Die Linke und ihre Sicht auf die USA
Victor Grossman, Berlin
Sebastian Voigt und die "Shalom"-Gruppe, der er zugehört, erklären sich gegen Anti-Semitismus, Anti-Amerikanismus, Anti-Zionismus, regressiven Anti-Kapitalismus und Anti-Imperialismus. Was regressiver Kapitalismus ist, weiß ich nicht, auch nicht, ob die jetzige Weltfinanzkrise dazugehört oder etwa progressiven Kapitalismus darstellen soll. Doch den Antisemitismus hasse auch ich; bekämpft habe ich ihn immer, auch als er den häßlichen Neo-Nazi-Kopf unter Polizeischutz erhob. Über den Zionismus zu streiten, oft eine Definitionsfrage, fehlt heute wohl die Zeit. Gegen Imperialismus bleibe ich entschlossen, wie seit meinen jüngsten Jahren. Darüber, und was Antiamerikanismus ist, müssen wir jetzt streiten.
Voigt wirft uns Linken vor, wir verfallen dem Manichäismus, dem groben Einteilen in Gut und Böse, Schwarz und Weiß. Dazu gehört für ihn der Anti-Amerikanismus, das sei, wie er sagt, der "Haß wider ein ganzes Volk und seine Zivilisation", der sich zu einer Karikatur erniedrigen kann, und "dann rutscht Intellekt in die Nähe zur Akzeptanz von Massenmord."
Das wäre schlimm! Doch wer pflegt so etwas? Bei den Linken sehe ich keinen blinden Haß oder Antiamerikanismus. Wer sieht denn die Welt in der Tat nur in Schwarz-Weiß? Vor einigen Jahren schrieb Sebastian Voigt:
"Der 11. September ist das größte antisemitisch motivierte Massaker seit den Verbrechen der Deutschen im 2. Weltkrieg ... an diesem Tag wurde die Gefährlichkeit der weltweiten islamistischen Bewegung in grausamer Weise evident." "Als Konsequenz aus den Ereignissen änderte die Bush Administration ihre Außenpolitik um nahezu 180 Grad. ... und verstand den 11. September als das, was er war: eine Kriegserklärung an die USA."
Stop! Pflichtete Sebastian Voigt nicht hiermit den Worten von George Bush bei: "Entweder für uns oder gegen uns!? Ich zitiere weiter:
"Angesichts dieser totalitären Bedrohung der bürgerlichen Gesellschaft plädiere ich für eine Akzentverschiebung der Kritik ... nicht jede Kritik am Kapitalismus ist emanzipatorisch ... die bürgerliche Gesellschaft und die Errungenschaften des Westens sind gegen ihre negative Aufhebung zu verteidigen ... weil dies die Prämisse dafür ist, daß irgendwann doch noch einmal eine Gesellschaft frei von Herrschaft und Ausbeutung errichtet werden kann".
Verstehe ich das richtig? Gewiß müssen wir demokratische Freiheiten verteidigen, wo sie noch präsent sind. Doch sollen gerade wir Linken ausgerechnet die bürgerliche Gesellschaft der USA verteidigen! Weil sie vielleicht eines Tages sich als Utopie entpuppt? Vielleicht gar als eine sozialistische? Und deshalb sollen wir den Anti-Kapitalismus ablehnen? Wenigstens den regressiven. Was wäre dabei progressiv? Gerade in diesen Tagen erkenne ich im Kapitalismus recht wenig an Progressivem! Natürlich, was ab dem 20. Januar 2009 in den USA kommt, können wir noch nicht wissen.
Vermutlich hat Sebastian Voigt, vielleicht nach längerem Aufenthalt, eine große Liebe für die USA entwickelt. Als Amerikaner kann ich das nachfühlen. Es ist ein schönes Land, fast ein Kontinent, mit oft wunderbaren Menschen, deren knappe Mehrheit vor zwei Wochen eine erstaunliche Tat vollbracht hat. Ihre Geschichte ist faszinierend; uns eint wohl die Liebe dafür. Zur DDR-Zeit schrieb ich zwei Geschichtsbücher, die ein echteres Bild über meine Heimat bieten sollten als manche damalige Leitartikel oder Lehrer. Wie Voigt schreibt, spielten große, demokratische Gedanken bei der Gründung der USA eine Rolle. Es trifft zu, daß aus dem einmaligen Nationalitätengemisch eine vielseitige Kultur entstand, die in der Welt stets wie ein Magnet wirkte. Daß dort Millionen, wie meine Großeltern, Freiheit von Pogromen, Unterdrückung und Hunger suchten, ist auch wahr.
