Die lange Vorkriegszeit
Prof. Dr. Manfred Weißbecker, Jena
Gedanken zum 75. Jahrestag der Entfesselung des Zweiten Weltkrieges
Wie es scheint, nehmen zurzeit etablierte Geschichtswissenschaft und bundesdeutsche Medien kaum Notiz von jenem Tag, an dem der bislang schlimmste aller Kriege begann, vom 1. September 1939. Wie gebannt dreht sich das Bücherkarussell vorrangig um das Jahr 1914. Zumeist wird den jüngst in die Welt gesetzten Behauptungen über die »Schlafwandler« gefolgt, die 1914 im hektischen Hin und Her diplomatischer Schachzüge nervös agiert hätten und das Grauen des neuen Krieges nicht haben vorhersehen können. Blind und von Albträumen geplagt seien die Akteure gewesen. [1] Damit werden allenfalls auslösende Momente als Kriegsursache interpretiert, Kriege also auf unzulängliches Überlegen und Vorausschauen, auf empfindsames Reagieren und ängstliches Handeln zurückgeführt. War also der Ausbruch des Ersten Weltkrieges nur einer Fehlfunktion des menschlichen Gehirns und genetischer Disposition geschuldet? Wer dies annimmt, stellt keine Ansprüche an das notwendige Erhellen der Tatsache, dass der Krieg aus gesellschaftlichen Verhältnissen, aus kapitalistischer Konkurrenz und imperialistischer Geostrategie resultierte. Wie passend für 100 Jahre danach Regierende: Von der Hauptverantwortung deutscher Eliten für den Krieg braucht man demzufolge nicht mehr reden. Und bequem ist es zudem, von den »Schlafwandlern« des Jahres 1914 sowie vom »Traumwandler« Hitler des Jahres 1939 ...
Geschichtspolitisch geht es jedoch kaum um die beiden Weltkriege. Wird deren Beginn gleichsam als Ergebnis zufälliger Umstände, ja als eine Art Betriebsunfall und Ergebnis vom Handeln einzelner Politiker gewertet, dann kann das geschönte Bild einer für Kriege angeblich unzuständigen Gesellschaft gemalt werden. Dann könnte von den großen Kriegen des 20. Jahrhunderts als einer zwar fatalen, aber inzwischen völlig überwundenen Unterbrechung der Kontinuität demokratisch-kapitalistischer Verhältnisse gesprochen werden. [2] Und die Kriege der Gegenwart, welche Formen diese auch immer inzwischen angenommen haben, sowie eine erneut ungeheuerliche Katastrophenpolitik sehen sich ebenso ausgenommen von einer ansonsten angeblich erfolgreichen Geschichte westlichen Demokratie-Verständnisses.
Das wiederum erlaubt verklärendes Geschwafel über die neue, die unbedingt und auch militärisch wahrzunehmende »deutsche Verantwortung« in allen Teilen der Welt. Um diese wider alle Vernunft und jeden Humanismus rechtfertigen zu können, soll dem Nachdenken über die Ursachen aktueller Politik und militärischer Aktionen sowie über deren reale Wurzeln kein Raum geboten werden. Zu moralischer Verworfenheit derjenigen, die mit militärischer Gewalt drohen und/oder solche - zumeist skrupellos - nutzen, tritt mit der Verschleierung der sowohl für 1914 wie für 1939 verantwortlichen Profitinteressen, Großmachtbestrebungen und geopolitischen Strategien eine verlogene Beschönigung heutiger Verhältnisse und neuer kriegerischer Politik hinzu.
1914: »Schlafwandler« - 1939: der »Führer«
Geht es um die Ursachen des Zweiten Weltkrieges, erscheint alles fokussiert auf eine Person: Hitler. Oder auch auf zwei, denn antikommunistische und antirussische Phobien würden gern in Stalin zumindest einen Mitschuldigen, wenn nicht gar den allein alle Verantwortung Tragenden sehen. Hitler, so liest man zumeist, habe 1938/39 den Rubikon überschritten, habe die (oft sehr verständnisvoll betrachtete) Politik einer Revision des Versailler Friedens durch die der Expansion und des Vernichtungskrieges ersetzt. Und dies auch gegen einzelne (nach 1945 aufgebauschte) Bedenken einzelner Militärs zu Rüstungstempo und Marschrichtungen durchgesetzt.
In keiner Weise lässt sich das geschichtswirksame Handeln Hitlers relativieren, doch unumstößlich steht fest: Der Weg hin zum 1. September 1939 war ein langer. Er wurde schon beschritten, als der Erste Weltkrieg noch tobte und Deutschlands militärische Niederlage absehbar war. 1918 durften die Kriegsziele deutscher Großindustrieller, Bankiers, Großgrundbesitzer, rechter Politiker und ihrer geistigen Klopffechter als verfehlt gelten, doch sie waren nicht aufgegeben, schon gar nicht durch eine auf Abrüstung und kollektive Sicherheit orientierende Politik aufgehoben.
