht hätten, es würden sich aber neue Mög­lichkeiten ergeben. Diese militärische Erhebung stieß auf immense Sympathie in den sozia­len Bewegungen und der verarmten Bevölkerung. Chávez wurde zur Leitfigur und durch die Worte »por ahora – vorerst« zum Hoffnungsträger der armen Bevölkerungsmehrheit. Bezeichnend für die Stimmung im Lande war, dass Carlos Andrés Pérez 1993 wegen Kor­ruption seines Amtes enthoben wurde.

Welche Sympathien Hugo Chávez aufgrund dieses Aufstands gegen die Regierung des kor­rupten Carlos Andrés Pérez genoss, zeigt sich am besten anhand eines dem Vaterunser nachempfundenen Gebets, das ihm ein unbekannter Venezolaner im Gefängnis zukommen ließ:

Chávez unser, der du bist im Gefängnis,

geheiligt sei dein Staatsstreich,

räche uns, unser Volk,

dein Wille geschehe,

der von Venezuela,

der deiner Armee,

gib uns heute das schon verlorene Vertrauen wieder,

und vergib nicht den Verrätern,

so wie auch wir nicht denen vergeben werden,

die dich gefangen nahmen,

rette uns vor soviel Korruption

und befreie uns von Carlos Andrés Pérez.

Amen.

Dieses Stimmungsbild erklärt, warum sich Hugo Chávez bei einer Wahlbeteiligung von 63,5 Prozent mit 56,20 Prozent der abgegebenen Stimmen mit absoluter Mehrheit gegen Salas Römer (39,97 Prozent) und die ehemalige Schönheitskönigin (2,82 Prozent) klar durchsetz­te. Die anderen Kandidaten blieben jeweils unter 0,5 Prozent.

Neue Verfassung und Sozialprogramme: die Chávez-Erfahrung

Im Wahlkampf hatte er versprochen, einen Kampf gegen die im Lande verbreitete Korrup­tion, Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu führen, und dem Land eine neue Verfassung zu geben. Diesem Versprechen blieb er treu, als er bei seinem Amtsantritt als Präsident am 2. Februar 1999 den Eid ablegte: »Ich schwöre bei Gott, vor dem Vaterland und auf diese dem Tod geweihte Verfassung, dass ich die nötigen demokratischen Umgestaltungen vor­antreiben werde, damit die Republik eine den neuen Zeiten entsprechende Verfassung bekommt. Das schwöre ich.« Noch im selben Jahr begann eine breit geführte Diskussion mit allen sozialen Gruppen im ganzen Land zur Erarbeitung der neuen Verfassung, die ihren Höhepunkt und Abschluss in einer Volksabstimmung am 15. Dezember 1999 fand, als sie mit 72 Prozent angenommen wurde. Mit dieser neuen, der Bolivarischen Verfas­sung, die sich durch viele basisdemokratische Elemente auszeichnete, war der Weg geeb­net für die von Chávez und seiner MVR vorgesehene Neugründung des venezolanischen Staates, für die Bolivarische Revolution. Die Bestimmungen erlaubten eine neue Umvertei­lung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten. Im Ergebnis konnten der Hun­ger und die Armut in Venezuela in bedeutendem Maße vermindert werden. (1995 lebten 75,5 Prozent der Bevölkerung in Armut, 42,4 Prozent in extremer Armut. Die Arbeitslosen­quote betrug bis zu 35 Prozent. Über die Hälfte der Beschäftigten war im sogenannten informellen Sektor tätig: ohne Arbeitsverträge und Versicherung, 37,7 Prozent der unter 15-Jährigen hatten nie eine Schule besucht.)

