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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Eine unendliche Geschichte von Demütigung und Drangsalierung

Dr. Dietmar Bartsch, MdB, Berlin

 

Vor 20 Jahren trat Hartz IV in Kraft

 

Am 1. Januar 2005 wurde in der Bundesrepublik Deutschland das Arbeitslosengeld II eingeführt. Es führte die frühere Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe im Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zusammen und war Artikel 1 des »Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«. So weit, so bürokratisch, so beschöni­gend. Traurige Berühmtheit erlangte das Ganze unter dem Begriff Hartz IV. Ein System der Ausgrenzung und Erniedrigung, der Gängelung und Abstrafung mehrerer Millionen Menschen in sozialer Not.

Am Beginn stand 2003 eine Regierungserklärung des damaligen Bundeskanzlers Ger­hard Schröder, mit der er sein Konzept zur »Reform des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarktes«, die »Agenda 2010«, vorstellte. Schröders Ankündigung lautete: »Wir werden Leistungen des Staates kürzen, Eigenverantwortung fördern und mehr Eigen­leistung von jedem Einzelnen abfordern«. Praktisch hieß das unter anderem: Lockerung des Kündigungsschutzes, Deregulierung der Zeitarbeit, Beschränkung der Zahlung von Arbeitslosengeld auf 12 Monate (davor bis 32 Monate), Erhöhung der Sozialabgaben der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Verschärfung der Regeln für die Zumutbarkeit von Arbeitsplätzen, Einführung einer Praxisgebühr für Arztbesuche. Zu den Folgen zählten eine sinkende Tarifbindung, die massive Ausweitung der Leih- und Zeitarbeit, die Entste­hung des größten Niedriglohnsektors in Europa, wachsende Einkommensungleichheit, steigendes Renteneintrittsalter und zunehmende Alters- und Kinderarmut. Auch das lie­ße sich fortsetzen. Aus der Reform des Arbeitsmarktes wurde eine Armutsfalle. Kanzler Schröder hatte seiner Regierungserklärung die Überschrift gegeben: »Mut zum Frieden und Mut zur Veränderung«. Gesine Lötzsch, damals neben Petra Pau einzige PDS-Abge­ordnete im Parlament, entgegnete: »Es gehört kein Mut dazu, die Schwächsten in der Gesellschaft unter Druck zu setzen. Ich finde, Sie sollten endlich den Mut haben, sich mit den Mächtigen in dieser Gesellschaft auseinanderzusetzen.« Schröders sogenann­ter Agenda 2010 lagen Ausarbeitungen einer Kommission unter Vorsitz des ehemaligen VW-Personalvorstandes Peter Hartz zugrunde. Selbst der zeigte sich Jahre später ent­täuscht von der Umsetzung seiner Ideen und Vorschläge und resümierte: »Herausge­kommen ist ein System, in dem die Arbeitslosen diszipliniert und bestraft werden.«

Armut per Gesetz

Hartz IV stieß auf breite gesellschaftliche Kritik. Tausende gingen zum Protest dagegen bei Montagsdemonstrationen auf die Straße. Die Partei des Demokratischen Sozialis­mus hatte ein einprägsames Motto geprägt: »Hartz IV ist Armut per Gesetz.« Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II bedeutet für mehr als die Hälfte der Betroffenen Einkommenseinbußen. Die Armutsquote der Leis­tungsempfänger erhöhte sich von gut der Hälfte auf zwei Drittel. Hartz IV war auch ein Synonym für Entwürdigung. So mussten Empfängerinnen und Empfänger von ALG II in vollem Umfang ihre Vermögensverhältnisse offenlegen, einschließlich der Rücklagen für die Altersvorsorge und der Sparbücher ihrer Kinder. Das Ganze war mit einem Geflecht von Zumutungen und Bestrafungen verbunden. Auch innerhalb der SPD regte sich mehr und mehr Widerstand. Zahlreiche Mitglieder verließen wegen dieses sozialen Kahl­schlags die Partei, einige gründeten eine neue Partei »Arbeit & soziale Gerechtigkeit – Die Wahlalternative« (WASG), die sich dann mit der PDS zur Partei »DIE LINKE« zusam­menschloss. Ottmar Schreiner, ein Linker in der SPD, sah wohl nicht zu Unrecht in Hartz IV die »Geburtsurkunde der Linkspartei«.

Mit Hartz IV wurden die staatlichen Leistungen faktisch auf das Niveau der bisherigen Sozialhilfe gesetzt. Ermittelt wurden sogenannte Regelsätze anhand statistisch erfass­ter Daten von rund 60.000 Haushalten. Der Regelsatz umfasste angeblich die Kosten für Bedarfe des täglichen Lebens, vor allem für Ernährung, Kleidung, Hausrat und Strom. Minimale Beträge waren für Freizeit, Unterhaltung, Kultur und Verkehr vorgese­hen. Die Regelsätze betrugen zum Beispiel im Jahr 2010 pro Person 359 € für Alleinste­hende (der sogenannte Eckregelsatz), 323 € für Paare, 287 € für Kinder ab 14 Jahren, 251 € für Kinder von sieben bis 14 Jahren, sowie 215 € für Kinder unter sieben Jahren. Damals waren 6,7 Millionen Menschen in Deutschland auf das Arbeitslosengeld II ange­wiesen! Wiederholt befasste sich das Bundesverfassungsgericht mit dieser Problematik und verkündete vor 15 Jahren, am 9. Februar 2010, in einem Grundsatzurteil die Hartz IV-Regelsätze für verfassungswidrig. Jeder Mensch habe ein Grundrecht auf Gewährleis­tung eines menschenwürdigen Existenzminimums, so das Gericht mit Verweis auf die Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes, die besagen, dass die Würde des Menschen unan­tastbar und die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Bundes­staat ist. Deshalb sei es die Aufgabe des Staates, jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu gewährleisten, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Die Hartz-IV-Regelsätze für Erwachsene und Kinder seien nicht kor­rekt ermittelt worden und verstießen gegen das Grundgesetz, so das Gericht. Die Karls­ruher Richter bemängelten weiter, dass kein spezifischer Bedarf für Kinder ermittelt wurde. Die Festsetzung des Sozialgelds für Kinder auf 60 Prozent der Beträge für Erwachsene beruhe auf keiner vertretbaren Methode zur Bestimmung eines menschen­würdigen Existenzminimums. Für Kinder sei auch eine Härte-Klausel für besondere Not­wendigkeiten erforderlich, etwa für Kleidung in Übergröße oder Klassenfahrten.

