Die Unverletzlichkeit der Grenzen – Bedingung für den Frieden
Egon Krenz, Dierhagen
Vor 30 Jahren: Offizieller Empfang des DDR-Staatsoberhauptes in der BRD
Noch im Sommer 1987 wetteiferten in der alten Bundesrepublik CDU, FDP und SPD um die Gunst der DDR. Der SPD-Kanzlerkandidat für die Bundestagswahlen im Januar 1987, Johannes Rau, hätte den Honecker-Besuch in der BRD gern ein Jahr früher gehabt. Als »Zugpferd im Wahlkampf«, wie er dem Generalsekretär mitgeteilt hatte. Das klappte aus verschiedenen Gründen nicht, obwohl auch Honecker lieber die SPD von Willy Brandt besucht hätte. Die SPD verlor die Wahl und so wurde der CDU-Vorsitzende Helmut Kohl zum Ärger der SPD der erste Kanzler der Bundesrepublik, der das DDR-Staatsoberhaupt zu einem offiziellen Besuch empfing. Vorher hatte er sich noch mokiert, dass die SED mit der SPD ein gemeinsames Dokument mit dem Titel »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« vereinbart hatte. [1] Das Papier – so der Kanzler – würde der SPD unnötige Aufmerksamkeit bringen und davon ablenken, dass er die Richtlinien der Politik bestimme.
DDR-freundliche Atmosphäre
Nachdem der Termin des Staatsbesuches für die Zeit vom 7. bis zum 11. September 1987 öffentlich geworden war, überschlugen sich im westdeutschen Blätterwald die Kommentatoren: Die Zeitung »Die Welt« veröffentlichte Umfrageergebnisse, nach denen 75% der Westdeutschen Honeckers Politik »friedliebend« nannten. Kohl erinnerte sich, dass er Honecker als »Partner kennen gelernt hatte, auf den Verlass sei«. CDU-Rechtsaußen Dregger nannte Honecker einen »deutschen Kommunisten, mit dem er als deutscher Demokrat Gemeinsamkeiten« habe. Genscher wünschte sich Kontakte zu jemandem aus der DDR, dem er Dinge sagen könne, die »nur für das Ohr des Staatsratsvorsitzenden bestimmt seien.« Altkanzler Schmidt veröffentlichte einen Artikel, in dem es hieß: »Auch wenn wir politisch nie Freunde werden können, lasst uns ihn würdig empfangen – empfangt ihn als einen unserer Brüder.« [2]
Eine DDR-freundliche Atmosphäre in der Bundesrepublik im Vorfeld des Besuches wie nie zuvor. Niemand in Bonn wollte den schon mehrfach verschobenen Besuch erneut gefährden. Zudem war den führenden Westpolitikern gut bekannt, dass Gorbatschow gegen den Honecker-Besuch war. Zum ersten Mal seit 1949 unternahm das DDR-Staatsoberhaupt eine so bedeutende außenpolitische Aktivität ohne Zustimmung der sowjetischen Führung.
Nur zwei Jahre später waren es diese Heuchler, die sogenannten »Honecker-Verehrer« von einst, die keine Skrupel hatten, ihren früher gefragten Gesprächspartner – einen »ihrer Brüder« -, ins Gefängnis zu befördern, sogar nach Moabit, wo der junge Honecker schon zu Nazizeiten gesessen hatte. Ein klares Zeichen, wie weit bei den in Bonn Regierenden Politik und Moral auseinanderklafften.
Politische Realität und emotionale Momente
Bevor sich Honecker mit seiner Delegation am Morgen des 7. September in die IL 62 der DDR-Regierungsstaffel begab, um in Richtung Bonn zu starten, beauftragte er mich, in der Zwischenzeit die Arbeit des Politbüros und des Staatsrates zu leiten. Er werde mich täglich nach seinen Aktivitäten anrufen, damit ich im Bilde sei und aktuell reagieren könne. So sind mir auch die Details des Besuches in Erinnerung, die heutzutage gern unterschlagen werden.
Honecker war sich des historischen Augenblicks seiner Reise bewusst. Aufgeregt? Nein, das war er nicht. Er wirkte souverän, war stolz darauf, dass der Besuch trotz vieler Querelen in Ost und West zustande gekommen war. Endlich wurde der i-Punkt auf die jahrzehntelangen Anstrengungen zur internationalen Anerkennung der DDR auch durch die BRD gesetzt. Hallstein würde sich im Grabe umdrehen.
Zwei Jahre zuvor – am 12. März 1985 – war ich Zeuge, wie Staatsratsvorsitzender und Bundeskanzler vertrauensvoll auf der Couch in Honeckers Wohnzimmer auf den Lenin-Bergen in Moskau eine Formel gefunden hatten, die neben dem Grundlagenvertrag die gleichberechtigten Beziehungen der beiden Staaten unterstrichen. Sie hatten vereinbart: »Die Unverletzlichkeit der Grenzen und die Achtung der territorialen Integrität und der Souveränität aller Staaten in Europa in ihren gegenwärtigen Grenzen ist eine grundlegende Bedingung für den Frieden« [3].