Für die konkrete Umsetzung der Pläne wurden »Misiones« (Sozialprogramme) ins Leben gerufen. Sie verfolgten das Ziel, in den verschiedenen Bereichen die enormen sozialen Schulden zu begleichen, die die Nation in den langen Jahrzehnten der Verschwendung durch die elitäre Führungsschicht und der sozialen Ausgrenzung großer Teile der Bevölke­rung angehäuft hatte. Hier ist nicht der Platz, um alle mehr als 40 Misiones aufzuführen; genannt werden sollen nur einige auf besonders wichtigen Gebieten. Im Bildungsbereich gab es allein vier: Alphabetisierung, kostenfreie Bildung auf höheren Stufen bis zur Hoch­schulreife, Neubau und Erweiterung von Universitäten. Im Gesundheitswesen ragten die Misiones Barrio adentro, Milagro (Wunder) und Sonrisa (Lächeln) heraus. Ersteres sorgte für eine medizinische Versorgung in den Armenvierteln vor allem mit kubanischen Ärzten (die aus bürgerlichen Kreisen stammenden Ärzte gaben sich mit solchen nicht zahlungsfä­higen Leuten nicht ab), die zweite für die Behandlung von Grauem Star, die dritte für Zahn­behandlung – alle natürlich kostenfrei. Darüber hinaus gab es Misiones zur Absicherung der Ernährung, Schaffung von Wohnungen und zur Förderung der Landwirtschaft. Grund­sätzlich wurden alle diese Missionen nach Chávez’ Tod 2013 unter der Regierung Maduro fortgeführt, allerdings wegen fehlender Mittel aufgrund der Auswirkungen der US-Sanktionen teilweise sehr stark gekürzt. Von grundlegender Bedeutung für die Einbeziehung besonders der unteren Volksschichten in das politische Leben war die Mision »Identität«, dank derer die ärmere Bevölkerung kostenlos Personalausweise erhielt. Sieben von 10 Venezolanern hatten keinen Personalausweis. Und ohne Personalausweis konnten viele Rechte nicht wahrgenommen werden, z.B. die Teilnahme an den Wahlen, denn ohne PA konnte man sich nicht in die Wählerlisten eintragen lassen. Das hielt aber die herrschende Klasse nicht davon ab, jahrzehntelang von demokratischen Wahlen zu sprechen, obwohl über die Hälfte der Bevölkerung davon ausgeschlossen war. Durch die kostenlose PA-Ausgabe wurde natürlich auch ein Wählerpotential für Chávez geschaffen, was sich dann positiv bei den Wahlen auswirkte. Nun konnten die Volksmassen den/die Kandidaten wählen, der ihre Interessen vertrat. Die Bolivarische Verfassung gestattet es auch, einen Abgeordneten oder Funktionsträger abzuberufen, wenn er das nach Ansicht der Wähler nicht mehr tut. So kann der Wählerwille direkt wirksam werden.

Das Phänomen Chávez ist nicht zu verstehen ohne dessen soziale Herkunft und die seiner Unterstützer. Der Politisierungsprozess der unteren Klassen in Venezuela war einzigartig. Sich im Territorium zu organisieren, die Potentiale vor Ort kreativ zu erschließen, um die Schwierigkeiten der dort lebenden Bevölkerung zu identifizieren und zu überwinden – all das macht die partizipative Demokratie des Chavismus aus. Die »Chávez-Erfahrung« hat die venezolanische Gesellschaft geprägt und prägt sie bis heute: die Organisierung an der Basis, die soziale Inklusion von historisch ausgeschlossenen Teilen der Gesellschaft, eine andere Auffassung von Politik.

Auch in der Wirtschaft gab es Umgestaltungen: Verstaatlichung bzw. Aufkauf von Betrie­ben, die von den Besitzern aufgegeben wurden oder wo das Arbeitsgesetzbuch nicht einge­halten wurde. Meist wurden die Betriebe in Genossenschaften der dort Arbeitenden umge­wandelt, aber auch staatliche Leiter eingesetzt. Das brachte häufig Probleme mit sich, weil das gesamtgesellschaftliche Bewusstsein nicht entsprechend entwickelt war. Ziel war auch die Diversifizierung der Industrie, um sich von einseitiger Abhängigkeit vom Erdöl zu befrei­en. Brach liegendes Land wurde – oftmals unter erbittertem Widerstand der Großgrundbe­sitzer bis hin zu Morden – an Genossenschaften zur Bewirtschaftung übergeben, um die landwirtschaftliche Produktion anzukurbeln. Das reichlich sprudelnde Erdöl hatte bereits in den 1950er Jahren zum Niedergang der Landwirtschaft geführt, weil es mit den Einnah­men aus dem Erdölexport billiger war, Lebensmittel einzuführen als selber anzubauen. Die­ser Missstand sollte überwunden werden. Diese Art von Neugründung des Staates gefiel der wirtschaftlichen und politischen Elite nicht, die gewohnt war, das Land zu ihrem Guns­ten zu regieren, aber nicht für den Großteil der Bevölkerung. Auch die USA waren gegen ein solches gesellschaftliches Experiment.

