Die Schlacht verloren, den Krieg gewonnen
Moritz Hieronymi, Berlin
Sun Yat-sen – Wegbereiter eines neuen Chinas
Zwei Jahre und zehn Monate war Puyi alt, als er im Jahr 1908 chinesischer Kaiser wurde. Das Reich des Drachen, der einzigen überdauernden Hochkultur, lag zu diesem Zeitpunkt am Boden: Zwei Opiumkriege, die Ungleichen Verträge und die Kolonisation durch die Barbaren aus dem Westen – ungeahnte Demütigungen für ein stolzes Volk.
Bereits vor den Angriffen von außen hatte sich das chinesische Kaiserreich in Dauerkrisen befunden. Die skurrile Weltabgewandtheit des Pekinger Kaiserhofs hatte zu einem Entwicklungsstillstand geführt. Neue technologische Innovationen im Zuge der Industriellen Revolution wurden mittelalterlichen Wirtschaftsweisen vorgezogen. Keinen Stillstand gab es hingegen im Bevölkerungswachstum: Anfang des 19. Jahrhunderts lebten über 350 Millionen Menschen in China. Mit weniger als 0,2 Hektar fruchtbarem Boden pro Kopf führte dies zu Versorgungsengpässen und später zur Massenverelendung der größten Bauernnation der Welt. [1]
Vielleicht hatten die chinesischen Bauern ihr Schicksal als Leibeigene hinnehmen können, aber als Hunger, hemmungslose Korruption und militärische Abenteuer den Rest des viel zu Wenigen weggenommen hatten, war eine Grenze überschritten.
In den 1770er Jahren hatte sich in der Provinz Shandong die Guerillaorganisation Weißer Lotus gegründet. [2] Unter dem spirituellen Führer Wang Lun entwickelte sich die Rebellengruppe zu einer Massenbewegung, die eine Vorbildfunktion für kommende Revolutionäre haben sollte. Alfred Döblin, der dem Revolutionär in seinem Roman Die drei Sprünge des Wang-Lun ein Denkmal setzte, beschrieb die herausragende politische Bedeutung dieses früheren Kampfkunstmeisters. Wang Lun war ein Anhänger des Buddhas Maitreya, dem die Aufgabe zukommt, die letzte Menschheitsschlacht zu führen, um ein Goldenes Zeitalter auf Erden zu begründen. [3]
Dieser millenaristische Utopismus beruht auf der Hoffnung eines gerechten Herrschers, der soziale Ungerechtigkeiten überwindet und gesellschaftliche Gleichheit gewährleistet. Das proto-sozialistische Heilsversprechen prägte auch die nachfolgenden Revolutionsbewegungen bis zur Tongmenghui-Bewegung, die im Jahr 1911 den letzten Aufstand organisierte. Von der Stadt Wuhan aus rollte die Bewegung über ganz China. Es gab keine Halten mehr: Am 12. Februar 1912 unterschrieb die Kaisermutter die Abdankung ihres Sohnes Puyi. Zu diesem Zeitpunkt war der Kaiser sechs Jahre alt. Es war das Ende von mehr als 2000 Jahren Kaiserherrschaft über China. [4]
Der verratende Präsident
Der Organisator des Kaisersturzes hieß Sun Zhongshan, im Westen als Sun Yat-sen bekannt. Er übernahm ein Land ohne industrielle Basis, das halbfeudale und halbkoloniale Strukturen aufwies: Die Westmächte hatten seit den Ungleichen Verträgen de facto die Kontrolle über die größten chinesischen Häfen und einzelne Landesteile. So hatte sich das Russische Zarenreich unter anderem die Äußere Mongolei und die Stadt Haishen-wei, besser bekannt als Wladiwostok, einverleibt.
