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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Walther Rathenau - Opfer deutscher Terroristen

Prof. Dr. Manfred Weißbecker, Jena

 

Zumindest ältere Leser werden sich vielleicht an einen Fernsehfilm über die Ermordung Walther Rathenaus erinnern, den Heinz Kamnitzer und Graf Alexander Stenbock-Fermor hergestellt hatten. Am Drehbuch dieses Streifens orientiert, legten die Autoren 1962 im (Ost-)Berliner Henschel-Verlag ein kleines Bändchen vor, in dem Arnold Zweig Gelegenheit zu einleitenden Worten gegeben wurde. Das geschah 40 Jahre nach der Mordtat, darf aber weitere 50 Jahre danach erneut mit Aufmerksamkeit und Bestürzung gelesen werden. Der Schriftsteller mahnte: "Niemand darf vergessen, dass sich in diesen vierzig Jahren das Leichenfeld des ersten Weltkrieges in einen Leichenberg verwandelte! Die Einwohnerschaft eines Reiches von fünfzig Millionen Menschen, also etwa die ganze Deutsche Bundesrepublik, wurde als Kadaver aufgetürmt, wobei auch jener fünfeinhalb Juden gedacht werde, die Walther Rathenau durch Abstammung verwandt, ihm als Asche folgen mussten. Immer ist es der Geist der Gewalt, Abkömmling der seit Menschengedenken vergötterten Einrichtung des Krieges, dem wir diese Leichenhaufen verdanken; und wenn wir heute jenen einzelnen und Vorläufer Walther Rathenau als Helden eines Films und Fernsehspiels auf uns wirken lassen, fühlen wir uns verbunden mit der Hauptader jener vierzig Jahre, in denen die Menschheit nach Frieden suchte, statt ihn sich durch geballte Tatkraft zu erobern."

Gewalt und Terror – darin sahen in den ersten Jahren der Weimarer Republik jene Kräfte das entscheidende Mittel, die sich mit der Kriegsniederlage und der parlamentarisch-demokratischen Weimarer Verfassung absolut nicht abfinden wollten. Für große Gruppen der Unternehmer, Großagrarier und Reichswehr galt als ausschlaggebendes Zukunftsziel: Völlige Revision der Ergebnisse des Ersten Weltkrieges und, soweit dafür erforderlich, auch die der Novemberrevolution.

In ihrem Interesse agierten neben den rechts stehenden Parteien zahlreiche paramilitärische Verbände sowie Terror- und Femeorganisationen, die zugleich eine Basis der kommenden faschistischen Massenbewegung darstellten. Sie waren, noch bevor die NSDAP in großem Stil gefördert und finanziert werden konnte, in den ersten Jahren der Weimarer Republik wie Pilze nach einem warmen Regen aus dem Boden geschossen. Alle gaben sich nationalistisch und revanchistisch, antidemokratisch und antisozialistisch, auch antisemitisch. Heinrich Claß, Chef des Alldeutschen Verbandes, hatte sich schon am 3. Oktober 1918 nachdrücklich für die Schaffung "einer großen, tapferen und schneidigen Nationalpartei" ausgesprochen und zu diesem Zweck auch den "rücksichtslosesten Kampf gegen das Judentum, auf das all der nur zu berechtigte Unwille unseres guten und irregeleiteten Volkes abgelenkt werden muss", gefordert. Gerade im Herausstellen eines "Sündenbocks" in Gestalt der jüdischen Teile der deutschen Bevölkerung sahen die rechtesten unter den Reaktionären ein Erfolge versprechendes Mittel, die für sie so bedrohlich aufgebrochenen Gegensätze zu überspielen, aus Klassengegensätzen solche der Rassen zu konstruieren und leichtgläubige, unwissende und haltlose Menschen irrezuführen. Ihnen schien sich darin eine Überwindung der Krise abzuzeichnen, und zwar auf Kosten einer Gruppe, die lediglich 0,9 Prozent der Bevölkerung ausmachte, allerdings im öffentlichen Leben – etwa in der Presse, in Kunst und Politik sowie unter Ärzten und Rechtsanwälten – überdurchschnittlich in Erscheinung trat.

