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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Ein sozialistisches Patriarchat

Dr. Ursula Schröter, Berlin

 

… konnte es nach dem Gesellschaftskonzept, das dem Sozialismus des 20. Jahrhunderts zugrunde lag, nicht geben.

Mit Bezug auf die Kapitalismuskritik von Karl Marx wurde der Klassenwiderspruch als der alles dominierende gesellschaftliche Widerspruch gesehen. Der Blick voraus war auf die klassenlose Gesellschaft gerichtet. Der Blick zurück sah Geschichte vor allem als Geschichte von Klassenkämpfen. Der Kalte Krieg mit seinen klaren Feindbildern, der die DDR von Anfang bis Ende begleitete, bestätigte die Bedeutsamkeit der Klassenfrage. Was den Geschlechterwiderspruch betrifft, hatte Friedrich Engels mit Bezug auf die Matriarchatsforschung des 19. Jahrhunderts (Bachofen, Morgan) einen engen Zusammenhang zum Klassenwiderspruch festgestellt. In seinem Werk »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates« führte er aus, dass die erste Klassenunterdrückung mit der ersten Unterdrückung des weiblichen Geschlechts durch das männliche zusammenfiel (Engels 1970 [1]: 205). Klassenherrschaft und Männerherrschaft – so die zentrale These – lassen sich auf dieselbe historische Situation, auf die Entstehung des Privateigentums an Produktionsmitteln zurückführen. Folgerichtig geht August Bebel in seinem berühmten Buch »Die Frau und der Sozialismus« davon aus, dass mit dem Ende der Klassenherrschaft - mit der Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln - auch die Herrschaft des Mannes über die Frau endet (Bebel [2] 1954: 575).

Allerdings hatten »die Klassiker« unterschiedliche Vorstellungen davon, wie die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln (die »Enteignung der Enteigner«, die in der SBZ bekanntlich 1946 und später stattfand) zum Ende der Männerherrschaft führen sollte. Bebel und Lenin setzten ausschließlich auf weibliche Berufsarbeit und die dafür erforderliche Qualifizierung. Auch Hausarbeit sollte vergesellschaftet werden. Clara Zetkin (deren Gedanken in der DDR nur partiell veröffentlicht wurden) stellte darüber hinaus Qualifizierung für die Privatheit und auch männliche Hausarbeit in Aussicht. Alexandra M. Kollontai (deren Gedanken in der DDR bis in die 1980er Jahre hinein kaum veröffentlicht wurden) brachte das Ende der Männerherrschaft nicht nur mit Veränderungen im Arbeitsprozess in Zusammenhang, sondern plädierte auch für eine Neugestaltung der Liebesbeziehungen. Sie kam damit den ursprünglichen Ideen der utopischen Sozialisten (Charles Fourier, Robert Owen) – Sozialismus heißt selbstbestimmt arbeiten und selbstbestimmt lieben – am nächsten.

Zahlreiche aktuellere Studien zur Entstehung des Patriarchats

Heute wissen wir, dass die Engelssche These von der »weltgeschichtlichen Niederlage des weiblichen Geschlechts« im Zusammenhang mit der Entstehung von Klassen seit vielen Jahren infrage gestellt ist. Hier ist zum Beispiel an weltweit vernetzte Gruppen von Feministinnen zu erinnern, die die Meinung vertreten, dass matriarchale, lebenserhaltende Verhaltensweisen von Anfang an die Menschheitsentwicklung geprägt haben, dass solche Verhaltensweisen bis heute wirksam sind und vor allem nach politischen Katastrophen dafür sorgen, dass das Leben weitergeht. Die antifaschistischen Frauenausschüsse, die sich seit Frühjahr 1945 in allen vier Besatzungszonen Deutschlands gegründet hatten, gelten als beredtes Beispiel für solche matriarchale Verhaltensmuster. Eine »weltgeschichtliche Niederlage« gab es nach dieser Auffassung nie.

Andere Forschungsrichtungen zweifeln aus anderen Gründen an der »weltgeschichtlichen Niederlage«, weil sie nämlich keine Belege dafür finden, dass es in der Menschheitsgeschichte ein Matriarchat im Sinne der Engelsschen »Weiberherrschaft« gegeben hätte. »Es ist keine einzige Gesellschaft bekannt, in der Frauen als Gruppe eine Entscheidungsgewalt über Männer hatten oder in der sie die Regeln des Sexualverhaltens bestimmten …« (Lerner 1991 [3]: 51). Vielmehr hätte es über Jahrtausende (oder gar Jahrmillionen?) hinweg in den Stämmen von Jägern und Sammlern egalitäre Gesellschaften gegeben, die von einer gegenseitigen wirtschaftlichen Abhängigkeit geprägt waren. Folglich interessiert, wie aus egalitären Gesellschaften patriarchale wurden.

