Doppelte Standards
Ellen Brombacher, Berlin
In Deutschland – bekanntermaßen gerade im vergangenen 20. Jahrhundert ein zutiefst verlässlicher Hort des reinen Humanismus – wird es anscheinend üblich, dass Bürger aus anderen Ländern, die in diesen anderen Ländern folterten, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit hierzulande vor Gericht gestellt und verurteilt werden. Natürlich keine Folterknechte aus Saudi-Arabien oder Kolumbien. Aber aus Syrien schon. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Um jedes Missverständnis zu vermeiden: Folterer sind Verbrecher, wo auch immer sie ihr blutiges Handwerk ausüben. Bestraft werden sie also zu Recht. Bestraft werden müsste jedoch auch die Selbstverständlichkeit, mit der zweierlei Maß angelegt wird; und die damit verbundene Heuchelei und Verlogenheit.
In diesem Sinne sei an den zehnten Todestag von Iwan Demjanjuk erinnert. Der war als sowjetischer Soldat in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten und hatte sich bereit erklärt, in den Hilfstruppen der SS zu »dienen«, was häufig bedeutete, Wachdienst in Konzentrationslagern zu leisten. In Trawnik, einem Ausbildungslager für diese »Hilfswilligen«, wurde er für die Aufgaben im nahegelegenen Vernichtungslager Sobibor »geschult« und tat dort 1943 Dienst.
Er wurde 2009 in der BRD vor Gericht gestellt und am 12. Mai 2011 verhängte das Landgericht München II wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Menschen eine Gesamtstrafe von 5 Jahren. Das absolut Besondere daran: 66 Jahre nach Kriegsende wurde erstmalig vor einem bundesdeutschen Gericht ein Urteil gefällt, ohne dass dem Angeklagten eine konkrete Tat individuell zugeschrieben werden konnte. Das Gericht betrachtete Demjanjuks Dienst in Sobibor als ausreichend für eine Verurteilung, weil er »Teil der Vernichtungsmaschinerie« gewesen sei. Das Urteil wurde nicht rechtskräftig, weil er das Ende des Revisionsverfahrens nicht mehr erlebte. Er starb am 17. März 2012. Der erste Scherge, bei dem es vor einem BRD-Gericht für eine Verurteilung reichte, dass er »Teil der Vernichtungsmaschinerie« war, war kein deutscher SS-Mann, sondern ein ukrainischer Hilfswilliger. Wenn es nicht einen so schrecklichen Kontext gäbe, könnte man darüber lauthals lachen. Von den 15 hohen faschistischen Beamten und SS-Führern, die vor 80 Jahren in der Wannsee-Villa die sogenannte Endlösung der Judenfrage logistisch planten, wurde – Eichmann ausgenommen – einer zum Tode verurteilt. Die anderen erhielten Freiheitsstrafen und wurden fast ausnahmslos sehr bald begnadigt. Die Ärmsten waren manchmal ja auch krank. Beispiel für Beispiel ähnlichen Umgangs mit den Naziverbrechern durch die bundesdeutsche Justiz ließe sich aneinanderreihen. Aber bleiben wir bei Demjanjuk.
Kurt Gutmann war einer der Nebenkläger im am 30. November 2009 in München begonnen Prozess gegen Iwan Demjanjuk. Als langjährige Freundin der Familie Gutmann begleitete ich ihn auf seine Bitte hin zum Prozessauftakt und stellte Kurt Gutmann auf der Zugrückfahrt nach Berlin die nachfolgenden Interviewfragen [1].
Du bist Nebenkläger im Prozess gegen den mutmaßlichen Kriegsverbrecher Iwan Demjanjuk. Wie kam es dazu?
Meine Mutter und mein ältester Bruder Hans wurden von Mühlheim an der Ruhr in das Ghetto-Lager Izbica deportiert. Als das Ghetto aufgelöst wurde, brachte man deren Bewohner in das unweit gelegene Lager Sobibor zur Vergasung.
Wo warst Du in dieser Zeit?
Ich befand mich seit 1939 in Schottland, wohin meine Mutter mich schicken konnte. So habe ich gemeinsam mit meinem anderen, ebenfalls in Schottland befindlichen Bruder überlebt. Mit siebzehneinhalb wurde ich Angehöriger der britischen Armee und kam im Herbst 1945 nach Deutschland. Ich suchte Mühlheim auf und sprach dort mit dem Vertreter der jüdischen Gemeinde, um etwas über das Schicksal meiner Familie zu erfahren. Der wusste, dass meine Mutter und mein Bruder Hans in den Osten deportiert worden waren und dass von diesem Transport niemand zurückgekommen war.
Welche Empfindungen und Überlegungen bewegen Dich, wenn Du Demjanjuk im Gerichtssaal vor Dir siehst?