Im Visier der OC

Einer der radikalsten Verbände jener Jahre nannte sich Organisation Consul (OC). An ihrer Spitze stand Korvettenkapitän a.D. Hermann Ehrhardt, der im März 1920 in Berlin den Kapp-Lüttwitz-Putsch militärisch organisiert hatte und zuvor schon mit für die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, aber auch für die des Zentrumpolitikers Matthias Erzberger verantwortlich zeichnete. In das Visier der OC geriet rasch auch Walther Rathenau. Keine Unterstellung schien böse und kein Schimpfwort kräftig genug, keine Mühe wurde gescheut, ihn zu verunglimpfen und zu diffamieren. Schmähschriften kursierten zuhauf. Man reimte von ihm als einer "gottverfluchten Judensau". Seit 1919 verbreitete einer der schlimmsten Juden-Hasser und Verfasser eines oftmals aufgelegten antisemitischen "Handbuches", Theodor Fritsch, eine Broschüre mit dem Titel "Anti-Rathenau". Deutschvölkische Haßprediger nannten Rathenau einen "Fremdling aus Judaan", die konservative Deutsche Tageszeitung meinte, er sei ein "Landesverderber". Ernst von Borsig titulierte ihn als einen opportunistischen "Affen der Revolution".

An Kenntnissen, Geistesgröße und Weitsicht anderen überlegen zu sein, allein das machte Rathenau für viele verdächtig, noch dazu jüdischer Herkunft. Der war – 1867 in Berlin geboren – zunächst in die Fußstapfen seines Vaters getreten, eines Fabrikbesitzers, der 1887 die Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft (AEG) gegründet hatte. In die Leitung eines der bedeutendsten deutschen Elektro-Unternehmens stieg der Sohn kurz vor dem Ersten Weltkrieg ein. Doch nicht nur als einer der einflussreichsten Wirtschaftsführer war er in Erscheinung getreten, sondern auch als Schriftsteller. Bekannt wurde er u.a. mit dem Aufsatz "Höre, Israel!" (1907), mit den Büchern "Impressionen" (1902), "Reflexionen" (1908) und "Zur Kritik der Zeit" (1912). Ferner erschienen "Zur Mechanik des Geistes" (1913) und "Von kommenden Dingen" (1917). Letzteres sollte sein wohl wirksamstes literarisches Werk unter all den Arbeiten werden, in denen er sich mit wirtschaftlichen, sozialen, philosophischen und kulturkritischen Themen befasste. Nicht zuletzt verarbeitete er darin Erfahrungen, die er in den ersten Jahren des Krieges als Leiter des Kriegsrohstoffamtes im preußischen Kriegsministerium mit der Begrenztheit privatwirtschaftlichen Handelns hatte sammeln können.

In der Revolutionszeit gehörte Rathenau zu den Mitbegründern der Deutschen Demokratischen Partei, die – in einer Koalition mit den Sozialdemokraten und der großbürgerlich-katholischen Zentrumspartei – wesentlich zu Bildung und Formung der Weimarer Republik beitrug. Nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch, der am machtvollen Widerstand der Massen scheiterte, geriet er in staatliche Ämter. Im April 1920 wurde er als Wirtschaftsfachberater in die Zweite Sozialisierungskommission berufen, die den revolutionären Bemühungen der Arbeiterbewegung den Wind aus den Segeln nehmen sollte und nach neuen Formen des kapitalistischen Wirtschaftens suchte. Sein Eintreten für eine Rohstoffbewirtschaftung – von manchen furchtsam als Wirtschaftsdiktatur bewertet oder gar als kommunistisch verpönt – und insbesondere die angeblich einen Ausverkauf Deutschlands bewirkende "Erfüllungspolitik" gegenüber den Reparationsforderungen der Siegermächte rückte ihn stärker ins terroristische Visier nationalistisch-konservativer und völkisch-faschistischer Kreise.

Reichskanzler Wirth holte Rathenau 1921 in das Wiederaufbauministerium. Dieses zeichnete verantwortlich für die Koordination und Abwicklung wesentlicher Bestimmungen des Versailler Vertrages. Da ging es um die Reparationsleistungen an die Alliierten, um einen Forderungs- und Schuldenausgleich gegenüber den Siegerstaaten und um die Entschädigungen für Auslandsdeutsche. Die ausgesprochen harten Bedingungen zu erfüllen, sah sich ein Teil der Herrschenden gezwungen, wenngleich in der Erwartung, über deren Verringerung Schritt für Schritt mit den Westmächten verhandeln zu können. Erhoffte Klassensolidarität mit dem englischen und französischen Bürgertum ließ sich in ihrer Argumentation erkennen, eine allzu große Not in Deutschland öffne nicht nur hier die Türen für den "Bolschewismus" ...