Der studierte Arzt und gläubige Christ Sun Yat-sen war ein untypischer chinesischer Intellektueller der 1890er Jahre. In Kanton geboren, zog seine Familie in das Königreich Hawaii. Mit 17 Jahren kehrte er zurück, um in Hongkong zu studieren. Dort kam er mit verschiedenen christlichen Sekten und vermutlich einer Tiraden-Bande (ursprüngliche Widerstandsgruppen, die später mafiöse Strukturen etablierten und bis heute erheblichen politischen Einfluss in Taiwan haben) in Kontakt. Nach einem gescheiterten Putschversuch ging er ins britische, später japanische und malaysische Exil. Die Jahre in London prägten das ideologische Fundament Sun Yat-sens wesentlich. Hier studierte er eifrig Philosophie, Geschichte sowie Nationalökonomie und entwickelte Sympathien für die bürgerliche Ideologie. In Tokio gründete er die Organisation Tongmenghui, die verschiedene Widerstandsgruppen gegen den Kaiser vereinte und den Rebellenkampf organisierte. [5]
Obwohl die siegreiche Tongmenghui den größten Anteil an der Revolution von 1911 hatte, wurde Sun Yat-sen nicht der erste Präsident der Republik China. Stattdessen wurde es der fettleibige Premierminister des letzten Kaisers, Yuan Shikai. Yuan Shikai, bekannt für seine Listigkeit und seinen grenzenlosen Opportunismus, hatte mit den Rebellen ausgehandelt, dass er der Kaisermutter die Abdankung abringen würde, wenn er im Anschluss das Präsidentschaftsamt übernehmen könnte. Sun Yat-sen verzichtete infolgedessen auf seine Anwartschaft, ein schwerwiegender Fehler, da der ehemaligen Hofschranze weiterhin die kaiserliche Armee unterstand. [6]
Im Jahr 1913 brach eine zweite Revolution aus, in deren Wirrwarr faktisch zwei Parteien den Alleinvertretungsanspruch über China erklärten: die Beiyang-Regierung und die neugegründete Kuomintang. Während die Beiyang-Führung in Peking erneut das Kaiserreich ausrief und ihre Macht auf militärische Cliquen, die sogenannten Warlords, stützte, versuchten die Anhänger von Sun Yat-sen in Nanjing, eine bürgerliche Regierung zu etablieren. In dieser Gemengelage beteiligten sich auch die USA [7]: So erkannte Präsident Woodrow Wilson die monarchische Beiyang-Führung als alleinige Regierung Chinas an. Infolgedessen gewährten die USA Kredite, wodurch die Truppen von Yuan Shikai erheblich ausgebaut werden konnten. Im Gegenzug wurde den USA zugesichert, dass die im Rahmen der Ungleichen Verträge gewährten Wirtschaftskonzessionen fortbestehen würden.
Sun Yat-sen, der anfangs noch auf die USA hoffte, suchte zunehmend Kontakte nach Moskau. Obwohl er dem Marxismus kritisch gegenüberstand, hatte er Sympathien für Lenins Neues Ökonomisches System entwickelt. Im Januar 1923 entsandte die Sowjetunion Adolf Joffe nach Nanjing, um über den Status der vom Zarenreich okkupierten Gebiete in China zu verhandeln. Anstatt die Grenzstreitigkeiten beizulegen, kam es zur Ratifizierung des Sun-Joffe-Manifests. Darin verpflichtete sich die Sowjetunion, den Kampf um die Wiederherstellung der nationalen Einheit Chinas zu unterstützen. Dafür sollte die Kuomintang eine Allianz mit der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) eingehen. [8]
Zwei Jahre später starb Sun Yat-sen. Die Einheit des Landes wurde nicht zu seinen Lebzeiten vollendet.