Immer neue Tricks

In einer Bundestagsdebatte zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts stellte Links­fraktionschef Gregor Gysi fest: »Das Bundesverfassungsgericht hat über SPD und Grü­ne, aber auch über Union und FDP (inzwischen Regierungsparteien, D.B.) ein vernich­tendes Urteil gefällt.« Die Linke forderte die Abschaffung von Hartz IV und die Einfüh­rung einer »bedarfsgerechten und sanktionsfreien Mindestsicherung, die Armut verhin­dert.« Höchst befremdlich und wie Hohn auf das Gerichtsurteil hingegen die Worte der damaligen Bundesarbeitsministerin, Ursula von der Leyen (CDU): »Die Bundesregierung steht für den verlässlichen und lebendigen Sozialstaat. Es ist ein Gütesiegel der sozialen Marktwirtschaft, dass wir Menschen nicht aufgeben, sondern denen, die in eine Notlage geraten, Perspektiven geben.«

Wie vom Verfassungsgericht gefordert, legte die Bundesregierung Ende 2010 eine Neu­regelung der Regelsätze vor. Wieder wurde getrickst, indem z.B. für die statistische Ermittlung des Regelverbrauchs nun nicht mehr die unteren 20 Prozent der Einkom­men, sondern nur die unteren 15 Prozent einbezogen wurden. Die Neuregelung der Regelsätze trat schließlich rückwirkend zum 1. Januar 2011 in Kraft. Der Eckregelsatz lag jetzt bei 364 Euro, eine »Erhöhung« um sage und schreibe 5 Euro!

2019 musste sich das Bundesverfassungsgericht ein weiteres Mal mit Hartz IV beschäftigen. Nun waren die Sanktionen, die gegenüber Arbeitslosengeld II-Empfän­gern verhängt werden konnten, Gegenstand der Verhandlung. Lehnten diese einen ver­meintlich zumutbaren Job ab oder brachen eine Ausbildungsmaßnahme ab, wurden drei Monate lang zwingend 30 Prozent des Regelsatzes gekürzt. Nach einem Sanktions-Stu­fensystem konnte es letztlich bis zu einer Kürzung von 100 Prozent kommen, dann wur­den auch die Gelder für Wohnen und Heizen und der Zuschuss zur Krankenversicherung nicht mehr gezahlt. Kürzungen von mehr als 30 Prozent erklärte das höchste deutsche Gericht für verfassungswidrig, da dann das vom Grundgesetz geschützte Existenzmini­mum nicht gewährleistet ist.

Hartz IV in neuem Gewand

Die SPD bemühte sich fortan, nicht mehr mit den Hartz-Gesetzen in Verbindung gebracht zu werden. Allen voran Olaf Scholz, der sie einst als SPD-Generalsekretär und Bundesfinanzminister vehement verteidigte. Vor allem der Begriff »Hartz IV« sollte getilgt werden. Per 1. Januar 2023 wurde aus Hartz IV das Bürgergeld. Die Sozialdemo­kraten besannen sich eines Kult gewordenen Werbespruchs: »Raider heißt jetzt Twix – sonst ändert sich nix«. Zugegeben, das ist etwas übertrieben. Für Menschen im Sozial­leistungsbezug bringt das Bürgergeld gewisse Erleichterungen. Sie müssen nicht mehr zwingend irgendeine Arbeit annehmen, Bildung und Weiterbildung erhalten einen etwas höheren Stellenwert, die Freibeträge sind erhöht. Der von den Ampelparteien SPD, Grü­ne und FDP versprochene Systemwechsel bleibt allerdings aus. Ein Regelsatz in der Grundsicherung von 563 Euro reicht angesichts von Inflation und ständig steigenden Lebenshaltungskosten absolut nicht aus und ist mitnichten armutsfest. Das Sanktions­system wurde zwar abgeschwächt, aber nicht abgeschafft. Doch selbst geringe Verbes­serungen gehen CDU/CSU und FDP zu weit, die eine regelrechte Kampagne gegen ver­meintlich »Arbeitsscheue« in Gang setzen und ungeachtet aller Gerichtsurteile weiter für rigide Sanktionen eintreten. Auch ein anderes Grundübel bleibt bestehen: Mehr als die Hälfte der erwerbsfähigen Bezieher der Grundsicherung sind prekär beschäftigt und müssen ihren geringen Lohn aufstocken. Die Linke will einen starken, demokratischen Sozialstaat, der alle Menschen wirksam gegen die Lebensrisiken von Krankheit, Unfall, Alter, Pflegebedürftigkeit und Erwerbslosigkeit schützt. Dazu gehört unseres Erachtens auch eine sanktionsfreie Mindestsicherung in Höhe von 1.200 Euro.

 

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