Millionen schützten ihren Präsidenten

Nachdem klar geworden war, dass Chávez – im Gegensatz zu anderen Präsidenten vor ihm – sich nicht kaufen und vor den Karren der besitzenden Klasse spannen ließ, sondern sei­ne Sozialprogramme konsequent umsetzte, wurde von den besitzenden Kreisen nichts unversucht gelassen, sich seiner zu entledigen. Deshalb gab es von Anfang an Widerstand gegen die bolivarische Revolution. Im Gegensatz zu Chile – wo zuerst versucht worden war, Allende durch wirtschaftliche Zermürbung zur Aufgabe seines Projektes zu zwingen und erst zu einem Militärputsch als letztem Mittel gegriffen wurde, als das nicht klappte und die breiten Volksschichten trotz der von den USA und ihren Verbündeten herbeigeführten wirtschaftlichen Schwierigkeiten zur Unidad Popular hielten – sollte Chávez gleich durch den Militärputsch am 11. April 2002 beseitigt werden, um sich vielleicht einen solchen lan­gen Weg wie in Chile zu ersparen. Doch die Millionen Bürger, die Chávez als politische Akteure zum Leben erweckt hatte und die hinter seiner Politik der sozialen und politischen Inklusion standen, gingen auf die Straße und ließen den Putsch scheitern. Am 13. April war der konterrevolutionäre Spuk vorbei, und Chávez saß wieder fest im Sattel. Danach ver­suchte man mit der dreimonatigen Stilllegung der Erdölindustrie um die Jahreswende 2002/2003, Chávez zu stürzen. Aber entgegen den Erwartungen der besitzenden Klasse standen die Massen treu zu Chávez, ließen sich nicht beirren durch Benzin- und Lebens­mittelknappheit. Es waren die einfachen Arbeiter und Ingenieure in der Erdölindustrie, die diese wieder in Gang brachten. Nunmehr wurde auf die in der neuen Verfassung veranker­te Möglichkeit einer Abwahl zurückgegriffen. Pikanterweise war diese Verfassung beim Putsch im April 2002 von den Putschisten als erstes sofort außer Kraft gesetzt worden. Aber auch dieser Versuch, den verhassten Chávez loszuwerden, scheiterte kläglich. Alle Wahlen danach endeten mit einem Sieg des Chávez-Lagers.

Das änderte sich erst 2015 nach Chávez’ Tod im März 2013, als die Opposition die Parla­mentswahlen gewann. Aber da wirkten schon die von den USA stetig verstärkten Sanktio­nen gegen Venezuela, die sich allmählich verheerend auf die Wirtschaft und damit auf die Lebenslage der Bevölkerung auswirkten. Auch die seit 2014 gefallenen Erdölpreise taten ihr Übriges. Eva Golinger, Rechtsanwältin aus den USA und Chávez-Unterstützerin sagt dazu: »Leider waren diejenigen, die Chávez als Zuständige hinterließ, nicht in der Lage, das Land erfolgreich durch diese schwierigen Zeiten zu lotsen. Eine Kombination aus Korrup­tion und Sabotage von außen durch die oppositionellen Kräfte (mit ausländischer Unter­stützung) lähmt die Wirtschaft. Missmanagement ist weit verbreitet und wirkt destruktiv. US-Dienste und ihre Verbündeten in Venezuela nutzten die Gunst der Stunde, um die ver­bliebenen Überreste des Chavismus weiter zu destabilisieren und zu zerstören.«

