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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die "Neuordnung Europas" unter deutscher Ägide: Der Plan "Barbarossa"

Dr. phil. Wolfgang Biedermann, Berlin

 

Als am 22. Juni 1940 in Compiègne, nördlich von Paris, das deutsch-französische Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet wurde, waren bereits große Teile Europas durch den faschistischen deutschen Stiefel okkupiert: Polen, Dänemark, Norwegen, Belgien, Niederlande und Luxemburg. [Jugoslawien und Griechenland werden im April 1941 niedergeworfen.] Die erste Etappe auf dem Wege zur wirtschaftlichen und politischen Umgestaltung des europäischen Kontinents war aus Sicht der faschistischen Aggressoren im Wesentlichen beendet.

Die Eroberungspolitik stand zugleich im Zeichen der europäischen Großraumwirtschaft unter deutscher Führung, das meint vor allem die realen Möglichkeiten zur Einflußnahme auf die nationalen Wirtschaften in den besetzten Ländern. Zu diesem Wirtschaftsraum zählten neben den bereits erwähnten weitere: Schweden, Finnland, Böhmen und Mähren (Protektorat), Polen ohne westliche und nördliche Gebiete (Generalgouvernement), Slowakei, Ungarn, Jugoslawien, Rumänien, Bulgarien.

In diesem Sachzusammenhang war zu prüfen, "an welchen Rohstoffen und an welchen Verarbeitungsstätten in dem von Deutschland beherrschten Wirtschaftsraum Mangel herrschen wird" und inwieweit die "Ausweitung der Produktion […], Verdrängung fremden Kapitals […], Aufbau neuer Industrien, Anschluß bestehender Industrien an vorhandene deutsche Kartelle, Aufbau neuer Kartelle" [Bergschicker, H., Deutsche Chronik 1933–1945. Berlin: Verlag der Nation 1981, S. 320. Bericht über die Besprechung in der H[aupt A[teilung ) des Reichswirtschaftsministeriums am 30. Juli 1940.] organisiert werden kann. Zur Durchdringung und Ausbeutung des von Hitlerdeutschland beherrschten Europa waren im Jahr 1939 besondere Institutionen wie die "Haupttreuhandstelle Ost" oder die "Deutsche Umsiedlungs-Treuhand-Gesellschaft" gegründet worden. Ihr Zweck: die Plünderung der besetzten Gebiete durch die Beschlagnahme von Eigentum und die Umsiedlung von Deutschen in Gebiete, die zum Großdeutschen Reich (Deutschland, Österreich, Böhmen, Mähren und die polnischen Nord- und Westgebiete) gehörten.

So meldeten beispielsweise die IG Farben kurz nach dem Überfall auf Polen, Anspruch auf die dort befindlichen Anilinwerke nebst ihren Vorräten an: "Bitten schon jetzt R[eichs]-Wi[rtschafts]-M[inisterium] von nachstehenden Zusammenhängen zu unterrichten: im Laufe der nächsten Tage werden aller Voraussicht nach vier polnische Farbstoffabriken in deutsche Hände fallen … Auf den Fabriken befinden sich erhebliche und wertvolle Vorräte in Vor-, Zwischen- und Endprodukten, […]. [Wir] möchten […] es für unbedingt erforderlich halten, daß die Verwertung der vorgesagten Vorräte im Interesse der deutschen Volkswirtschaft durch Sachverständige erfolgt. Nur die IG ist in der Lage, diese Sachverständigen zu stellen." [Ebenda. S. 309. Fernschreiben des Vorstands- und Zentralausschußmitglieds der IG Farben, v. Schnitzler, an den IG-Direktor Krüger vom 7. September 1939.(Auszug).]

Vor einem solchen Hintergrund gab es seitens der Reichsgruppe Industrie (RGI) unter anderem die Überlegung, "für die Vielzahl der einfachen, untergeordneten und primitiv erscheinenden Arbeiten nichtvolksdeutsche Arbeitskräfte zu verwenden, vielmehr sollen solche Arbeiten ausschließlich von Angehörigen sogenannter Hilfsvölker (vorwiegend Slawen etc.) ausgeführt werden. Dem volksdeutschen [Bezeichnung für deutschsprachige Bevölkerung im Ausland nach 1919.] Arbeiter soll eine gehobenere, qualitativ wertvollere Arbeit vorbehalten bleiben …" [Ebenda. S. 322. Streng vertrauliche Denkschrift der Reichsgruppe Industrie vom 1. August 1940 (Auszug).] Der Gedanke findet sich dann auch in einem Aktenvermerk von M. Bormann, Leiter der Parteikanzlei der NSDAP, nach einer Besprechung mit Hitler im Oktober 1940: "[…] das Generalgouvernement sei unser Reservoir an Arbeitskräften für niedrige Arbeiten." [Zitat in: Poltorak, A., Nürnberger Epilog. Berlin: Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik 1975. S. 563.]

