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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Walter Ulbricht (30. Juni 1893 – 1. August 1973)

Egon Krenz, Dierhagen

 

Auszug aus dem Vorwort von: Walter Ulbricht. Herausgegeben von Egon Krenz, Verlag Das Neue Berlin (Eulenspiegel Verlagsgruppe), ISBN 978-3-360-02160-1, 608 Seiten, mit Abb., geb. mit Schutzumschlag, erschien 27. Juni 2013, 24,99 €.

 

[...] Wie sie war, diese DDR, und wie jeder darin gelebt hat, können vor allem jene beurteilen, die hier zu Hause waren. Mein Standpunkt ist deshalb einer unter vielen. Ulbricht und seine Politik haben mein Leben beeinflusst und mich politisch stark geprägt. [...] Insofern musste ich nicht lange überlegen, als mich der Verlag bat, aus Anlass des 120. Geburtstages des ersten DDR-Staatsratsvorsitzenden am 30. Juni 2013 und seines Todes am 1. August 1973 mit Weggefährten zu sprechen, die ihn noch aus eigenem Erleben kennen.

Besteht bei diesem Vorhaben nicht auch die Gefahr, ihn zu heroisieren? Diesen Gedanken schob ich von mir. Und selbst wenn: Solange man hierzulande mehr über Hitler, seine Generäle, seine Helfer, seine Frauen, seine Hunde, seinen Bunker erfährt als über die Kämpfer gegen den Faschismus, scheint mir eine gewisse Überhöhung sogar verständlich. Trotzdem: Unter den von mir befragten Zeitzeugen war keiner, der Ulbricht idealisierte. Spürbar wurde allerdings, dass in der Rückschau auf vierzig DDR Jahre und die nachfolgenden Jahrzehnte Ulbrichts Konturen wesentlich deutlicher sind als vielleicht noch zu seinen Lebzeiten. Der Volksmund sagt, erst wenn man das Dorf verließe, würde man erkennen, wie hoch der Kirchturm ist. Ähnlich ergeht es mitunter historischen Persönlichkeiten. Das Urteil der Nachwelt scheint jedenfalls sachlicher und gerechter.

Ulbricht hat Dreiviertel des 20. Jahrhunderts durchlebt. Mit Höhen und Tiefen, Siegen und Niederlagen, Irrungen und Wirrungen. Mit den Widersprüchen einer Epoche, die oft "Zeitalter der Extreme" genannt wird. Er stellte sich ihr als Kommunist. Kapitulierte nicht vor Schwierigkeiten, nicht vor seinen politischen Gegnern, nicht vor Verleumdungen. Wenn er irrte, war er fähig, sich zu korrigieren. Ich erwarte nicht, dass seine politischen Gegner ihn lobpreisen. Respekt aber vor dem Leben eines deutschen Antifaschisten mit kommunistischer Gesinnung würde sich angesichts seiner Biografie schon geziemen.

Zwei Weltkriege griffen in Ulbrichts Leben ein. Den Ersten erlitt er noch als unfreiwilliger Soldat des Kaisers. Am Ende war er Mitglied eines Arbeiter- und Soldatenrates. In seiner Heimatstadt Leipzig wurde er Mitbegründer der KPD. Den Zweiten bekämpfte er lange vor dem ersten Schuss. Schon als bürgerliche Politiker noch darauf setzten, die Nazis würden von allein abwirtschaften. Seine Partei hatte vorausgesagt: Wer Hitler wählt, wählt Krieg.

Zwei Revolutionen prägten seinen politische Werdegang: Die russische Oktober- und die deutsche Novemberrevolution. Lehren aus der Geschichte zu ziehen, war ihm immer wichtig. Es heißt, Historiker sei sein dritter Beruf gewesen. Aktiv war er an den fundamentalen Umwälzungen auf deutschem Boden beteiligt: Die Enteignung der Nazi- und Kriegsverbrecher, die Boden-, Schul- und Justizreform, die Beseitigung des Bildungsprivilegs der Reichen, die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie die politische Mitbestimmung der Jugend, ihre Rechte auf Arbeit, Bildung und Urlaub gehörten zum Programm der 1946 gegründeten SED. Ulbricht war an der Seite von Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl einer der Ideengeber und Organisatoren dieser revolutionären Umgestaltungen. [...]