Auch die KP Venezuelas (PCV) stellte fest, dass sich der Staat etwa ab 2016 aus immer mehr Bereichen der Wirtschaft zurückgezogen und sie anderen wirtschaftlichen Akteuren und ihrer Profitlogik überlassen hat. Innerhalb des Regierungsapparates hätten Strömun­gen stark an Einfluss gewonnen, die der Ansicht waren, dass ein Überwinden der Krise und das Verbleiben an der Regierung nur durch Kompromisse mit Teilen der Bourgeoisie mög­lich sei. Der wirtschaftliche Liberalisierungsprozess in Venezuela habe schließlich zu einem neuen Status quo geführt, in dem Millionen Menschen von der Möglichkeit des Konsums ausgeschlossen werden, weil sie nicht die notwendigen Mittel haben. Die Hyperinflation wurde zwar besiegt, aber die Entwertung der Löhne nie gestoppt. Vielmehr hat sie sich noch verschärft. Der Mindestlohn lag zeitweise bei etwa einem Dollar – pro Monat! Davon kann niemand leben. Sozioökonomisch erinnere die aktuelle Situation an die 1990er Jahre, in der der Chavismus als politische Identität entstanden ist. Wenn dieses wirtschaftliche Anpassungsprogramm von einer rechten Regierung durchgesetzt worden wäre, dann wäre die chavistische Basis auf der Straße gewesen und hätte die Regierung als neoliberal beschimpft. Die soziale Ungleichheit ist in den letzten zehn Jahren exponentiell gewach­sen, obwohl die Bolivarische Revolution begonnen wurde, um die Armut und die Ungleich­heit zu bekämpfen. Wenn die Maßnahmen nicht darauf orientiert sind, die Ungleichheit zu reduzieren, was bleibt dann von ihr übrig?

Die chavistische Basis habe immer eine sehr kritische Beziehung zur Regierung Chávez gehabt, so die PCV weiter. Die Leute kritisierten die Regierung mit derselben Leidenschaft, mit der sie sie verteidigten. Der Unterschied ist, dass Chávez dies aktiv beförderte. Heute gibt es diese Form des Austauschs zwischen Regierung und Basis praktisch nicht mehr. Wenn die Regierung in der Lage ist, sich mit Teilen des Bürgertums, mit Unternehmerver­bänden zu verständigen, warum dann nicht auch mit ihren linken Kritikern, zum Beispiel der Kommunistischen Partei, statt sie auf verschiedenste Art und Weise auszuschalten?

Bereits 2011 habe die PCV auf dem 14. Kongress festgestellt, dass es sich beim Projekt der Bolivarischen Revolution um ein Projekt der nationalen Befreiung und eben nicht um einen sozialistischen Prozess handelt, und dass die kapitalistischen Produktionsverhältnis­se nicht angerührt werden. Es wurden lediglich ökonomische und soziale Reformen im Rahmen des Systems umgesetzt. Die Regierung unter Maduro implementierte ab 2018 schließlich ein neoliberales Krisenprogramm. Die Führungspersonen der PSUV spiegeln diese Interessen der Bourgeoisie wider.

Die bürgerliche Opposition äußert sich mit verhaltener Genugtuung: »Wir haben zwar nicht eine andere Regierung erreicht, aber die Art und Weise geändert, wie sie regiert.«

Dazu Eva Golinger: »Jetzt versuchen sie, das Erbe von Chávez zu beschmutzen und auszu­löschen, aber ich glaube, dass das ein unmögliches Unterfangen ist. Das Andenken an Chávez in Millionen Menschen, die er beeinflusst hat und deren Leben er verbessert hat, wird den Sturm überstehen. ›Chavismus‹ ist zu einer Weltanschauung geworden, die auf Prinzipien von sozialer Gerechtigkeit und menschlicher Würde basiert.«

Innenpolitisch kann 25 Jahre nach der Erstwahl Chávez’ zum Präsidenten bilanziert wer­den, dass das Venezuela von heute anders ist als das Venezuela unter Präsident Hugo Chávez. Die Veränderungen, die es seit seinem Tod gegeben hat, sind vielfältig und fast alle negativ. Von der bolivarischen Revolution und vom Chavismus ist aufgrund der US-Sanktionen gegen Venezuela und der von Maduro seit 2016 verfolgten Politik materiell nicht viel übriggeblieben, aber das Volk ist von der Erfahrung mit dem Chavismus geprägt – ca. 20 Prozent der Bevölkerung stehen fest zum Chavismus, der bei entsprechender Gelegenheit sicherlich aktiviert werden wird.

ALBA – UNASUR – CELAC

Auf außenpolitischer und internationaler Ebene fällt die Bilanz ganz anders, viel positiver aus, denn Chávez’ Wahl wird allgemein als Ende des neoliberalen Zyklus angesehen, der die 1990er Jahre beherrschte. In den darauf folgenden Jahren kamen in anderen la­teinamerikanischen Ländern Kräfte an die Regierung, die den politischen Ideen Chávez’ nahe standen, wodurch eine »rote Welle« ausgelöst wurde.