Zunächst einmal empfinde ich das, was Thomas Blatt, ein Sobibor-Überlebender so ausgedrückt hat: »Er kann der sein, der meine Eltern in die Gaskammer geschickt hat«. Es ist beinahe unwirklich: Demjanjuk liegt im Gerichtssaal, hält die ganze Zeit die Augen geschlossen; teils dreht er uns den Rücken zu. Er ist sicher nicht gesund; ich auch nicht. Aber – soll er doch liegen. Ich musste immerfort auf seine bulligen Hände blicken. Was ich mir da vorgestellt habe, lasse ich lieber weg. Zwischendurch hat er auch einmal gebetet. Da wurden die Listen von Ermordeten verlesen. Mindestens eine halbe Stunde lang. Da war eine Frau dabei: 1849 geboren; also zum Zeitpunkt ihrer Ermordung 1943 beinahe 95 Jahre alt und da waren Babies, im Winter oder Frühjahr 1943 auf die Welt gekommen und wenige Wochen später im Gas erstickt. Ich bin sieben Jahre jünger als Demjanjuk. Ich habe geweint und mit mir andere.
Zu Beginn des Prozesses haben drei medizinische Gutachter die eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit von Demjanjuk festgestellt. Die Verhandlung am 2. Dezember 2009 dauerte nur wenige Minuten, wegen eines sich bei ihm eventuell ankündigenden Infekts. Was denkt man da?
Ich empfand das als richtig. Und dennoch stellt man sich beinahe zwanghaft vor, was mit kranken Häftlingen in den KZs geschah. Läuse reichten, um vergast zu werden.
Dem Verteidiger Demjanjuks wurde in nicht wenigen Medien vorgeworfen, er verhöhne die Opfer des Nazi-Regimes. Wie siehst Du das?
Sehr differenziert. Zunächst einmal empfand ich es als unerträglich, dass der Verteidiger Dr. Busch meinte, die Trawniki – so wurden die im gleichnamigen Ort von der SS ausgebildeten ehemaligen sowjetischen Kriegsgefangenen genannt, die als SS-Wachmänner Dienst in Vernichtungs- und Konzentrationslagern taten – dass er also meinte, diese Trawniki genauso einstufen zu müssen wie Juden, die im Auftrag der Faschisten Funktionen in Ghettos oder Lagern ausübten. Beide hätten nur ihr Leben retten wollen. Beide seien Opfer und nicht Täter. Diese Gleichsetzung ist inakzeptabel und die Medien weisen sie mit Recht zurück. Hätten sie doch – vor einigen Jahren – die Hetze gegen die sogenannten roten Kapos, Kommunistische Funktionshäftlinge, ebenso zurückgewiesen. Das haben sie nicht; im Gegenteil: sie waren Teil der Kampagne. Wenn man darüber nachdenkt, dann hat man, zurückhaltend formuliert – ein ungutes Gefühl. Und da bin ich bei Ausführungen der Verteidigung, die sehr nachdenkenswert sind: Ungezählte, in der Befehlskette weit höherstehende SS-Mörder wurden nie belangt oder aber freigesprochen, da sie unter »Befehlsnotstand« gestanden hätten. So auch solche, die Ausbilder in Trawniki waren oder die als Kronzeugen gegen Demjanjuk aufgetreten sind. Demjanjuks Verteidiger hat, ob er das wollte oder nicht, die gesamte bisherige Rechtspraxis der BRD im Umgang mit Naziverbrechern an den Pranger gestellt und doppelte Standards offen angesprochen. Dem kann und will ich nicht widersprechen, zudem in der DDR, in der ich gelebt habe, Nazitäter – sofern sie sich nicht zeitig genug in den Westen abgesetzt hatten – nicht einfach so davonkamen.
Zurück zu Demjanjuk. Was wünschst Du Dir vom Prozess?
Dass der Mann die Wahrheit sagt und sich bei den Opfern entschuldigt. Ich lechze nicht danach, einen 89-Jährigen im Gefängnis zu sehen. Da geht es mir wie anderen Nebenklägern auch. Und so umstritten manches bei diesem Prozess sein mag: Es ist wichtig, dass die Nazigräuel erneut ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Mit etwas Ironie: Es muss nur noch die NPD verboten werden – in Erinnerung an Sobibor und all die anderen Stätten der Vernichtung. Und noch etwas: Der Prozess macht auch aufmerksam auf 3,5 Millionen ermordete sowjetische Kriegsgefangene. Es klingt banal; aber ohne den Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion gäbe es weder die Demjanjuks, noch jene unter den gezwungenermaßen Kollaborierenden, die letztlich desertierten oder ihre Waffen gegen die deutschen Okkupanten richteten. Es mag agitatorisch klingen. Dennoch ist es mir ein Bedürfnis, hier anzumerken: ( … ) Erinnern wir gerade in diesem Zusammenhang an das unendliche Leid der sowjetischen Kriegsgefangenen, an die zwanzig Millionen Sowjetbürger, die durch den Vernichtungskrieg der Deutschen umkamen, an die 2000 km verbrannter Erde, die die faschistischen Truppen bei ihrem Rückzug hinterließen. Wir dürfen nicht zulassen, dass solche wie Hubertus Knabe und viele seines Schlages den Kampf der roten Armee auf jene Exzesse reduzieren, die es zweifellos gegeben hat, nachdem sowjetische Truppen deutsches Territorium erreicht hatten. Ich bin der Sowjetunion bis an mein Lebensende dankbar für ihren überragenden Anteil an der Zerschlagung des Faschismus.
Anmerkung:
[1] Das Interview erschien stark gekürzt am 5./6. Dezember 2009 in der jungen Welt.
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