Ein unerhörter Skandal!
Kurt Gutmann, Berlin
"Die Gedenkstätte im ehemaligen deutschen Vernichtungslager Sobibor im Osten Polens ist wegen Geldmangels für Besucher bis auf weiteres geschlossen worden", meldete das ND am 3. Juni 2011. "Ja, das Museum mußte dicht machen", sagte der Sprecher der Gedenkstätte, Marek Bem, der Nachrichtenagentur dpa. "Wir haben das Gelände verlassen. Ohne das Geld kann die Einrichtung nicht funktionieren." Auch Führungen und andere Aktivitäten wurden eingestellt. Die Gedenkstätte braucht der Zeitung Rzeczpospolita zufolge für ihre Tätigkeit eine Million Zloty (250.000 Euro) jährlich. Die Gedenkstätte wurde jährlich von 20.000 Menschen besucht.
In Sobibor hatten die Faschisten von Mai 1942 bis Oktober 1943 etwa 250.000 Juden aus Polen, den Niederlanden, Tschechien, Deutschland und anderen Ländern Europas in den Gaskammern ermordet. Am 14. Oktober 1943 fand dort ein Aufstand unter Führung von Alexander Peczerrski und Leon Feldhendler statt. Sascha Peczerrski war ein sowjetischer Offizier jüdischer Herkunft. Etwa der Hälfte der Sobibor-Häftlinge, über 300 Menschen, gelang die Flucht. Über diese schier unglaubliche Geschichte gibt es einen – nach Augenzeugenberichten gedrehten – authentischen US-amerikanischen, in Deutschland kaum bekannten Spielfilm.
Zurück zur Schließung der Gedenkstätte. Das ist ein kaum zu beschreibender politischer und gleichermaßen moralischer Skandal. Doch außer einer kurzen Meldung im ND war darüber kaum etwas zu lesen oder im Fernsehen zu sehen. Das bewegt mich auch persönlich äußerst schmerzhaft.
Ende Juni 1939 schickte mich meine Mutter mit einem der letzten Kindertransporte nach Schottland. Knapp drei Monate später begann der II. Weltkrieg. Mit siebzehneinhalb konnte man in Großbritannien Soldat werden. An jenem Tag, da ich dieses Alter erreicht hatte, meldete ich mich freiwillig zum Schottischen Hochlandregiment. Ich diente bis 1948 in der britischen Armee. Meine Hoffnungen, daß meine in Deutschland verbliebene Familie vielleicht doch überlebt, verbanden sich maßgeblich mit dem Kampf der Sowjetunion gegen den Faschismus. Im November 1945, ich hatte in Schottland Kontakte zu Kommunisten, wurde ich Mitglied der KPD.
Meine Mutter und meinen ältesten Bruder sah ich nie wieder. 2005 fuhr ich im Zug mit meiner Enkelin Tanja nach Polen, auf dem Weg, auf dem meine Mutter und Hans 1942 in den Tod deportiert wurden. Meine Nachforschungen haben ergeben, daß ihre Namen auf der Transportliste von Mühlheim nach Izbica vermerkt sind. Izbica war eine kleine polnische Ghetto-Stadt. Von dort wurden sie dann Ende April 1943 zur Vergasung in das Vernichtungslager Sobibor gebracht. Es bleibt die Unabänderlichkeit, daß ihre Spuren hier enden. Nach dem einzigen erfolgreichen Aufstand in einem Vernichtungslager machten die Nazis das Gelände von Sobibor dem Erdboden gleich und ließen dort Bäume pflanzen. Jetzt ist da die Allee der Erinnerung. Sie führt von der Rampe dorthin, wo sich die Gaskammern befanden. Eine Gedenkplakette auf einem Feldstein dieser Allee trägt die eingemeißelten Namen meiner Lieben. Eine Tanne, gepflanzt von meinem Sohn, steht daneben. Es sind viele solcher Feldsteine und Tannen dort. Die Arbeit von jungen Deutschen. So können die Ermordeten den Menschen im Gedächtnis bleiben und ich habe meiner Mutter und Hans eine Grabstelle gegeben – trotz alledem.
Jedes Jahr kommen neue Steine der Erinnerung hinzu, verlängert sich die Allee gegen das Vergessen. Die Nazis wollten die Zeugnisse ihrer Untaten unkenntlich machen. Aber die Überlebenden des Aufstandes kannten den Weg, der von der Bahnrampe direkt in die Gaskammern führte. Mit jedem, der herkommt, eine Blume oder einen Stein niederlegt, im Museum die Geschichten nachliest, erfahren die Ermordeten die Achtung, die man ihnen verwehrte, als man ihnen das Kostbarste raubte, was uns Menschen gegeben ist: Das Leben. Nun ist das Museum geschlossen, wegen einer viertel Million fehlender Euro. Für jeden Ermordeten eine Euromünze! Auch das gehört zu dem vergifteten Klima, bei weitem nicht nur hierzulande, in dem Faschisten wieder ihr Haupt heben, auf den Straßen grölen, in Parlamenten pöbeln, Linke und Ausländer jagen und in alten Nazis ihre Vorbilder sehen. Daran änderte auch ein groß aufgemachter Prozeß gegen Demjanjuk nichts, an dem ich als Nebenkläger teilnahm. Das Unfaßbare, daß Nazis wieder europaweit agieren, ist Realität, weil – wie Brecht sagte – der Schoß noch fruchtbar ist, aus dem das kroch. Der Schoß, das sind kapitalistische Verhältnisse, die nicht zwangsläufig Faschismus erzeugen müssen, aber es jederzeit könnten, würden zivile Formen der Kapitalherrschaft die Profitmaximierung nicht mehr zu Genüge absichern.
Weil ich das weiß, bin ich Antifaschist und – als Mitglied der LINKEN – Kommunist. Und als ein der Kommunistischen Plattform zugehöriger Genosse begrüße ich die Initiative der KPF, den Film "Flucht aus Sobibor" am 20. Juli 2011 um 19.00 Uhr im Karl-Liebknecht-Haus zu zeigen. Genosse Dr. Friedrich Wolff, Ellen Brombacher und ich haben uns an die Bundestagsfraktion der LINKEN mit der Bitte gewandt, die Bundesregierung aufzufordern, Kontakt mit der polnischen Regierung aufzunehmen, um die Finanzierung der Sobibor-Gedenkstätte gemeinsam zu gewährleisten.
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