12 Jahre später, im August 1997, werden im sogenannten Politbüroprozess vor dem Berliner Landgericht junge, unwissende Richter und doktrinierte Staatsanwälte haargenau diesen Text als »ideologischen Schießbefehl« [4] bezeichnen, nicht beachtend, dass er einst von Kohl und Honecker in freundlicher Atmosphäre gemeinsam formuliert worden war.
Anfang September 1987 jedenfalls bestimmte dieser vom Berliner Landgericht nachträglich kriminalisierte Text den Inhalt der Gespräche zwischen den Repräsentanten beider Staaten. Über 2.400 akkreditierte Journalisten aus aller Welt erlebten, wie Honecker vor dem Bundeskanzleramt empfangen wurde, dass die Nationalhymne der DDR erklang und die DDR-Staatsfahne neben der der BRD gehisst wurde. Sie sahen, wie Kohl und Honecker gemeinsam die Front der Ehrenkompanie des Bundesgrenzschutzes abschritten. Ich verhehle nicht, dass auch mir bei dieser Gelegenheit warm wurde ums Herz. Für viele DDR-Bürger war der Empfang vor dem Kanzleramt das Emotionalste des Besuches. Er hat mehr Wirkung hinterlassen als offiziellen Reden. Man mag über Kohl denken, was man will: Eins aber dürfte unbestritten sein: Er hätte dem Besuch nie zugestimmt, wenn damals nicht auch ihm klar gewesen wäre, dass die deutsche Zweistaatlichkeit unumstößliche Realität war. Niemand hat die Ereignisse von 1989 bis zur Auflösung der UdSSR 1991 voraussehen können. Kohl, das ist meine Überzeugung, hätte sich auf dieses Protokoll niemals eingelassen, wenn er – wie das heute oft wahrheitswidrig behauptet wird – die deutsche Einheit vor Augen gehabt hätte.
Kohls Rede beim Abendbankett empfand ich arrogant. Als ich Honecker dies am Telefon sagte, meinte er, Kohl habe sich nach seinem Trinkspruch gesetzt und erleichtert gesagt: »So, Herr Honecker, das war zum Fenster hinaus. Jetzt können wir sachlich miteinander reden«. Das war das altbekannte Lied aus Bonn, das immer wieder gesungen wurde: Harte Töne für das Wahlvolk und eine harmonische Melodie für die Realpolitik. Honecker blieb prinzipiell. Sozialismus und Kapitalismus, sagte er, seien wie Feuer und Wasser und daher unvereinbar.
Honecker machte wahr, was er angekündigt hatte. Er rief mich regelmäßig an. Er ließ mich teilhaben an seinen Erlebnissen. So glaube ich zu wissen, dass es neben den Verhandlungen und dem Empfang vor dem Kanzleramt vor allem drei Dinge gibt, die ihn emotional am meisten berührten:
Das war zunächst die symbolträchtige Villa Hügel in Essen, das Haus der Krupps. Krupp-Manager Berthold Beitz hatte ihn eingeladen. Gut 150 Industriemanager erwiesen Honecker die Ehre. Er, der Bergarbeitersohn und Dachdecker aus dem Saarland in der Hochburg der Krupps, das war für ihn ein Zeichen, wie sich die Welt verändert hatte. Alle wollten gute Geschäfte mit der DDR. Von »marode« oder »pleite« im Zusammenhang mit DDR« war keine Rede.
Und dann war in Bonn sein Treffen mit Herbert Wehner. In seiner Erinnerung war frisch, dass er 1933/34 zusammen mit dem damaligen Mitstreiter Thälmanns, dem KPD-Politbürokandidaten Wehner, im Saarland den antifaschistischen Widerstandskampf organisiert hatte. Ihm lag viel daran, dem todkranken Weggefährten aus schweren Zeiten, der für ihn bis zum Lebensende sein Genosse blieb, Respekt zu erweisen. Der Widerstand gegen den Faschismus verband die beiden.
Schließlich: Begeistert erzählte Honecker mir vom Saarland, seiner Heimat in Kinder- und Jugendjahren! An jenem Abend, als er sich dort auch mit dem extra aus Niedersachsen angereisten Gerhard Schröder traf, hätte ich mir gewünscht, er hätte mich nicht angerufen. Kurz vor unserem Telefonat hatte mich nämlich Wjatscheslaw Kotschemassow aufgesucht. Der sowjetische Botschafter war im Auftrage Gorbatschows gekommen, um Auskunft über eine Rede zu erhalten, die Honecker einige Stunden zuvor gehalten hatte. Die Agenturen hatten sie als Spitzenmeldung in die Welt gesendet. In Neuenkirchen hatte Honecker in einer freien Rede über den zukünftigen Charakter der Grenzen zwischen beiden deutschen Staaten gesagt: »… wenn wir gemeinsam entsprechend dem Kommuniqué handeln, das wir in Bonn vereinbart haben …, dann wird der Tag kommen, an dem die Grenzen uns nicht trennen, sondern vereinen, so wie uns die Grenze zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen vereint.« [5]
Was Honecker als Perspektive formulierte, betrachtete die sowjetische Führung schon als Abgehen von der vereinbarten Außenpolitik. Die Grenze zwischen beiden deutschen Staaten sei schließlich die Außengrenze des Warschauer Vertrages. Und diese sei Sache aller Vertragsstaaten. Damit hatte Moskau durchaus Recht, aber das hatte Honecker zu keinem Zeitpunkt in Frage gestellt.