Ich stimme auch zu: eine Menge Quatsch ist über die USA geschrieben worden (wie etwa in den USA über Frankreich, Rußland, die DDR). Doch wenn Voigt bis Columbus zurückgreift und jede doofe Bemerkung als Beweis dafür sieht, daß alle Kritiker "Anti-Amerikaner" waren, und häufig Anti-Semiten dazu, scheint er genau solchem Gut-Böse-Manichäismus zu verfallen, wogegen er polemisiert.
Gewiß, er erwähnt unschöne Seiten der Geschichte, wie die Verdrängung der Indianer, die Sklaverei, ganz knapp den Vietnamkrieg und Abu Ghraib, den er gleich mit Saddam Husseins Verbrechen relativiert. Doch insgesamt schildert er ein modernes, nachahmenswertes Land, einen Leuchtturm für die Welt. Er erinnert uns Linke an den lobenden Brief von Karl Marx an Abraham Lincoln wegen dessen gestärkter Position gegen die Sklaverei. Ja, 1863 war der Kampf gegen die Sklavenstaaten der Unterstützung wert.
Nur darf man nicht vergessen, daß bis dahin das Wirtschaftswachstum in großem Maße gerade durch die Verdrängung der Indianer und vor allem die Sklaverei erreicht wurde. Damit begann die große Tragik meines Landes, die bis heute nachwirkt. Ein Geschichtsgelehrter darf nicht vergessen, daß schon 14 Jahre nach jenem Lobesbrief die Partei des ermordeten Lincoln die befreiten Sklaven verriet, die Schutztruppen vom Süden wegzog und in den Westen gegen Indianer einsetzte oder in den Norden, wo sie kämpfende Arbeiter niederschossen oder aufhängen ließen. Da begann das "vergoldete Zeitalter" der riesigen Trusts, die Zeit, wo sie alle Branchen der schönen USA-Verfassungsstruktur für ihre Zwecke aufkauften. Dann zogen sie fort, um möglichst viel von der übrigen Welt zu erobern: Hawaii, Puerto Rico, Kuba, die Philippinen. Präsident McKinley ließ sich direkt von Gott überreden, die Philippiner zu massakrieren und zu erobern. Auch Bush ließ sich durch seinen Gott zum Irakkrieg inspirieren. 4.000 Amerikaner starben dabei, vielleicht eine Million Iraker, meist Zivilisten. Schalom heißt Frieden. Was meint Shalom zu solchen Göttern?
Eins ist klar: die USA sind genau so wenig eine einheitliche, harmonische Gesellschaft wie etwa Deutschland, die Türkei oder Israel. Daher darf man nicht verallgemeinern und Kritik als "anti-amerikanisch" – oder anti-deutsch, anti-türkisch oder anti-israelisch disqualifizieren. Gerade so etwas tut aber Voigt. Als der Irak-Krieg noch jung war, klagte er:
"Der Antiamerikanismus ... ist keine Kritik, sondern eine konformistische Rebellion, die den kleinen Mann auf der Straße und den Kanzler, den Nazi und den Linken, den Anti-McDonalds-Attac-Aktivisten und die deutsche akademische Intelligenz miteinander verbindet." ... Von Peter Scholl-Latour über den notorischen Noam Chomsky, von Michael Moore bis zu Werner Pirker sind sich alle einig in ihrem Haß auf die USA."
Also alle in einem einzigen bösen Korb: Schröder, die Linken, Chomsky, den "Politclown Michael Moore". Die Nazis klebt er auch noch dran, als seien sie Teile dieser "sogenannten Friedensbewegung" von 2003. Und was machen "sogenannte Friedensbewegte"? Voigt warnt:
"Ein Großteil der No Globals projiziert alle Übel dieser Welt auf Amerika (und Israel). Kein Besuch des derzeitigen amerikanischen Präsidenten, gegen den nicht demonstriert wird, keine militärische Aktion der USA, die nicht von einem globalen Aufschrei begleitet wird ... Als Hauptverantwortliche erscheinen amerikanische Konzerne, die von einer besonderen Profitgier getrieben seien. Die USA werden als Öljunkie und weltweiter Unterdrücker imaginiert, der die Welt bombardieren, cocacolasieren und marlborosieren will, das heißt, die Welt ihrer bunten multikulturellen Vielfalt berauben will."