Ulbricht war Patriot. Damit auch überzeugter Gegner einer Teilung Deutschlands. Das schreibe ich im Wissen um den Vorwurf seiner Gegner, er sei ein Spalter gewesen. Er wollte immer das ganze Deutschland. Nicht nur in einem halben sollte es antifaschistisch, demokratisch und sozial gerecht zugehen. Es entsprach seiner inneren Überzeugung, was sein Freund, der Dichter Johannes R. Becher, in die DDR-Nationalhymne schrieb: "Lass uns dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland."

Die sowjetischen Deutschlandnoten von 1952, die den Weg für ein einheitliches Deutschland hätten freimachen können, fanden seine Zustimmung. Als der Westen das Angebot ignorierte, machte er sich für eine Konföderation beider deutscher Staaten stark. Er forderte "Deutsche an einen Tisch!" Nachdem sich diese Ideen nicht mehr realisieren ließen - sie waren mit den Vorstellungen der Führungsmächte in den beiden politischen und militärischen Bündnissen nicht mehr kompatibel - sah Ulbricht in der DDR den "sozialistischen Staat deutscher Nation", der offen bleiben sollte für eine linke Option der deutschen Frage.

Als die SPD ihre Neue Ostpolitik verkündete, mahnte Ulbricht in Richtung der östlichen Bündnispartner: Man dürfe den Stoß nicht gegen Kanzler Brandt richten, sondern gegen Strauß [1] und von Thadden [2]. Gemeinsam müsse man die westdeutsche Bevölkerung für eine Politik des demokratischen Fortschritts gewinnen. Moskau kritisierte diese Strategie als Illusion und ging auf Distanz zu ihm.

Ulbricht sah sich nicht selten Widersachern in den eigenen Reihen gegenüber. Wo immer er "Fraktionen" zu erkennen meinte, kämpfte er für die Einheit seiner Partei. Als er Ende der 60er Jahre noch glaubte, seine Mitstreiter würden ihm folgen, isolierte er sich zunehmend im Politbüro. Er war alt geworden. National und international waren zudem Probleme entstanden, die ihn überforderten. Auch darum lässt sich der Wechsel an der Parteispitze 1971 nicht auf Honeckers Machtanspruch oder Moskaus Dominanz reduzieren. Das wäre eine Simplifizierung komplexer politischer Vorgänge. [...]

2003 ermittelte ein Fernsehsender mit Hilfe seiner Zuschauer den "größten Deutschen". Konrad Adenauer soll es sein. Karl Marx belegte hinter Martin Luther den dritten Platz. Die Ostdeutschen hätten in ihrer Mehrheit, so hieß es, Marx sogar auf Platz 1 gesehen, was für deren realistisches Geschichtsverständnis spricht. Wenn Adenauer Spitzenreiter war, sollte man ruhig auch an eine Feststellung Sebastians Haffners aus dem Jahre 1966 erinnern. Der bürgerliche Publizist und Historiker ging der Frage nach, warum Ulbricht nach Bismarck und neben Adenauer zum erfolgreichsten deutschen Politiker wurde? Dass Adenauer und Ulbricht von kundigen Personen in einem Atemzug genannt wurden, halte ich für bemerkenswert. Allerdings: Sie waren nie politische Brüder. Antipoden waren sie. Erbitterte Widersacher. Jeder im Interesse seiner Klasse.

Als Adenauer schon im Dienst des Deutschen Kaiserreiches stand, schloss sich der junge Sozialdemokrat Ulbricht dem politischen Credo von August Bebel und Wilhelm Liebknecht an: "Diesem System keinen Mann und keinen Groschen." Als Adenauer nach dem Ersten Weltkrieg separatistische Gedanken über die Bildung eines westdeutschen Staates im Rheinland umtrieben, stellte sich Ulbricht auf die Seite von Liebknecht, der am 9. November 1918 vom Balkon des Berliner Schlosses aus die sozialistische Republik proklamierte. Dieser Balkon wurde 1964 in das Staatsratsgebäude der DDR integriert, dem Amtssitz des DDR-Staatsoberhauptes.