Zusammen mit Fidel Castro schuf er zur Überwindung der Abhängigkeit von den USA Orga­nisationen zur politischen und wirtschaftlichen Integration der lateinamerikanischen Län­der, die den reaktionären Stürmen der Zeiten widerstanden und überlebt haben.

Den Anfang machte die 2004 zwischen Venezuela und Kuba ins Leben gerufene »Bolivari­sche Alternative der Völker Unseres Amerika« (ALBA), die sich 2006 nach dem Beitritt Boli­viens den neuen Namen »Bolivarische Allianz der Völker Unseres Amerika – Handelsver­trag der Völker« (ALBA-TCP) zulegte. Von den herkömmlichen Integrationsprojekten unter­scheidet sie sich durch die Grundprinzipien Solidarität – Komplementarität – Humanismus. Die gegenseitige Unterstützung, d.h. die Nutzung der Vorteile eines jeden Landes, steht im Vordergrund, um gemeinsam stark zu sein durch eine ausgeglichene wirtschaftliche Ent­wicklung in jedem Land, gerade dort zu helfen, wo einer schwach ist, und nicht die Schwä­che des anderen zum eigenen Vorteil auszunutzen, nicht auf Kosten eines anderen besser zu leben.

Mit der Gründung der ALBA-Bank 2008 begann der Weg zur Befreiung von der Herrschaft der Weltbank und des IWF.

Mit der Einführung des Sucre 2010 als neue zwischenstaatliche Währungseinheit, die in einem ersten Schritt als Verrechnungseinheit, die – ähnlich dem ECU, dem Vorläufer des Euro – nur als Buchgeld existiert, im gemeinsamen Handel genutzt wird, sollte die wirt­schaftliche Integration der ALBA-Staaten vereinfacht und die Loslösung vom US-Dollar als internationale Leitwährung eingeleitet werden.

Durch ALBA-TCP wurde der von einigen Ländern gemeinschaftlich betriebene Fernsehsen­der teleSUR, der über Satellit abstrahlt, und Radio del Sur geschaffen. Diese Sendeanstal­ten verstehen sich als mediale Unterstützung für die Schaffung eines neuen multipolaren internationalen Informationssystems im Dienste der Völker auf der Grundlage der Prinzi­pien der Unabhängigkeit, Gleichheit, Selbstbestimmung und für das Durchbrechen der Vor­machtstellung der westlichen Nachrichtenmonopole.

Chávez hatte auch maßgeblichen Anteil an der zweiten historischen Großtat mit bedeuten­der internationaler Ausstrahlungskraft: Nach etlichen Jahren der Vorbereitung wurde 2008 die Union südamerikanischer Staaten (UNASUR) ins Leben gerufen, der alle 12 unabhängi­gen Staaten Südamerikas angehören. Im Mittelpunkt steht die Zusammenarbeit beim Kampf gegen Ungleichheit, soziale Ausgrenzung, Hunger, Armut und Unsicherheit, um die Demokratie, Souveränität und Unabhängigkeit der südamerikanischen Staaten zu stärken und Asymmetrien zu reduzieren, z.B. durch den Ausbau der verbindenden Infrastruktur zwischen den Ländern. Damit war UNASUR klar als Gegenkraft zur unter der Vorherrschaft der USA stehenden OAS konzipiert.

Im Streit hinsichtlich der Positionierung im Venezuela-Konflikt traten acht Mitglieder aus dem links geprägten Bündnis UNASUR aus und gründeten als Alternative im März 2019 das neoliberal geprägte Regionalbündnis Prosur.

Auf Initiative von Brasiliens Präsident Luis Inácio Lula da Silva im Mai 2023 wurde UNASUR reaktiviert. Besondere Aufmerksamkeit erhielt Lulas Aufruf, die südamerikani­schen Staaten sollten in ihren bilateralen Handelsbeziehungen von der Verwendung des US-Dollars wegkommen. Damit war Chávez’ Erbe gerettet.