Vor allem seit den 1970er Jahren liegt zu diesem Thema eine beeindruckende Menge von anthropologischen, ethnographischen, psychoanalytischen, soziologischen, historischen … Studien vor. Die amerikanisch-österreichische Historikerin Gerda Lerner (1920 – 2013) hat für ihre in den 1980er Jahren veröffentlichte Publikation »Die Entstehung des Patriarchats« solche Studien ausgewertet, sich außerdem auf die Religionsgeschichte und auf andere kulturelle Spuren (Homer) bezogen und eigene Forschungen über das alte Mesopotamien angestellt. Ihr Fazit: »Das System des Patriarchats ist ein historisches Konstrukt. Es hat einen Anfang, und es wird ein Ende haben. Seine Zeit scheint zur Neige zu gehen, denn es dient nicht länger den Bedürfnissen von Männern und Frauen. Und seine unauflösliche Verstrickung mit Militarismus, hierarchischer Struktur und Rassismus ist eine unmittelbare Bedrohung für den Fortbestand des Lebens auf unserem Planeten.« (Lerner 1991: 283)

Lerner (sie war Anfang der 1950er Jahre der Kommunistenverfolgung in den USA ausgesetzt) beschäftigte sich gründlich mit der Engelsschen Schrift bzw. mit den ethnographischen Befunden von Morgan und Bachofen, auf die Engels seine Argumentationen stützte. Vor allem mit Bezug auf Levi-Strauss (1969) [4] und Meillassoux (1972) [5] vertritt sie die Auffassung, dass der so genannte Frauentausch, insofern die Kontrolle und Nutzbarmachung der weiblichen Sexualität, letztlich der Gebärfähigkeit, schließlich zu Gesellschaften führte, die im Zusammenhang mit anderen Einflussfaktoren Männerherrschaft hervorbringen konnte. »Es sei darauf hingewiesen, dass nach Meillassoux‘ Modell die Kontrolle der Fruchtbarkeit der Frau (ihrer Sexualität) der Inbesitznahme von Eigentum vorangeht. So stellt Meillassoux Engels auf die Füße.« (Lerner 1991: 75). Ausgangspunkt für den Frauentausch – hier stützt sich Lerner auch auf Darlington (1969) [6] – sei das instinktive Bestreben gewesen, die Bevölkerungsgröße in einem bestimmten Lebensraum optimal zu erhalten, auf diese Weise die Gruppe zu stabilisieren; ein Bestreben, das es im Tierreich nicht gibt. Das hätte einerseits zu Abtreibungen und (auch rituellen) Kindstötungen geführt, andererseits zum »Importieren« von Frauen. Die sexuelle und reproduktive Fähigkeit der Frauen sei verdinglicht worden. Das alles hätte in einem langen Zeitraum zwischen Jäger/Sammlerzeit und Sklavenzeit (die zunächst nur Sklavinnenzeit war) stattgefunden. 

Lerner wendet sich ausdrücklich gegen Auffassungen, die behaupten, dass Frauen als Ganzes verdinglicht, also einflusslos gemacht wurden. Vielmehr hätten Frauen und Männer in einem fast 2500 Jahre währenden Prozess das Patriarchat gemeinsam geschaffen und seitdem – unter sehr unterschiedlichen Bedingungen – gemeinsam erhalten. Heute seien sie aufgefordert, es gemeinsam zu beseitigen (Lerner 1991: 263 ff.). 

Das heißt:

»Die ethnografischen Informationen, auf die Engels seine Verallgemeinerungen stützte, haben sich als unzutreffend erwiesen« (ebd: 41). Das Patriarchat ist nicht zeitgleich mit, sondern lange vor der Klassengesellschaft entstanden. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass mit dem Ende der Klassenherrschaft, mit der Schaffung von Gemeineigentum an Produktionsmitteln, auch die Herrschaft des Mannes über die Frau endet. Ein sozialistisches Patriarchat ist nicht nur denkbar, sondern inzwischen im Rückblick analysierbar.