Chef des Auswärtigen Amtes

In der Vorbereitung auf die Konferenz von Genua, die das Konzept einer wirtschaftlichen Genesung Europas entsprechend britischer und französischer Vorstellungen erarbeiten und beschließen sollte, übernahm Rathenau im Januar 1922 das Amt des Reichsaußenministers. Deutschnationale und andere rechte Blätter spuckten Gift und Galle. Für die stockkonservative Deutsche Zeitung bedeutete Rathenaus Regierungsfunktion den "Beginn einer unumschränkten Herrschaft der Kreise, die wir für die Todfeinde bewussten und aufrechten Deutschtums ansehen müssen". Es sollten doch besser "deutsche Männer" die deutschen Interessen in Genua vertreten, forderten mehr als zehn reaktionäre Organisationen in München, die eine "Entschließung" gegen Rathenaus Ernennung veröffentlichten. Die Zahl der Morddrohungen nahm enorm zu, weniger hingegen der polizeiliche Schutz, der Ministern zustand, zumal ihn Rathenau für sich verboten und sich ihm oft entzogen hatte.

Als der Außenminister am 16. April 1922 den Rapallo-Vertrag zwischen Deutschland und der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik unterzeichnet hatte – wenngleich etwas widerwillig und in Sorge, die Westmächte damit allzu sehr zu verärgern – schien für die ausgesprochen rechtsorientierten und gewaltbereiten Kreise der letzte Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht zu haben. Massiv setzten schon im Vorfeld, erst recht danach, wieder regelrechte Kampagnen gegen Rathenau ein. Und erneut trat Karl Helfferich in Erscheinung, jener deutschnationale Spitzenpolitiker also, der bereits große Schuld an der Ermordung Erzbergers auf sich geladen hatte. Einen Tag vor dem Attentat gegen Rathenau geiferte er im Reichstag, der Außenminister sei die Ursache des allgemeinen Notstandes der Bevölkerung. Er forderte, ihn anzuklagen und vor ein Gericht zu stellen.

Am 24. Juni 1924 schlugen die Täter zu, nachdem sie zuvor die Gewohnheiten des Ministers erkundet hatten. Der bestieg 15 Minuten vor 11 Uhr den Wagen, ein Kabriolett ohne Verdeck, das ihn von seinem Wohnhaus in das Auswärtige Amt bringen sollte. Zehn Minuten darauf war er tot. Ein anderes Auto hatte das Gefährt des Ministers in einer Kurve überholt. Aus einer Maschinenpistole gaben die OC-Mörder Erwin Kern und Hermann Fischer ca. zehn Schüsse ab und warfen zusätzlich eine Handgranate. Fünf Patronen trafen das Opfer, doch tödlich war bereits die erste, die seinen Rücken durchbohrte. Eine Frau eilte herbei, zufällig eine Krankenschwester, doch auch sie konnte ihn nicht mehr retten. In ihren Armen verschied Rathenau. Das Auto der Mörder jagte davon, die Attentäter blieben unerkannt und entkamen – jedenfalls zunächst.

Unmittelbar nach der Ermordung Rathenaus und unter dem Druck protestierender Massen sollte ein Gesetz zum "Schutz der Republik" dem wachsenden Einfluss völkisch-antisemitischer, nationalistisch-militaristischer und faschistischer Organisationen entgegenwirken. Doch seine Handhabung fiel halbherzig aus, auch gegenüber den Attentätern und der OC. Zum Schaden der Weimarer Republik, zum Schaden aller demokratischen und sozialistischen, aller pazifistischen und auf Völkerverständigung orientierenden Kräfte. Weimar ging schließlich am Übermaß jener Chancen zugrunde, die den ausgesprochen rechten Parteien zuteilwurden. Den Rechtsextremisten jener Zeit bot sich Spielraum, weil Rechte ebenso wie manche der so genannten Mittelparteien hofften, sie in eigene Machtambitionen einbinden und gleichsam als Juniorpartner gegen die Linken nutzen zu können. Warnungen – ausgesprochen auch von bürgerlichen Politikern – verhallten. "Der Feind steht rechts!" – das hatte am 25. Juni 1922 Reichskanzler Joseph Wirth erklärt. Dies wiederholte zwei Jahre darauf Hugo Preuß – bekannt als der Schöpfer der Weimarer Verfassung – und kritisierte als Erbübel, Schwäche und Kurzsichtigkeit des deutschen Bürgertums, dass es leider dazu neige, die "Gefahren von links mit einem Vergrößerungsglas und aus Furcht vor diesen die von rechts gar nicht zu sehen".

Das Ergebnis ist bekannt. Auf dieses rückblickend verwendete Helmut M. Böttcher, ein BRD-Jurist und Schriftsteller, für ein Kapitel seiner 1958 veröffentlichten Rathenau-Biografie folgerichtig den Titel: "Erstes Opfer des Dritten Reiches".

 

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