Die dritte große Errungenschaft unter Chávez’ Mitwirkung war die Gründung der Gemein­schaft der lateinamerikanischen und karibischen Länder (CELAC), der alle 33 souveränen Staaten des amerikanischen Doppelkontinents angehören außer den USA und Kanada. Damit wird schon deutlich, dass auch diese Organisation als ein Gegenstück zu der von den USA dominierten Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) angelegt war. Die lateinamerikanischen und karibischen Länder wollten endlich selber Dinge ohne Einfluss der USA entscheiden, die ihre Länder betrafen. Auch dieser Staatenbund hat die Wirren der Jahre überstanden, als in einigen Ländern rechte Kräfte an die Regierung gelangten, die eine USA-genehme Politik vertraten. Besonders Mexikos Präsident Andrés Manuel López Obrador und sein argentinischer Amtskollege Alberto Fernández setzten sich für die Wiederbelebung der CELAC ein. Sie ist wieder aktiv geworden und pocht verstärkt auf Eigenständigkeit in der internationalen Politik, zumal zwei Länder (Brasilien, Argentinien ab 1.1.24) dem BRICS-Staatenbund angehören.

Eine spezielle Gründung von Chávez war PETROCARIBE, ein Abkommen vom Juni 2005 für Erdöllieferungen zum Vorzugspreis von Venezuela an einige Karibikstaaten. Auch Bezahlun­gen mit Waren oder Dienstleistungen (Tauschhandel) sind möglich. Kuba zum Beispiel ent­sandte als Gegenleistung tausende Ärzte und anderes medizinisches Personal, Lehrer, Sporttrainer und Regierungsberater. Zu den mittelfristigen Zielen gehört die gemeinsame Erschließung, Förderung und Verarbeitung von Erdöl und Erdgas durch die Mitgliedsstaa­ten. Es soll ein Netz erdölindustrieller Anlagen geschaffen werden, durch das die Versor­gung der Staaten der Region mit Derivaten nachhaltig gewährleistet werden soll.

Bewahrtes Vermächtnis

Die Existenz dieser Organisationen und ihre Zielstellungen sind in großem Maße ein Ver­dienst von Hugo Chávez. Wie weitsichtig er dabei handelte, wird daran deutlich, dass die BRICS-Staaten und die Gruppe 77+China sowie die chinesische Belt-and-Road-Initiative genau diese Zielsetzungen übernommen haben, für die Hugo Chávez eingetreten war: der Kampf gegen Armut und den Klimawandel, für die Reformierung der internationalen Finanzarchitektur, Schaffung einer neuen Weltwirtschaftsordnung und bessere Verbindun­gen zwischen den Ländern des Globalen Südens, die Lösung der Schuldenfrage, die Loslö­sung vom US-Dollar und die Herausbildung einer multipolaren Weltordnung. Damit bleibt Chávez’ Vermächtnis bewahrt, hinterlässt er unauslöschliche Spuren.

Angemerkt sei schließlich noch, dass viele Venezolaner daran glauben, dass Chávez ermor­det wurde. Dafür gibt es hinreichend Indizien, so die Rolle mehrerer Personen aus Chávez’ engstem persönlichen Sicherheitsdienst wie Oberstleutnant Leamsy Salazar, Hauptmann Adrián Velásquez und dessen Ehefrau Claudia Patricia Díaz Guillén, die mehrere Jahre Chá­vez’ persönliche Krankenschwester war, Medikamente, Spritzen und andere Dinge der Ge­sundheits- und Ernährungsversorgung für Chávez verwaltete und privaten, unbeaufsichtigten Zugang zu ihm hatte. Gemäß freigegebener geheimer US-Dokumente ist bekannt, dass die US-Armee schon seit 1948 an einer Waffe zur Injektion von radioaktivem Material für politi­sche Morde an ausgewählten Feinden gearbeitet hat und dass es eine von der CIA ent­wickelte Mordwaffe zur Erzeugung von Herzinfarkt und Weichteilkrebs gab. Chávez starb an einem aggressiven Weichteilsarkom. Als das entdeckt wurde, war es bereits zu spät. Ge­meinsam ist diesen genannten Personen, dass sie nach Chávez’ Tod in die USA übersiedel­ten und dort in das Zeugenschutzprogramm aufgenommen wurden bzw. über Vermögen ver­fügen, die diese Personen nicht mit legitimen Mitteln zusammengerafft haben können (Eva Golinger in: Der seltsame Tod von Hugo Chávez, www.amerika21.de, 27. Juni 2016). 

 

Mehr von Gerhard Mertschenk in den »Mitteilungen«: 

2023-08: Vom Hinterhof zum Vorgarten – 200 Jahre Monroe-Doktrin

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