Wie kann man so etwas Böses nur denken? Darf ich denn daraus schlußfolgern, er war im Februar 2002 dagegen, als 500.000 in Berlin, als Millionen in Rom, London, Sydney, Kairo, New York und San Francisco gegen den kommenden Krieg demonstrierten? Unterstützte er dann, unterstützen er und BAK Shalom vielleicht noch heute – wie John McCain und Sarah Palin – den Krieg in Irak?
Bin ich auch ein Anti-Amerikaner, wenn ich Versuche von Monsanto verurteile, den Saatvertrieb der ganzen Welt für ihre genmanipulierten Produkte einzunehmen? Sind die Bauern Westafrikas anti-amerikanisch, wenn sie klagen, daß Subventionen an riesige USA-Baumwollkonzerne sie in den Hunger treiben – und in verzweifelte Selbstmordfahrten zu den Kanarischen Inseln? Wie ist es mit den Indigenas in Lateinamerika, deren Waldheimat den Rinderfarmen für McDonald-Whopper geopfert wird? Ist es anti-amerikanisch, darauf hinzuweisen, daß USA-Regierungen fast jeden dringenden Fortschritt in der Welt bekämpften, ob gegen globale Erwärmung, das Verbot von Clusterbomben und Landminen, den Gebrauch von Kindersoldaten, den Vertrieb von Kleinwaffen, das Recht der Frauen auf Geburtenkontrolle, die Einsetzung eines neutralen Weltgerichts gegen Kriegsverbrecher?
Voigt sieht nur "eine negative Zwangsfixierung der Linken auf den amerikanischen ‚Konsumterror‘". Er beklagt sogar Kampagnen gegen "sogenannte Heuschrecken" und warnt: "Nicht zuletzt in der Linken und im gewerkschaftlichen Spektrum wird ... gegen das Finanzkapital gewettert. Dies verkennt die widersprüchliche Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung und zerreißt den Zusammenhang zwischen Produktions- und Zirkulationssphäre, was an die Trennung zwischen ‚raffendem’ und ‚schaffendem’ Kapital erinnert, die von den Nationalsozialisten vorgenommen wurde."
Weil er in Kritiken am Finanzkapital Spuren des Antisemitismus zu entdecken glaubt, soll man deshalb gar nicht dagegen wettern? Gerade heutzutage soll wohl die Welt erkennen, wie dankbar sie dem Finanzkapital sein soll? Ob nun dem "raffenden" oder dem "schaffenden"!
Eigentlich müßte jeder USA-Geschichtsgelehrte wissen, wie sich die Führungen der USA, auch sämtliche Präsidenten, in der Welt betätigt haben. In den 1950er Jahren wurde Korea dem Erdboden gleichgemacht, das demokratische Guatemala zugunsten von United Fruit in dreißig Jahre Völkermord gestürzt, wegen Erdöls der blutige Schah für Iran gerettet. In den folgenden Jahren wurde der Mord an Nonnen und einem Bischof in El Salvador unterstützt, die Hütten der Sandinisten in Nicaragua von "Contras" verwüstet, der demokratische Präsident Allende in Chile ermordet und Tausende gefoltert und getötet nach Anweisungen, die in Savannah, Georgia, gelehrt wurden. Der Mord an Patrice Lumumba in Kongo brachte fünfzig Jahre Bürgerkrieg um Bodenschätze, der noch andauert. Somalia verblutet noch heute wegen der USA-Einmischung – "um den Islam zu stoppen", wie es heißt. Ungezählte Vietnamesen und ihre Wälder werden für Generationen unter Agent Orange leiden. Es war und ist eine lange, tränenreiche Liste: Haiti, Bolivien, Angola, Mosambik, Kolumbien ... Die Ziele waren nicht nur das Erdöl der Golfregion oder das Coltan im Kongo, sondern der Bau von Hunderten von waffenstarrenden Militärstützpunkten rings um die Erde.