Im Klartext hieß das für die Betroffenen Zwangsarbeit, die bereits mit der Arbeitspflicht (Oktober 1939) für alle Polen im Generalgouvernement erste Konturen annahm und mit der darauf beginnenden Verschleppung polnischer Arbeitskräfte in das "Kernreich" exekutiert wurde. Das institutionalisierte System der Zwangsarbeit wurde sukzessive auf Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge ausgedehnt und garantierte den Unternehmern eine ansehnliche Rendite. [Siehe ausführlich: Kuczynski, Th., Brosamen vom Herrentisch. Berlin: Verbrecher Verlag 2004. S. 59–138.] In Parenthese: Für die deutschen Industriellen hatte, wie niemals zuvor, eine sagenhafte Zeit begonnen: die massenhafte Aneignung fremden Eigentums, die Ausschaltung der Konkurrenz sowie ein hemmungsloser Lohnraub, und dies alles im "legalen" Rahmen.

War im Osten hauptsächlich das "Beutemachen" vorrangig, so modifizierte sich im Westen die Ausraubung: "Es kam hier nicht allein auf das ‚Beutemachen’, also den Abtransport der Rohstoff- und Nahrungsmittelvorräte sowie die Abwerbung von Arbeitskräften an – was beides selbstverständlich nicht vernachlässigt wurde – sondern vielmehr auf die systematisches Ausnutzung des hochwertigen Wirtschaftsapparates der Länder für die deutsche Rüstungswirtschaft." [Der Vierjahresplan Herbst 1936 – Herbst 1940, ZXIDK, 700-1-6, in: Schmelzer, J., Devisen für den Endsieg. Stuttgart: Schmetterling Verlag 2003. S. 70.]

Binnen zweier Jahre (1938–1940) hatte sich Deutschland, ab dem 1. September 1939 durch die erfolgreiche Strategie des Blitzkrieges [Diese militärische Doktrin basierte, entsprechend der militärtechnischen Entwicklung, auf dem Überraschungseffekt, der einen relativ arglosen oder getäuschten Gegner zur Voraussetzung hatte.], die Verfügungsgewalt über ein beträchtliches (kriegs)wirtschaftliches Potential verschafft. Daneben konnte es unter anderem auf die Vasallendienste Italiens, Ungarns, Bulgariens und Rumäniens zählen. Auch Finnland, daß von einem "Großfinnland" träumte, war bereit, im Norden gegen die UdSSR zu kämpfen.

Berauscht von den siegreichen Feldzügen nach allen Himmelsrichtungen, die zudem durch einen vergleichsweise geringen Verlust an Mannschaften und Material gekennzeichnet waren, richteten sich die entzückten Blicke der faschistischen Macher nunmehr nach Osten, auf die UdSSR.

Der Plan "Barbarossa"

Dieser Plan, benannt nach dem deutschen Kaiser Friedrich Barbarossa (um 1122–1190) steht synonym für Weltherrschaft. Barbarossa selbst fand während des 3. Kreuzzuges (feudale Expansion) in Kleinasien, gewissermaßen vor den Toren Palästinas, den Tod.

In den 1920er Jahren hatte Hitler bereits programmatisch in "Mein Kampf" verkündet, die zukünftige Bodenpolitik, mithin der Lebensraum der Deutschen, liege im Osten. Eine tragende Säule der faschistischen Außenpolitik war demgemäß der Krieg (und die Kriegsvorbereitung) gegen die Sowjetunion.

Nunmehr, vor allem aber in Anbetracht der erzielten Ergebnisse, war die militärische Niederlage der UdSSR eine beschlossene (!) Sache: "Damit verfüge es [Deutschland, W. B.] über alle Möglichkeiten, in Zukunft auch den Kampf gegen Kontinente zu führen, es könne dann von niemand mehr geschlagen werden. Wenn diese Operation [Barbarossa, W. B.] durchgeführt würde, werde Europa den Atem anhalten." [Bergschicker, H., Deutsche Chronik 1933–1945. A.a.O. S. 317. Kriegstagebuch des OKW über Ausführungen Hitlers vor den Befehlshabern am 9. Januar 1941 (Auszug).] Mit einem Wort: das Tor zur Weltherrschaft wäre aufgestoßen. Welche Vision!