Auf der Suche nach einem chinesischen Weg:
Zwischen Kapitalismus und Sozialismus
Das ideologische Fundament von Sun Yat-sen ist in den Drei Prinzipien des Volkes niedergelegt: 民族 (Volkseinheit), 民权 (Recht des Volkes) und 民生 (Lebensstandard des Volkes). [9]
Die Schwerpunktsetzung auf den Volksbegriff steht in Abgrenzung zur Institution des gottgleichen Kaisers. Das chinesische Volk soll in die Position versetzt werden, über seine eigenen Angelegenheiten selbst zu bestimmen. Sun Yat-sen, der zwar von den Idealen des bürgerlichen Staates ausging, kritisierte dennoch die Substanzlosigkeit und die mangelnde Realisierung des Volkswillens in westlichen Gesellschaften. Daher sollte in einem republikanischen China die Volksherrschaft durch vier demokratische Rechte gewährleistet werden: Wahlen, Abberufungen, Initiativen und Referenden. Zur Sicherstellung einer Balance zwischen direkter und repräsentativer Demokratie war eine Prüfungs- und Kontrollbehörde als vierte Gewalt geplant. [10]
Inwieweit sich diese Volksdemokratie auf wirtschaftliche Angelegenheiten erstrecken würde, hatte zu Kontroversen in der Auslegung des dritten Prinzips »Lebensstandard des Volkes« geführt. Wesentlich für die Sun-Yat-sen-Ideologie ist die kapitalismuskritische Ausrichtung, die jedoch keinen marxistischen Ursprung hat. [11]
So wurde die Kollektivierung von Landflächen abgelehnt und ein sozialreformistischer Weg verfolgt. Mithilfe von Substanzsteuern sollten Landflächen gezielt verteuert werden. Hierdurch erhoffte man sich, die Landspekulation zu unterbinden, wodurch Großgrundbesitzer unter Druck gesetzt würden, ihr Land an den Staat zu verkaufen. Dieser Grund und Boden sollte sodann an Kleinbauern verteilt werden.
Lenin kritisierte frühzeitig Sun Yat-sens Pläne [12] und warnte vor einem Bumerang-Effekt. Obwohl die Steuerpolitik die feudalen Monopole zerschlagen könnte, würde dies nicht zur Verbesserung der Lage der Kleinbauern führen, sondern eine Hyperspekulation auf Landflächen auslösen. Anstatt den Kapitalismus zu begrenzen, würde der Agrarkapitalismus entfacht. Diese Analyse stellte sich als zutreffend heraus. Ferner hatte Sun Yat-sen die so notwendige Industrialisierung des Landes vernachlässigt. Shanghai blieb das einzige Industriezentrum des Landes, sodass die proletarische Klasse im Verhältnis zur Bauernschaft verschwindend klein blieb.
Obwohl Sun Yat-sen für die chinesischen Verhältnisse progressive Ansätze verfolgte, schaffte er es nicht, China von den feudalen Strukturen zu befreien. China blieb ein halbfeudaler Staat. Auch deshalb fiel die Gründung der KPCh in die Zeit des republikanischen Chinas.
Die große Wiedererweckung Chinas
Aus Sicht Lenins lag der Hauptcharakter der Revolution von 1911 in der ethnischen Erneuerung des Landes. [13] Knapp 300 Jahre lang wurde die Mehrheitsbevölkerung der Han-Chinesen von der Qing-Dynastie, einer Manchu-Minderheit, fremdbeherrscht. Diese Jahrhunderte, geprägt von Lethargie, hatten China in eine kulturelle Krise gestürzt.
Nach der Revolution von 1911 stand das Reich der Mitte im Spannungsverhältnis zwischen einer konfuzianisch geprägten Gesellschaft und einem Öffnungsdrang in Richtung westlicher Ideen, unter anderem bürgerlicher Demokratie, Sozialismus und Kommunismus. Dem stellte Sun Yat-sen die Prämisse voran: »Die Wiederherstellung unserer Nation setzt die Wiederbelebung unseres Nationalgeistes voraus.« [14] Dabei sah er in der Stärkung der nationalen Identität die Voraussetzung, um China zu vereinen und eine glorreiche Zukunft zu ermöglichen.
Sun Yat-sen nahm für den intellektuellen Erneuerungsprozess auch Anleihen aus westlichen Denksystemen. Größte Aufmerksamkeit schenkte er dabei der Bewahrung eigener nationaler Besonderheiten bei gleichzeitiger Anpassungsbereitschaft an die Veränderungen in der Welt. Ein richtiges Austarieren zwischen Bewahrung und Fortschritt sollte dabei stets berücksichtigt werden.
Dass dieser Balanceakt bis heute von großer Bedeutung ist, zeigte sich in der jüngsten Rede von Xi Jinping auf dem nationalen Schriftsteller- und Künstlerforum. [15] Dort bemängelte der chinesische Präsident, dass die Gegenwartskultur auf der Welle der Marktwirtschaft ihren tieferen Sinn und Zweck nicht verlieren dürfe. Kunst müsse, so Xi, die Traditionen aufnehmen und auf aktuelle Themen reagieren.