Für mich sind diese neuen Erkenntnisse (neu im Vergleich zu meiner philosophischen Grundausbildung in der DDR) gute Botschaften, weil sie erklären, was vorher nicht erklärbar schien, etwa:

  • dass im Politbüro des ZK der SED in den 40 DDR-Jahren keine Frau Mitglied war. Elli Schmidt war über 3 Jahre, Edith Baumann und Luise Ermisch über je 5 Jahre, Inge Lange über 16 Jahre und Margarete Müller über 26 Jahre »Kandidatin des Politbüros«, das hieß, auf höchster Ebene zwar zuhör-, aber nicht stimmberechtigt zu sein.
  • dass Frauen im letzten DDR-Jahr zwar 49 Prozent aller Berufstätigen ausmachten, aber im Gesundheitswesen 83, im Bildungswesen 77, im Handel 72 und im Post- und Fernmeldewesen 69 Prozent (Die Frau …1989 [7]: 62). Und das waren auch in der DDR die schlechter bezahlten Bereiche.
  • dass DDR-Männer die Weiterbildungsbedürfnisse ihrer Frauen eher hemmend als fördernd begleiteten. Mit Blick auf die DDR stand im Spiegel 34/69 vom 18. August 1969: »Die beruflich erfolgreichen Ehepartnerinnen provozieren bei ihren Männern Minderwertigkeitskomplexe«. Einige Monate zuvor war in der DDR die Broschüre »Frau und Wissenschaft« erschienen, in der es heißt: »Soziologische Untersuchungen zeigen, dass bei gleicher Qualifikation männliche Mitarbeiter eher in verantwortliche Positionen befördert werden als Frauen und Mädchen. Zum anderen gibt es auch bei den Frauen ideologische Vorbehalte. Aus Rücksicht auf den Ehepartner scheut sich die eine oder andere Frau, eine größere Verantwortung, eine höhere gesellschaftliche Position einzunehmen als ihr Mann« (Kallabis 1968 [8]: 39).  
  • dass unbezahlte Hausarbeit trotz jahrelanger Agitation, trotz öffentlicher Dienstleistungen, trotz Haushalt-Technik, trotz (wegen?) sozialpolitischer Maßnahmen bis zum DDR-Ende zu etwa 70 Prozent Frauensache blieb (Schröter/Ullrich [9], 2004).

Wer 30 Jahre nach dem Ende der DDR auch die gegenwärtige Gesellschaft nicht für zukunftsfähig hält, wer über ein neues Gesellschaftsprojekt nachdenkt, muss berücksichtigen, dass der Geschlechterwiderspruch ein stabiler klassenübergreifender, »rassen«übergreifender, generationenübergreifender Widerspruch ist, der wissenschaftlich und politisch ernstgenommen werden muss.                                                                                                                                                           

Juli 2020

 

Anmerkungen:

[1]  Engels, Friedrich, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Im Anschluss an Lewis H. Morgans Forschungen (1884), in: Karl Marx, Friedrich Engels, Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Band II, Dietz Verlag Berlin 1970, S. 155-301.

[2]  Bebel, August, 1954, Die Frau und der Sozialismus (1879), Dietz Verlag Berlin.

[3]  Lerner, Gerda, 1991, Die Entstehung des Patriarchats. Aus dem Englischen von Walmot Möller-Falkenberg, Campus Verlag Frankfurt/New York (im Original 1986).

[4]  Levi-Strauss, Claude, 1969, The Elementary Structures of Kinship, Boston.

[5]  Meillassoux, Claude, 1972, From Reproduction to Production, A Marxist Approach to Economic Anthropology, in: Economy and Society, No. 1. S. 93-105.

[6]  Darlington, C. D., The Evolution of Man and Society, New York 1969.

[7]  Die Frau in der Deutschen Demokratischen Republik, Statistische Kennziffernsammlung 4.9/229/89, Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik, Staatliche Zentralverwaltung für Statistik, Abteilung Berichtswesen Arbeitskräfte/Bildung, Berlin 1989.

[8]  Kallabis, Heinz, 1968, Es gibt keine besondere Frauenfrage, In: Frau und Wissenschaft. Referate und ausgewählte Beiträge, herausgegeben von der Forschungsgruppe des Wissenschaftlichen Beirates »Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft« bei der DAdW zu Berlin durch Prof. Dr. Anita Grandke, Akademie-Verlag Berlin 1968, S. 38-40.

[9]  Schröter, Ursula/Ullrich, Renate, 2005, Patriarchat im Sozialismus? Nachträgliche Entdeckungen in Forschungsergebnissen aus der DDR. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Texte 24, Karl Dietz Verlag Berlin.

 

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