Im Juli 1940, so die Aufzeichnungen des Generalstabschefs des Heeres und Kriegsplaners F. Halder, hatte Hitler unumstößlich beschlossen, die UdSSR im Frühjahr 1941 anzugreifen, zu erledigen. Nach dessen Meinung wäre die "russische Wehrmacht" momentan "ein tönerner Koloß ohne Kopf" [Gemeint sind hier die Repressionen 1937/38 gegenüber den militärischen und politischen Kadern.] und die mit "fremder Hilfe entwickelte Rüstungsindustrie [hätte] große Schwierigkeiten", so daß der Zeitpunkt zum Losschlagen jetzt gekommen sei. Alles in allem käme es darauf an, mit einer geballten stählernen Faust, rasch den Weg auf breiter Front nach Moskau zu ebnen, um dem Bolschewismus den Todesstoß zu versetzen. Etwaige Unwägbarkeiten während des kurzen und sehr materialintensiven Verlaufs der Kriegshandlungen sollten nach Möglichkeit gänzlich ausgeschlossen werden.

Das künftige Aufmarschgebiet in Richtung Osten, letztlich bis auf eine Distanz von 60-80 km von den westlichen Grenzen der Sowjetunion entfernt, war daher strategisch auszubauen und mit einer entsprechenden Infrastruktur zu versehen. Hierzu zählten Wehrmachtsvorräte alle Art: Geräte, Treib- und Schmierstoffe, Munition, Verpflegung; der Ausbau des Straßen- und Schienennetzes, viele Flugpisten und nicht zu vergessen: die Schaffung diverser Truppenübungsplätze (Weisung "Aufbau Ost", August 1940).

Fieberhaft wurden ab dem Spätsommer 1940 die Kapazitäten zur Rüstungsproduktion und deren ausschlaggebenden Grundstoffindustrien zur Erzeugung von Buna, Benzin, Diesel, Schmieröl, Aluminium, Pulver und Sprengstoff erweitert und bestehende Produktionsstätten intensiviert. Es versteht sich, daß diese Vorhaben nur durch die massenhafte Zuführung von Kriegsgefangenen und ausländischen Arbeitskräften (Zwangsarbeitern) [Siehe: Kuczynski, Th., Brosamen vom Herrentisch. A. a. O. Tabelle Kriegswirtschaftliche Kräftebilanz. S. 69.] verwirklicht werden konnten. In diesem Kontext soll lediglich erwähnt werden, daß der spürbare Mangel an Facharbeitern zeitweilig durch Freistellungen vom Kriegsdienst kompensiert werden sollte.

Im Ganzen: Die Rüstungsmaschinerie begann auf Hochtouren zu laufen und die Wehrmacht wurde personell aufgestockt. Die folgende Tabelle [Burckhart Mueller-Hillebrand, Das Heer 1939–1945. Darmstadt 1954/1956. 2. Bde.; Weltkrieg 1939–1945. Ehrenbuch der deutschen Wehrmacht. Stuttgart 1954. In: Der deutsche Imperialismus und der zweite Weltkrieg. Bd.1. Berlin: Rütten & Loening 1960. S. 116.] verdeutlicht das Anwachsen des militärischen Potentials Deutschlands innerhalb der ersten zwei Kriegsjahre.

Entwicklung der deutschen Streitkräfte

 1. September 1939   1. Mai 1940   1. Juni 1941
Divisionen insgesamt   103156214
davon Panzer51021
davon Motorisierte4614
Panzer320033875640
Flugzeuge4405590010000

 

In die Panzerwaffe setzten die Nazis bei der Durchführung des Plans "Barbarossa" in der Manier des Blitzkrieges besondere Erwartungen: "Die im westlichen Rußland stehende Masse des russischen Heeres soll in kühnen Operationen unter weitem Vortreiben von Panzerkeilen vernichtet, der Abzug kampfkräftiger Teile in die Weite des russischen Raumes verhindert werden. In rascher Verfolgung ist dann eine Linie zu erreichen, […]. Das Endziel der Operation ist die Abschirmung gegen das asiatische Rußland aus der allgemeinen Linie Wolga-Archangelsk." [Bergschicker, H., Deutsche Chronik 1933–1945. A.a.O. S. 316. Hitlers OKW-Weisung Nr. 21 vom 18. Dezember 1940. Fall Barbarossa (Auszug).] Der Luftwaffe waren folgende Aufgaben zugedacht: überraschendes und tiefes Eindringen ins Hinterland, vor allem die Zerstörung der sowjetischen Luftstreitkräfte (Erringung der Luftherrschaft), Bombardierung von Verkehrsknotenpunkten und -wegen sowie die Terrorisierung der Zivilbevölkerung.