Nein, zitiert Voigt, keiner muß ja eine Marlboro rauchen oder bei McDonalds essen. Der Imperialismus-Begriff sei obsolet. Ob die ruinierten Baumwollbauern in Westafrika, die Menschen in den erdölverseuchten Waldgebieten von Ekuador bis zum Nigerdelta auch so denken?
Bin ich zu kritisch? Ich liebe meine Heimat. Jeder lügt, der mich antiamerikanisch – oder antijüdisch – nennt. Meine USA sind jedoch die der schwarzen Sklavenbefreierin Harriet Tubman und des weißen John Brown, des großen Sozialisten Eugene Debs, der 1917 gegen den Weltkrieg sprach und dafür eingesperrt wurde, der alten Mother Jones, die durch Gebirgsbäche watete, um "ihren Jungen", den streikenden Bergleuten, zu helfen. Dazu die Haymarket-Märtyrer, Sacco und Vanzetti, Leonard Peltier, Mumia Abu-Jamal. Auch Frauen wie Medea Benjamin, die neulich bei der Demo am Gendarmenmarkt für ein Land und eine Welt in Frieden sprach.
Und ich füge hinzu: die Juden, die ich am meisten verehre, neben früheren wie Marx und Rosa und meinem geliebten Heine, sind Gerechte wie Uri Avnery, Professor Sternhell, Felicia Langer, die Mutigen von Gush Shalom und die Refuseniks, Soldaten und Offiziere, die es ablehnen, in besetzten palästinensischen Gebieten zu dienen, weil dort grausames Unrecht herrscht. Sind das alles jüdische Antisemiten? Auch Ehud Olmert, noch Israels Premier, räumt jetzt ein, daß seine Ansichten jahrzehntelang falsch gewesen seien: "Was ich Ihnen jetzt sage, hat kein israelischer Führer vor mir gesagt: Wir müssen uns aus fast allen Gebieten, inklusive Ostjerusalem und den Golanhöhen, zurückziehen."
Das fordern auch wir Linken. Sind wir dafür alle antisemitisch – auch Olmert? Überall finden scharfe Konflikte statt, in den USA, in Israel, aber auch im Islam, mit seiner ganzen Vielfalt. Wer dann alle Strömungen im Islam manichäisch als "islamfaschistisch" und barbarisch brandmarkt, aber toleriert, wie eine Stadt wie Fallujah zerstört wird, wie man Hochzeitsfeiern zerbombt und das dann leugnet, wie gefoltert wird, und wie die Frauen und Kinder von Gaza als Geiseln ausgehungert werden – nein, wer dagegen protestiert, ist weder antiamerikanisch noch antijüdisch.
Wenn sich Neonazis dabei dranhängen, kann uns das nie kalt lassen, ihre Heuchelei dürfen wir niemals dulden, aber uns auch nicht dadurch von unserer Menschlichkeit abhalten lassen. Ja, die Nazis hassen Juden, aber auch Türken, Araber, Schwarze, Roma! Und vor allem Linke! Wir hassen die Nazis auch!
Heute hofft und betet die Welt, daß Obama für Frieden wirken wird: in Palästina, in Irak, mit Iran und Afghanistan. Sind die Hoffnungen zu hochgeschraubt? Wir werden sehen – und hoffentlich dabei handeln, die Linke erst recht! Denn die Machthungrigen bleiben hungrig – und stark.
Sind diese Friedenshoffnungen von Millionen, in den USA und überall, auch die von BAK Shalom? Ich hoffe es. Wenn nicht, muß ich mit Bedauern sagen: Jeder hat das Recht auf seine Meinung. Doch haßvolle, manichäische Meinungen gehören nicht zu den Linken. Vielleicht, wer weiß, eher zum rechten Flügel der CDU.
19. November 2008
Vortrag zur Einführung in das kontroverse Expertengespräch am 19. November 2008 in Berlin mit dem Autor und Sebastian Voigt, siehe die Ankündigung in Mitteilungen 11/08, S. 36.
Sebastian Voigt ist Sympathisant und ehemaliges Mitglied des BAK Shalom der Linksjugend [`solid] (http://bak-shalom.de).
Mehr von Victor Grossman in den »Mitteilungen«:
2009-01: Die Linke und ihre Sicht auf die USA
2008-07: Eine Meinung über die »Israelfrage«
2008-04: Martin Luther King jr. – in memoriam