Ein sittenwidriger Vergleich
Dr. Ilja Seifert, Berlin
Werner W. ist eine Institution. Ein Drehorgelspieler. In Berlin würde man ihn Leierkastenmann nennen. Ein Original. Seine Wirkungsorte sind hauptsächlich Köln und Aachen. Dort kennt man ihn seit Jahrzehnten. Er kurbelt und kurbelt, lüftet seinen Hut zum Dank, wenn eine Münze klimpert und verstrahlt gute Laune in der Fußgängerzone.
Kaum jemand weiß, daß auch Werner W. ein Opfer ist. Opfer eines Medikaments. Ein Contergan-Opfer. Vor allem aber auch Opfer eines allgemeinen Versagens menschlichen Anstands. Opfer eines »Vergleichs«, den man nur als sittenwidrig bezeichnen kann.
Ende der 50er und zu Beginn der 60er Jahre kamen in westdeutschen Geburtskliniken unverhältnismäßig viele Babys ohne Arme oder Beine zur Welt. Es dauerte nicht lange, bis das Schlaf- und Beruhigungsmittel »Contergan« in Verdacht geriet, Ursache dafür zu sein. Es war vom 1. Oktober 1957 bis zum 27. November 1961 auf dem Markt. Der darin enthaltene Wirkstoff Thalidomid, war in der Nazizeit entwickelt worden. Produziert und vertrieben von der Firma Grünenthal. Beworben speziell als Schlafmittel für schwangere Frauen. Zunächst frei verkäuflich, ab 1. August 1961 rezeptpflichtig.
Unheilige Allianz von Versagern
Werner W.s Mutter nahm diese Pille ein. Auch sie war also ein Opfer dieses nicht hinreichend gründlich geprüften, dafür aber umso aggressiver beworbenen Stoffs. Viele junge Frauen stürzte die Geburt ihres behinderten Kindes in tiefe psychische Krisen. Etliche Ehen zerbrachen daran. Den bleibenden körperlichen Schaden hat der Sohn. Für Werner W. ist sein Handicap das normale Leben. Er empfindet es nicht als immerwährendes Leiden. Nein. Er lebt es. So, wie viele andere, deren Behinderung viel augenscheinlicher ist, auch.
Aber ihnen wird mit zunehmendem Alter immer bewußter, wie groß das Versagen öffentlicher Institutionen seinerzeit war. Und wie zögerlich dieses Versagen bis heute zugegeben wird. Es handelt sich um eine sehr unheilige Allianz von Firma, Politik und Justiz.
Als bereits über 10.000 »Fehlgeburten« mit der Einnahme von »Contergan« in Verbindung gebracht waren, mußte der Vertrieb eingestellt werden. Aber ein eindeutiges Schuldbekenntnis gab es nie. Stattdessen folgte ein – politisch protegiertes – juristisches Trauerspiel. Es zog sich über ein Jahrzehnt hin. Am 18. Januar 1968 wurde das Hauptverfahren eröffnet. Am 18. Dezember 1970 wurde das Strafverfahren – wegen geringfügiger Schuld der Angeklagten und mangelndem öffentlichen Interesses – eingestellt. Diesem unglaublichen Affront gegen die contergangeschädigten Kinder und deren Eltern war am 10. April 1970 ein »Vergleich« vorausgegangen, der nur als sittenwidrig bezeichnet werden kann.
Nicht »rettender Strohhalm«, sondern vergiftete Gabe
Ein Teil der Eltern konnte dem Druck nicht widerstehen. Die »Verstümmelung« ihrer Kinder täglich vor Augen, drohte der Prozeß wegen Verjährung ergebnislos auszugehen. Ein Richter schied wegen Befangenheit aus. Auch das verschlechterte die Position der um ihre und ihrer Kinder Rechte kämpfenden Eltern. Die Aussicht auf – wenigstens finanzielle – Entschädigung verringerten sich nahezu täglich. So erschien das Vergleichs-Angebot als rettender Strohhalm. Es erwies sich aber als vergiftete Gabe. Zwar »spendete« die Stollberger Firma Grünenthal 100 Millionen DM an das »Hilfswerk für behinderte Kinder« (später in »Conterganstiftung« umbenannt), aber damit war keinerlei Schuldeingeständnis verbunden. Der »Preis«, den die Eltern »zahlen« mußten, war ein allgemeiner Klageverzicht.
Ein unter Nötigungsbedingungen zustande gekommener »Vergleich« also. Er ging zu Lasten Dritter, nämlich der behinderten Kinder. Auch sie können juristisch keinerlei Ansprüche gegen die Firma, ihre Eigentümer (Familie Wirtz) oder leitende Angestellte bzw. Wissenschaftler geltend machen. Bis heute nicht. Andreas M., der vier stark verkürzte Gliedmaßen hat und einer der engagiertesten Betroffenenvertreter ist, bezeichnet das offiziell als Enteignung. Er kann und will das nicht widerstandslos hinnehmen.
Stiftung in die Hände der Opfer geben
Das Gründungskapital der Conterganstiftung ist längst aufgebraucht. Knapp zweieinhalbtausend Conterganopfer leben noch heute. Innerhalb der Stiftung hat das Bundes-Familienministerium das Sagen. Wer einmal an einer der öffentlichen Sitzungen des Stiftungsrates teilnahm, weiß, wie unbarmherzig und restriktiv die zuständigen Beamten ihre Aufgaben wahrnehmen. Zwar dürfen die Betroffenen zwei Vertreter in dieses Gremium wählen, sie sitzen aber immer drei vom Ministerium Ernannten gegenüber. Kaltherzig-routiniert überstimmen sie nahezu jeden Antrag der gewählten Betroffenen-Vertreter. Gerecht wäre, die Stiftung in die Hände der Opfer zu legen, auch wenn diese »verkrüppelt« sind.