Wie in den Memoiren eines berühmten sowjetischen Flugzeugkonstrukteurs beschrieben, hatte der Krieg die grenznahen Luftstreitkräfte in der Periode ihrer kompletten Umgestaltung und Umschulung des Personals überrascht: 1200 Flugzeuge gingen in den ersten drei Kriegstagen verloren, wovon 900 am Boden zerstört worden waren. [Jakowlew, A., Ziel des Lebens. Aufzeichnungen eines Konstrukteurs. Verlag: Progress Moskau 1982. S. 242.]

Mit der Erzeugung eines enormen militärischen Potentials, zuzüglich der taktisch günstigen Aufmarschgebiete, waren aus Sicht der Kriegsplaner alle Bedingungen für den Fall "Barbarossa" gegeben. Aus strategischen Gesichtspunkten mußte der Überfall jedoch blitzartig erfolgen und das erforderte die strikteste Geheimhaltung: "Entscheidender Wert ist jedoch darauf zu legen, daß die Absicht eines Angriffs nicht erkennbar wird." [Bergschicker, H., Deutsche Chronik 1933–1945. A a. O. S. 316. Hitlers OKW-Weisung Nr. 21 vom 18. Dezember 1940. Fall Barbarossa (Auszug).]

Als groß angelegtes Täuschungsmanöver, eines von vielen, erwies sich in dieser Hinsicht dann ein Vorhaben, das unter dem Namen "Seelöwe" in die Kriegsgeschichte einging. Hierunter verbarg sich die Weisung (16. Juli 1940) zur Invasion der Britischen Inseln, welche allerdings im Herbst gleichen Jahres erst einmal zu den Akten kam. War der Fall "Seelöwe" bis dato nur einem kleinen Kreis von Mitarbeitern im deutschen Generalstab bekannt, so wurde er jetzt zur Desinformation benützt. Die anschwellende Propagandawelle im Reich verkündete permanent und scheppernd, daß Deutschland der "englischen Plutokratie" in Bälde den Garaus machen werde. In Ergänzung: Hinter den massiven Truppenverschiebungen in Richtung Osten, die sich schwerlich geheim halten ließen, verberge sich lediglich ein gigantischer Bluff. W. Keitel, im Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß zum Tode verurteilt, vermerkte: "[…] die Aufmarschbewegung Barbarossa [ist] als das größte Täuschungsunternehmen der Kriegsgeschichte hinzustellen, das dazu diene, von den letzten Vorbereitungen der Invasion nach England abzulenken." [Bergschicker, H., Deutsche Chronik 1933–1945. A. a. O. S. 363. Richtlinien des OKW-Chefs Keitel "für die Feindtäuschung vom 15. Februar 1941 (Auszug).]

Zu Beginn des wortbrüchigen Überfalls auf die UdSSR (22. Juni 1941) kamen von deutscher Seite 152 Divisionen und 2 Brigaden zum Einsatz, das waren 69,6 % des gesamten Heeresbestandes. [Der deutsche Imperialismus und der zweite Weltkrieg. A. a. O. S. 130.] Die Satellitenstaaten Finnland, Rumänien und Ungarn unterstützten die Aggression mit 37 Infanteriedivisionen. In summa waren 5,5 Millionen Mann, über 47.000 Geschütze und Granatwerfer, rund 4.300 Panzer und Sturmgeschütze und etwa 5.000 Kampflugzeuge aufgeboten worden. [Solowjow, B. G., Von Plan "Weiss" zu "Barbarossa". Die geheime Vorbereitung des zweiten Weltkrieges. Moskau/Berlin: Verlag Progress/Staatsverlag der DDR 1989. S. 176.] Die Frontlänge betrug anfänglich bis zu 1.500 km. Aus alledem ist offensichtlich, daß der östliche Kriegsschauplatz für den Ausgang des Zweiten Weltkrieges der entscheidende war.

Im Feldzug gegen die UdSSR erhielt der II. Weltkrieg eine komplementäre Komponente, die sich bereits im okkupierten Polen andeutete: Neben der wirtschaftlichen Ausplünderung war es unbedingte Absicht, das sowjetische Volk weitestgehend zu vernichten, ["Alle notwendigen Maßnahmen – Erschießen, Aussiedeln etc. – tun wir trotzdem und können wir trotzdem tun. […] Die Krim muß von allen Fremden geräumt und deutsch besiedelt werden." Aufzeichnungen Bormanns vom 16. Juli 1941. In: Bergschicker, H., Deutsche Chronik 1933–1945. A. a. O. S. 365.] zu dezimieren und den Rest zu versklaven ("Generalplan Ost"), um die Beute nachhaltig zu sichern.

 

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