Bei meinen Recherchen zu diesem Buch stieß ich auf einen Spitzelbericht eines Landesjägerkorps aus Leipzig vom 27. Mai 1919. Darin heißt es, dass "der Kommunist Ulbricht, Mitarbeiter der Roten Fahne, überwacht werden" müsse. Bei besonderen Feststellungen: "Sofort Meldung." [3] Ulbricht blieb über Jahrzehnte der "vaterlandslose Geselle" - wie Sozialisten, Sozialdemokraten und Kommunisten einst genannt wurden. Er wurde der Gehetzte, der Verfolgte, der Inhaftierte, der Geächtete und später außer Landes Getriebene. Zusammen mit Ernst Thälmann, Wilhelm Pieck und anderen stritt er im Deutschen Reichstag für die sozialen Interessen der Arbeitenden und gegen die drohende faschistische Gefahr. Der öffentliche Disput des Berliner Kommunistenchefs Ulbricht mit dem Berliner Nazigauleiter Goebbels im Berliner Saalbau Friedrichshain bewies den Mut des gebürtigen Leipzigers im antifaschistischen Kampf.

Als die Nazis im März 1933 den 81 Reichstagsabgeordneten der KPD, darunter Walter Ulbricht, das Mandat entzogen, erklärte in Köln Adenauers Zentrumsfraktion zu jenem Ermächtigungsgesetz: "Die vom Herrn Reichspräsidenten berufene, durch den erfolgreichen Verlauf der nationalen Revolution bestätigte Regierung darf nicht gefährdet werden, da sonst die Folgen unabsehbar sind. […] Wir begrüßen die Vernichtung des Kommunismus und die Bekämpfung des Marxismus."

Als Ulbricht schon von Hitlers Schergen steckbrieflich gesucht wurde, schrieb Adenauer am 10. August 1934 an den preußischen Innenminister einen zehnseitigen Brief. Darin reklamierte er für sich, die NSDAP "immer durchaus korrekt behandelt" zu haben. Er habe sich einer Anordnung des preußischen Staatsministeriums widersetzt, nationalsozialistische Beamte "zwecks Disziplinierung" namhaft zu machen, da er eine solche Maßregelung "für unberechtigt und für ungerecht hielt". Er habe bereits 1932 erklärt, dass "eine so große Partei wie die NSDAP unbedingt führend in der Regierung vertreten sein müsse". Auch wenn Adenauer später einige Male kurzzeitig interniert wurde und die Nazis ihn als Kölner Oberbürgermeister absetzten, Not litt er nicht. Ulbricht hingegen musste ins Exil und kämpfte um seine Existenz. Vor allem jedoch gegen die Nazidiktatur.

An der Leningrader Blockade, der 1,1 Millionen Leningrader zum Opfer fielen, waren auch deutsche Offiziere beteiligt, die später in der Bundesrepublik Deutschland Spitzenämter bekleiden sollten. Auch Ulbricht lag im Schützengraben. Vor Stalingrad und auf der Antikriegsseite. [4] Unter Einsatz seines Lebens trug er dazu bei, das Leben deutscher Soldaten zu retten. Gemeinsam mit den Dichtern Erich Weinert und Willi Bredel rief er über Lautsprecher: "Ob ihr fallt oder durch Kapitulation euer Leben rettet, das ändert nichts mehr am Ausgang des Krieges. Euer Tod zerstört nur eure Familie und die Zukunft eurer Kinder. Unser Volk braucht nicht euren sinnlosen Tod, sondern euer Leben für die Arbeit im künftigen Deutschland!" [5] Ulbricht gehörte zu jenen Deutschen, die mit ihrem Tun bewiesen, dass man nicht zwangsläufig mit den Nazis marschieren oder ihre Verbrechen billigend in Kauf nehmen musste. Gewiss, Mut gehörte dazu. Ulbricht hatte ihn.

Aus der sowjetischen Emigration kehrte er mit einer Gruppe deutscher Kommunisten am 30. April 1945 zurück. Die Schlacht um die deutsche Hauptstadt tobte noch. Ihm war wichtig, dass das Leben im verwüsteten Berlin so schnell wie möglich wieder in Gang kam. Dazu suchte er vorurteilsfrei Kontakt zu Persönlichkeiten auch aus dem bürgerlichen Lager, etwa zu dem Schauspieler Heinz Rühmann oder dem Mediziner Ferdinand Sauerbruch. Erster Oberbürgermeister von Berlin wurde der Parteilose Arthur Werner. In einem Aufruf der KPD an das deutsche Volk, der mit Stalin abgestimmt war, wurden vier Wochen nach dem Ende der Nazidiktatur und des Krieges Ziele für ganz Deutschland gesetzt. Die Spaltung des Landes war darin nicht vorgesehen. [...]