Für Sun Yat-sen sollte die Stärkung der nationalen Identität China vor der Hegemonie des Westens bewahren. Was einst in der unzulänglichen Abwehr der Einmischung in die inneren Angelegenheiten durch die USA bestand, besteht heute in der Stärkung eigener Abwehrkräfte vor subversiven Einflüssen, aber auch im Wettstreit um kulturelle Dominanz. So sind es die USA, deren Soft Power, ein subjektiv wirkendes Instrument imperialer Machtausübung, weiterhin weltweit dominiert.
Sun Yat-sens Antrieb, ein China zu schaffen, das der Welt zugewandt ist, ohne sich selbst aufzugeben, ist bis heute der schwierigste Spagat und der umstrittenste Reibungspunkt für Verantwortliche in Politik, Kunst und Gesellschaft.
Gedenkt unsrer mit Nachsicht
Sun Yat-sen (12. November 1866 – 12. März 1925) starb vor 100 Jahren. Was bleibt? Er ist ein unvollendeter Revolutionär, dessen Größe in seinem Gespür für die richtigen Entscheidungen in historischen Momenten lag. Wenn heute über die siegreichen Revolutionäre gestaunt wird, wird oft übersehen, auf wessen Wegen sie gingen.
Sun Yat-sen hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Kaiserherrschaft in China endete. Die Drei Prinzipien des Volkes und das Sun-Joffe-Manifest haben den Verlauf der Geschichte entscheidend geprägt. Dennoch gelang es ihm nicht, das chinesische Volk zu einen – diese Aufgabe übernahm erst Mao Zedong. In großer Weitsicht stellte Mao im Jahr 1956, 45 Jahre nach der Revolution von 1911, fest, dass sich das Gesicht Chinas vollkommen geändert habe. »In den nächsten 45 Jahren, bis zum Jahr 2001, dem Beginn des 21. Jahrhunderts, werden die Veränderungen Chinas noch viel tiefgreifender sein.« [16] Er sollte recht behalten.
Die Geschichte des modernen Chinas begann im Jahr 1911.
Anmerkungen:
[1] Vogelsang, Kleine Geschichte Chinas, 2014, S. 196.
[2] Twitchett/Fairbank, The Cambridge History of China, Vol. 12, 2005, S. 27 f.
[3] Ibidem.
[4] Twitchett/Fairbank, The Cambridge History of China, Vol. 13, 2002, S. 20 f.
[5] Strand, The Unfinished Revolution, 2011, S. 23-26.
[6] Schumann/Schell, Republican China, 1967, S. 21 ff.
[7] Hierzu Doktorarbeit: Xu, 五权宪法监察权研究, Wuhan Universität, 2006, abrufbar: http://read.nlc.cn/allSearch/searchDetail?searchType=&showType=1&indexName=data_408&fid=003288221 [21.02.2025].
[8] [Fn. 6], S. 87 ff.
[9] Sun, The Three People’s Principle and the Future of the Chinese People, in Wei/Myers/Gillin (Hrsg.), Prescriptions for Saving China, 1994, S. 76 f.
[10] Sun, The Three People’s Principle and the Future of the Chinese People, in: ibid., S. 235-237.
[11] Sun, The Principles of the People’s Livelihood and Social Revolution, in: ibid., S. 92 f.
[12] Lenin, Demokratie und Volkstümlerideologie in China, Lenin Werke, Vol. 18, S. 152-158.
[13] Ibidem.
[14] Wells, The Political Thought of Sun Yat-sen, 2001, S. 197-199.
[15] Xi, Speech at the Forum on Literatur and Art, in: Qiushi, 13.01.2025, abrufbar: http://en.qstheory.cn/2025-01/13/c_1063923.htm [21.02.2025].
[16] Mao, In Commemoration of Dr. Sun Yat-sen, in: Selected Works, Vol. 5, 12.11.1956, abrufbar: https://www.marxists.org/reference/archive/mao/selected-works/volume-5/index.htm [21.02.2025].
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