Zwar ging von der Weimarer Republik kein Krieg aus [3] - worauf zu verweisen in der heutigen Berliner Republik sehr sinnvoll ist -, jedoch wurde in ihr der Krieg, der bis dahin vor allem als Fortsetzung von Politik gegolten, nun direkt in die Politik der ökonomisch und politisch Mächtigen hineingezogen. Jeglicher Friedenspolitik, selbst jenen Bemühungen, die mit den Stichworten Rapallo, Locarno, Völkerbund und Abrüstung angedeutet sein sollen, wurden riesige Steine in den Weg gelegt - innenpolitische, rüstungswirtschaftliche, außenpolitische und geistige. Der Frieden wurde von Anfang an in Frage gestellt. Immer ging es neben realpolitischer Anpassung an die weltweiten Kräfteverhältnisse um die Frage, wie und in welchem Tempo neue Voraussetzungen für eine mehr oder weniger rasche Revision der Kriegsergebnisse geschaffen werden können.
Ein entsprechendes Konzept war von General Kurt von Schleicher - später der letzte Kanzler der Republik - bereits am 20. Dezember 1918 formuliert worden: Zunächst müsse man im Innern wieder eine durchsetzungsfähige Regierungsgewalt schaffen, wobei das mit Hilfe der Soldaten verhältnismäßig schnell gehe. Dann sei eine Gesundung der Wirtschaft möglich, auf deren Schultern »alsdann nach langen, mühevollen Jahren an die Wiedererrichtung der äußeren Macht herangegangen« werden könne. Noch deutlicher äußerte sich General Wilhelm Groener am 19. Mai 1919: »Wenn man um die Weltherrschaft kämpfen will, muss man dies von langer Hand her vorausschauend mit rücksichtsloser Konsequenz vorbereiten. Man darf nicht hin- und herschaukeln und Friedenspolitik betreiben, sondern man muss restlos Machtpolitik treiben.« [4]
Für die Ursachen von Kriegen zeichnen Generäle zwar niemals allein verantwortlich, doch in ihrem Tun und Lassen spiegelten sich nach 1918 grundlegende Interessen der deutschen Eliten - der wirtschaftlichen wie der politischen und geistigen. Allen ging es um eine Revision der Ergebnisse von 1918, darüber hinaus um eine deutsche Vorherrschaft in Europa und der Welt. Und deutsche Militärs spielten dabei eine herausragende Rolle.
1921 legte Hans von Seeckt als Chef der Heeresleitung seine »Grundlegenden Gedanken für den Wiederaufbau unserer Wehrmacht« vor. Reichswehroffiziere erarbeiteten seit 1923/24 konkrete Pläne, wie ein deutsches Heer beschaffen sein müsse, um erneut sowie erfolgreich einen weiteren Waffengang wagen zu können. In drei Stufen sollte ein Heer von 2,8 Millionen Soldaten geschaffen werden, gegliedert in 102 Divisionen, von denen 39 dem »Grenzschutz« zu dienen hatten und 63 als »Felddivisionen« ausgegeben wurden. Verblüffend: 1939 war diese »Kriegsstärke« erreicht! Selbst die Zahl von 252 Generälen, über die das Heer verfügen sollte, stimmte mit dem Etat der Wehrmacht für 1939 überein.
Als der erste große Rüstungsplan entstand, saß Hitler noch auf der Festung Landsberg und blieb auch nach seiner vorzeitigen Entlassung eher am Rande des Geschehens. Auch an der Ausarbeitung der weiteren Pläne, darunter die für die Schaffung einer neuen Kriegsmarine und das zweite Rüstungsprogramm von 1931. Wie sie im Einzelnen aussahen, haben Carl Dirks und Karl-Heinz Janßen 1999 in einem bemerkenswerten Buch enthüllt. [5] Es muss nicht verwundern, dass es auf die empörte Ablehnung einiger »Kritiker« stieß.