Die ablehnende Haltung der Westmächte, besonders der Bundesrepublik, gegenüber den sowjetischen Deutschlandnoten von 1952 verbaute für Jahrzehnte den Weg zur deutschen Einheit. Der Rheinische Merkur zitierte am 20. Juli 1952 Adenauer mit der erhellenden Aussage: "Was östlich von Werra und Elbe liegt, sind Deutschlands unerlöste Provinzen. Daher heißt die Aufgabe nicht Wiedervereinigung, sondern Befreiung. Das Wort Wiedervereinigung soll endlich verschwinden. Es hat schon zu viel Unheil gebracht. Befreiung sei die Parole." [...]

Zu den Defiziten des gewesenen Sozialismus gehörte, dass es keine festen Regeln für die Ablösung des ersten Mannes in Partei und Staat gab. Das wirkte sich negativ aus, als Ulbricht ein Alter erreicht hatte, das einen Rückzug aus der aktuellen Politik nahegelegt hätte. Als er seinen Rücktritt Ende der 60er Jahre anbot, riet Breshnew ab. Gomulka in Polen säße nicht mehr fest im Sattel und Husak in der CSSR noch nicht sicher genug. In dieser politischen Situation, so Breshnew, sei ein Rückzug Ulbrichts ein falsches politisches Signal. Ulbricht zeigte Disziplin und blieb. Allerdings wurde er zunehmend eigensinniger. In Moskau war man darüber besorgt wie auch über Meinungsverschiedenheiten im SED-Politbüro bezüglich der Konzeption Ulbrichts zur Unterstützung der Ostpolitik der SPD. [...]

In diesem Buch kommen siebzig Weggefährten Ulbrichts zu Wort. Die Begegnungen mit ihnen, von denen einige zehn, fünfzehn oder gar fast zwanzig Jahre älter sind als ich, gingen mir sehr nahe. Manche sind seit Jahren bettlägerig. Aber ungebrochen. Ihre Lebensbedingungen sind bescheiden. Ihre Strafrente reicht oft nicht, um den Platz im Pflege- oder Seniorenheim zu bezahlen. Sie denken viel nach über sich, die DDR und unsere Niederlage, bewerten ihr eigenes Tun differenziert, sind aber vor allem sich und der Sache, die sie vertreten haben, treu geblieben.

Ich höre schon den Einwand: Alles subjektiv! Ja, wie das eben mit Erinnerungen so ist. Sichten können verschieden sein. Fakten sollten aber Fakten bleiben. Manche Erinnerungen verblassen. Manche erhalten nachträglich stärkeres Gewicht. Andere werden erst aus heutiger Sicht wieder lebendig. Darf man sie deshalb denunzieren? Sie gehören genau wie die Akteure der alten Bundesrepublik in das Geschichtsbuch der Deutschen. [...]

Egon Krenz, Dierhagen im Mai 2013

 

Anmerkungen:

[1]  Franz Josef Strauß (1915-1988), CSU-Politiker, der zu den schärfsten Kritikern von Brandts Ostpolitik gehörte. Strauß war in der Adenauer-Regierungen Bundesminister für besondere Aufgaben (1953-1955), Bundesminister für Atomfragen (1955-1956) und Bundesminister der Verteidigung (1956-1962). In der Großen Koalition unter Regierungschef Kurt Georg Kiesinger (1966-1969) war er Bundesfinanzminister. Als bayerischer Ministerpräsident (1978-1988) unterlag er als Kanzlerkandidat der Union bei der Bundestagswahl 1980 gegen Helmut Schmidt (SPD).

[2]  Adolf von Thadden (1921-1996), Mitbegründer der NPD. Er scheiterte mit seiner neofaschistischen Partei 1969 nur knapp am Einzug in den Deutschen Bundestag.

[3]  Geheimanlage vom 27. Mai 1919, Institut für deutsche Militärgeschichte, Abt. Archiv, Akten Nr. R 837, S. 64.

[4]  Das Nationalkomitee "Freies Deutschland" (NKFD) wurde 1943 von deutschen Soldaten und Offizieren und von deutschen Emigranten in Krasnogorsk gegründet. Zu den Mitbegründern gehörten die Kommunisten Wilhelm Pieck, Walter Ulbricht. Erich Weinert, Johannes R. Becher. Der letzte lebende Unterzeichner des Gründungsaufrufes ist Heinz Keßler.

[5]  Flugblatt von Ulbricht, Weinert und Bredel von der Stalingrader Front, Anfang Januar 1943. Es diente als Passierschein zum Übergang auf die Seite der Roten Armee. Aus: "Walter Ulbricht, ein Leben für Deutschland", Leipzig 1968, Seite 67.

 

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