Eine Besonderheit für Contergan-Opfer besteht darin, daß sie – über die Stiftung und nach einem sehr undurchsichtigem Punktesystem – eine Rente erhalten. Sie ist seit einigen Jahren relativ hoch. Diese Errungenschaft war hart erkämpft. Aber wenn es um zusätzliche Sonderausgaben geht, auf die ebenfalls ein gesetzlicher Anspruch besteht und für den jährlich mehrere Millionen €uro zur Verfügung stünden, verhält sich die Stiftung äußerst restriktiv. So mußte beispielsweise Christiane O., die zwei verkürzte Arme hat, dennoch ein Lehrerstudium absolvierte, zwei Kinder großzog und passionierte Reiterin ist, um ein bestimmtes Bett klagen, in dem sie ohne fremde Hilfe schlafen kann. Die Prozeßkosten übersteigen den Streitwert. Aber die Stiftung zahlt lieber an den Staat, von dem sie die Mittel ja zugeteilt bekommt, als Betroffenen unbürokratisch zu helfen.
Ein weiterer Streitpunkt zwischen Betroffenen und der Stiftung ist die Anerkennung von Spät- und/oder Folgeschäden. Inzwischen ist gutachterlich festgestellt, daß das Skelett und die Gelenke von Contergan-Opfern viel stärkerem Verschleiß unterliegen als bei Gleichaltrigen. Auch stellt sich z.T. erst jetzt – nach Jahrzehnten – heraus, daß manche Organe oder Blutgefäße an anderen Stellen im Körper sind als üblich. Anstatt die Punktzahl zu erhöhen, verlangt die Stiftung immer neue Studien. Dabei gibt es kaum eine Patientengruppe, die intensiver »beforscht« wurde als Contergan-Geschädigte. Den meisten von ihnen ist das ständige Messen, Überprüfen und Nachuntersuchen nur noch lästig. Sie wollen nicht (mehr) »repariert« bzw. »geheilt« werden. Sie leben einfach ihr Leben. Sie haben nämlich kein anderes. Deshalb freuen sie sich über Schönes genauso, wie sie sich über Häßliches ärgern. Sie verlieben sich und sich traurig, wenn es auseinander geht. Sie leben eben.
Ihre Rente gibt ihnen eine gewisse Sicherheit. Zumindest so lange ihnen keine Kürzungen zugemutet werden, die gegenwärtig wieder drohen. Es wäre toll, wenn auch Menschen, deren Beeinträchtigung andere Ursachen hat, ähnliche Bedingungen hätten. Trotzdem wurmt es Viele, daß die Verursacher und Verantwortlichen für ihre Behinderungen nicht nur nicht bestraft werden, sondern sogar nach wie vor zu den reichsten Familien im Lande gehören. Und sie sind empört darüber, daß ihre medizinischen Daten offenbar jahrzehntelang Forschern der Firma zur Verfügung standen, die ihre Mütter mit falschen Werbeversprechungen verführten.
Beeindruckende Persönlichkeiten
Der seinerzeitige »Vergleich« hängt ihnen nach wie vor wie ein Mühlstein an. Er verhindert Gerechtigkeit im Sinne von Verantwortungsübernahme von Schuld. Aber ich hatte und habe Freundinnen und Freunde unter den Betroffenen, deren Lebensleistung nicht hoch genug einzuschätzen ist: Theresia D. ist eine weltweit geachtete Professorin für internationales und Menschenrecht. Da sie ohne Arme lebt, blättert sie ihre Redekonzepte mit den Füßen um. Die Zuhörerschaft ist fasziniert von ihrem Vortrag, nicht von der Besonderheit ihres Erscheinungsbildes. Bianca V. gewann olympische Medaillen im Reitsport. Trotz ihrer verkürzten Arme. Im Alltagsleben ist sie Erzieherin und die Kinder lieben sie. Inzwischen aber sind ihre Gelenke so abgenutzt, daß sie kein Pferd mehr besteigen und nur noch kurzzeitig mit den Kindern spielen kann. Meine guten Freunde Gotthilf L. und Stefan L., beide mit stark verkürzten Armen und Beinen, verstarben vor wenigen Jahren. Sie waren politisch engagiert und aktiv in der Behindertenbewegung verwurzelt. Weit über enge Contergan-Interessen hinaus. Sie lebten und leben ihr individuelles Leben. Mit Wein, Weib und Gesang, wie man so dahinsagt.
Werner W. kurbelt mit Begeisterung seinen Leierkasten. Und manchmal, wenn eine entsprechende Runde beieinander sitzt, ärgert er sich über den »Vergleich«, der vor 50 Jahren auch zu seinen Lasten erpreßt wurde. Jetzt, während der Covid-19-Pandemie muß auch er zu Hause bleiben. Seine Probleme unterscheiden sich also kaum von denen anderer Leute. Wer aber mal genau hinsieht, wird bemerken, daß er die Drehorgel mit seinem ganzen Oberkörper bewegt. Ihm fehlt nämlich das Schultergelenk. Das Sakko kaschiert diese Beeinträchtigung nur. Doch er lüftet seinen Hut und verstrahlt gute Laune ...
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