Hitler brauchte den Militärs nicht erst zu sagen, dass und wie Krieg zu führen sein werde - sie hatten ihn ohnehin im Visier. Sie zielten auf eine militärische Macht, die jene des Kaiserreiches noch in den Schatten stellen sollte. Erkennbar ist in den Dokumenten auch, dass da keineswegs nur die Absicht bestand, die Grenzen von 1914 wieder zu erreichen. Selbst das Kriegsbild der deutschen Faschisten schien in den Dokumenten aus der Weimarer Zeit bereits auf. Der Terror wurde zum Kampfmittel erhoben. An einer Stelle hieß es: »Hemmungen irgendwelcher Art darf es nicht geben [...] Ein auf das Äußerste zu steigernder nationaler Hass darf vor keinem Mittel der Sabotage, des Mordes und der Verseuchung zurückschrecken.« [6]
Bündnis von Nazis und Militärs
Unmittelbar nach dem 30. Januar 1933, als die Kooperation von Konservativen und Faschisten regierungsoffiziell wurde, schlossen auf dieser Grundlage am 3. Februar 1933 Nazis und Militärs ein Bündnis. Da erschien der neue Reichskanzler zum Antrittsbesuch bei der Generalität und sprach von der »Eroberung neuen Lebensraumes im Osten und dessen rücksichtslose(r) Germanisierung«. [7] Keinem der Reichswehrführer kamen da Bedenken in den Sinn, für sie zählte nur die Aussicht auf die neuen Möglichkeiten, die sich mit dem 30. Januar für die Förderung von Rüstungswirtschaft, für eine intensiv betriebene Militarisierung der Gesellschaft und für weitere Schritte direkter Kriegsvorbereitung ergeben hatten.
Es waren ebenfalls die nationalkonservativ geprägten und sich nun »nationalsozialistisch« orientierenden Militärs, die Hitler Ende September/Anfang Oktober zum Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund drängten und eine Ausschaltung der SA forderten, als deren Pläne zur Umwandlung der Wehrmacht in eine von ihr geführte »Volksmiliz« eigene Pfründe zu schmälern schienen. Sie dankten Hitler für die Mordaktionen vom 30. Juni 1934, als sie vor dem erwarteten Tode Hindenburgs einer faktischen Übernahme des Reichspräsidentenamtes durch den Reichskanzler zustimmten. Sie jubelten über die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht im März 1935 und legten Plan für Plan vor, in denen akribisch alle militärisch zu sichernden oder kriegerisch zu unternehmenden Schritte fixiert waren. Ohne sie wäre alles undenkbar gewesen, was vor dem 1. September 1939 die »Erfolge« des braunen Regimes kennzeichnete: Angliederung des Saarlandes, Österreichs, des Sudetenlandes und des Memelgebietes an das »Großdeutsche Reich« sowie die Schaffung des sogenannten Reichsprotektorats Böhmen und Mähren.
Es lassen sich - und daran wäre im Rückblick auf den 1. September 1939 nachdrücklich zu erinnern - mehrere Phasen in der Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges erkennen: eine erste, noch nicht von den Nazis beeinflusste oder gar dominierte allgemeine und grundlegende Planung von Voraussetzungen und Mitteln neuerlicher deutscher Kriegsführung, in der mit der Zerstörung der Weimarer Republik auch alle innenpolitischen Hemmnisse des Kriegskurses beseitigt wurden, eine zweite, in der zwischen 1931/32 und 1934 ein enges und für den Weg zum neuen Krieg konstitutives Bündnis zwischen Militärs und NSDAP geschmiedet wurde, sowie eine dritte, in der aufbauend auf Erreichtem letztere und ihr »Führer« - wirtschaftliche, außenpolitische und ideologische Gegebenheiten dabei durchaus geschickt, aber wenig sorgsam nutzend - die konkreten Termine zur Erfüllung der Pläne fixierten.
Wird heute über den 1. September 1939 gesprochen, darf im Erinnern und politischen Nachdenken eine Tatsache nicht fehlen: Es waren die deutschen Kommunisten, die sieben Jahre zuvor vorausschauend gewarnt hatten: »Wer Hitler wählt, wählt den Krieg!«
Anmerkungen:
[1] Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog (2013).
[3] Wolfgang Ruge: Nachdenken über Weimar. In: Ehrenpromotion Wolfgang Ruge (1988), S. 11-20.
[4] Zit. nach Manfred Weißbecker, Werner Fritsch und Reinhard Giersch: Macht und Ohnmacht der Weimarer Republik (1990), S. 59.
[5] Carl Dirks und Karl-Heinz Janßen: Der Krieg der Generäle. Hitler als Werkzeug der Wehrmacht (1999).
[6] Zit. nach ebenda, S. 32 f.
[7] Zit. nach Reinhard Kühnl: Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten (6/1987), S. 208 ff.
Mehr von Manfred Weißbecker in den »Mitteilungen«:
2012-06: Walther Rathenau - Opfer deutscher Terroristen
2010-06: Das Reichsarbeitsdienstgesetz vom 26. Juni 1935 und seine lange Vorgeschichte
2008-11: 9. November 1923: Wie der Nazipartei ein Putsch in Bayerns Hauptstadt ermöglicht wurde