Die Begegnung mit seiner Schwester und der Besuch der Gräber seiner Eltern waren zweifellos der persönlichste und wahrscheinlich zugleich heikelste Programmpunkt. Ich versuchte mich beim Betrachten der Fernsehübertragung in die die Gefühle des 75-Jährigen hineinzuversetzen, der seit 1950 nicht mehr an den Orten seiner Kindheit und Jugend war. Ich freute mich für ihn. Zugleich spürte ich eine gewisse Beklemmung. Wir hatten zwar eine Menge erreicht. Bis Ende August 1987 reisten 3,2 Millionen DDR-Bürger privat in die Bundesrepublik, darunter 866.000 unterhalb des Rentenalters. Doch das Grundproblem, Reisen für alle, war nicht gelöst. Es scheiterte auch daran, dass den Regierenden der Bundesrepublik das Festhalten an überalterten politischen Prinzipien wie der Nichtrespektierung der DDR-Staatsbürgerschaft wichtiger war als die Reisefreiheit für alle DDR-Bürger. Viele von ihnen würden nun durch Honeckers Besuch, so meine damalige Überlegung, Hoffnungen schöpfen, auch ihre Verwandten besuchen zu können. Dass wir dafür mit Bonn keinen machbaren politischen Kompromiss schließen konnten, hat sich 1989 bitter gerächt.
Souveräne Entscheidung der DDR
Strauß empfing Honecker in München auf dem höchstmöglichen protokollarischen Niveau für Staatsoberhäupter. Zwischen den beiden gab es spätestens seit dem Straußbesuch in der DDR 1983 ein gewisses Vertrauensverhältnis, vielleicht so etwas wie Altersweisheit. Strauß sagte seinem Gesprächspartner, er habe die Signale aus der DDR für guten Willen verstanden, »so die Reisegenehmigungen, die Amnestie für Straftäter, die Abschaffung der Todesstrafe, zu der sich nicht einmal Frankreich habe entschließen können« [6]. Und er fügte einen Satz an, den die Justiz der Bundesrepublik bis heute nicht begreift, ein Satz, der die Realitäten an der Trennlinie zwischen NATO und Warschauer Vertrag widerspiegelte und der den Begriff »innerdeutsche Grenze« ad absurdum führte. Er sagte nämlich: »Die Grenzanlagen zwischen der DDR und der Bundesrepublik können nicht so sein, wie zwischen Bayern und Österreich.« [7]
Um den Besuch nachträglich aus ihrer Sicht ideologisch rechtfertigen zu können, verbreiten die offiziellen Geschichtsverdreher die Mär, die DDR habe 1987 die Todesstrafe abgeschafft, die Amnestie von Straftätern und weitere Justizreformen nur wegen des Drucks aus Bonn durchgeführt. Das entspricht ihrem Grundirrtum, dass alles, was der DDR gelang, nur vom Westen kommen konnte. Es mag ja sein, dass die DDR-Entscheidungen sich günstig auf die Atmosphäre des Besuchs ausgewirkt haben, aber ursächlich haben sie nichts miteinander zu tun. Sie waren eine souveräne Entscheidung der DDR. Wenn die sogenannten Historiker richtig recherchiert hätten, hätten sie herausgefunden, dass die Vorlagen zur Durchführung von Reformen im Justizwesen der DDR an den Staatsrat meine Unterschrift tragen. Die Grundgedanken dafür wurden schon auf einer Justizkonferenz der SED 1985 dargelegt. Ich habe 1987 die Vorlagen an den Staatsrat eingereicht, weil sie sich aus den Beschlüssen eines SED-Parteitages und nicht auf Druck von Kohl ergaben.
Anmerkungen:
[1] Das Gemeinsame Dokument »Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit« war am 28. August 1987 in den Medien der DDR veröffentlicht worden.
[2] Die Zitate sind aus Dokumenten bzw. Aufzeichnungen, die sich in meinem Privatarchiv befinden.
[3] Gemeinsame Pressemitteilung vom Treffen Honecker/Kohl am 12. März 1985 in Moskau. Siehe NEUES DEUTSCHLAND vom 13. März 1985.
[4] Siehe Urteil im sogenannten Politbüroprozess 1997.
[5] Freie Rede von Erich Honecker auf einem Empfang durch Oberbürgermeister Neuber im Bürgerhaus von Neunkirchen am 10. September 1987.
[6] Protokollniederschrift eines Vier-Augen-Gesprächs zwischen Erich Honecker und Franz Josef Strauß am 11. September 1987 in München.
[7] Ebenda.
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2016-06: Zum Wohnungsbauprogramm der DDR
2016-04: Auch in Deutschland sind Alternativen zum Kapitalismus möglich
2015-08: Ein lohnender Versuch, vom Kalten Krieg zur Entspannung überzugehen