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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die große Kriegslüge vom August 1964

Hellmut Kapfenberger, Berlin

 

Lügen im Kriege gehören seit eh und je zum »Geschäft«, Lügen als Vorwand für einen Krieg sind weitaus seltener. Zu ihnen gehört zweifellos jene Lüge, mit der die USA den Luftkrieg gegen Nordvietnam und wenig später die Entsendung ihrer ersten Kampftruppen nach Südvietnam vorbereiteten, die Lüge vom »Zwischenfall im Golf von Tonkin«, der Weltöffentlichkeit Anfang August 1964 präsentiert. Damals ahnte noch niemand, dass Jahrzehnte später wieder eine in Washington ausgeheckte fundamentale Lüge einem Überfall auf den Irak zu dienen hatte.

Was 1964 geschah, hatte eine relativ lange Vorgeschichte. Mitte 1964 waren alle Versuche der USA gescheitert, ohne eigenes direktes militärisches Eingreifen Südvietnam als antikommunistisches Bollwerk in Indochina und ganz Südostasien zu zementieren. Damals wirkten mehr als 20.000 USA-Militärangehörige als »Berater« der Saigoner Armee in Südvietnam, hatte Washington bereits mehr als 1,2 Milliarden Dollar als direkte Finanzhilfe für das Saigoner Regime aufgewendet. Die von der Nationalen Befreiungsfront (FNL) mit aktiver Unterstützung aus dem Norden kontrollierten Gebiete umfassten dennoch schon fast vier Fünftel des ganzen südvietnamesischen Territoriums. Den einzigen Ausweg aus der total verfahrenen Situation sahen Militärstrategen und Politiker der USA nun in direkter militärischer Intervention, die bis dahin aus triftigen innen- und außenpolitischen Gründen unterlassen worden war. Im Klartext hieß das Einsatz von Kampftruppen im Süden und Krieg gegen den Norden.

Der Entschluss dazu fußte auf teils schon Jahre vorher abgehaltenen Strategieberatungen und Planspielen. Aufschluss darüber gaben erst Jahre später publik gewordene Geheimdokumente, die Pentagon Papers. Aufschlussreiches dazu bietet sehr detailliert auch der damalige Verteidigungsminister Robert McNamara in seinen Memoiren. Den mit dem Namen Dr. Daniel Ellsberg verknüpften Pentagon Papers war zu entnehmen, dass schon im November 1961 in Washington die Entsendung von Kampftruppen nach dem Süden und Angriffe auf den Norden Vietnams erörtert worden waren. Entsprechende Forderungen hatten im Mai jenes Jahres die Vereinigten Stabschefs, die Chefs aller Teilstreitkräfte der USA, gegenüber McNamara erhoben; der und Außenminister Dean Rusk plädierten daraufhin in einem Memorandum an Präsident John F. Kennedy für entsprechende Vorbereitungen.

Intensive Bemühungen, mit verdeckten Operationen Nordvietnam zu destabilisieren, gab es zu jener Zeit bereits. In einem im Mai 1961 im Auftrag Kennedys formulierten »Aktions-programm für Südvietnam« verlangte eine interministerielle Arbeitsgruppe, man müsse »auf der Grundlage durch Aufklärungsoperationen gewonnener Daten in Nordvietnam Widerstandsnetze und geheime Ausrüstungsbasen für Sabotage und Störaktionen installieren«. In der Saigoner Armee solle, so die Vertreter von Pentagon, State Department, CIA, USIA (US Information Agency) und Präsidentenbüro, zunächst »eine geeignete Kapazität« geschaffen werden »für Ranger-Überfälle und ähnliche militärische Aktionen in Nordvietnam, die sich als notwendig oder angemessen erweisen«.

In McNamaras Memoiren wird deutlich, dass schließlich mit direkten Provokationen der CIA und des amerikanischen Militärs gezielt auf einen Luftkrieg gegen Nordvietnam hinge-arbeitet wurde. Der Nationale Sicherheitsrat hat »im Januar 1964 die Unterstützung geheimer Aktionen Südvietnams gegen Nordvietnam durch die CIA unter dem Decknamen Plan 34A gebilligt«, liest man. Mitte Mai sprach die CIA in einem »Sonderbericht über Vietnam« davon, die Lage im Süden sei »sehr prekär«, und: »Wenn bis Ende dieses Jahres die Welle der Verschlechterung nicht zum Stillstand gebracht ist, ist die antikommunistische Position in Südvietnam wahrscheinlich nicht mehr länger zu halten.« Die CIA-Prognose veranlasste Lyndon B. Johnson, der als Vizepräsident 1963 nach der Ermordung Kennedys das Präsidentenamt übernommen hat, State Department und Pentagon den dringenden Auftrag zu erteilen, »einen integrierten politisch-militärischen Plan für abgestufte Aktionen gegen Nordvietnam auszuarbeiten«. Verbunden damit legte das Pentagon den Entwurf einer Resolution vor, »mit dem der Kongress um Zustimmung ersucht wurde, die Militäraktionen in Indochina auszuweiten«. Dies war, so der damalige Verteidigungsminister, »der Ursprung der späteren Tonking-Resolution«.

Im Folgenden gab es laut McNamara im Golf von Tonkin »zwei Operationen der Vereinigten Staaten«: neben dem Plan 34A sogenannte DESOTO-Patrouillen. »Plan 34A umfasste zwei Operationen: Zum einen wurden südvietnamesische, mit Funkgeräten ausgerüstete Agenten per Boot oder Flugzeug in Nordvietnam abgesetzt, um Sabotage zu betreiben und Informationen zu sammeln; zum anderen führten Patrouillenschnellboote mit südvietnamesi-scher Besatzung oder ausländischen Söldnermannschaften sogenannte hit-and-run-Angriffe auf Anlagen an der nordvietnamesischen Küste und auf ihr vorgelagerten Inseln durch. Die CIA unterstützte die 34A-Operationen, während das MACV (Military Assistance Command Vietnam / Militärisches Unterstützungskommando Vietnam - HK) sowie General Victor H. Krulak, Vertreter der Vereinigten Stabschefs in Washington, engen Kontakt zu ihnen hielten.« Die DESOTO-Patrouillen hingegen »waren Bestandteil eines weltweiten elektronischen Aufklärungssystems und wurden von speziell dafür ausgerüsteten amerikanischen Marinekriegsschiffen ausgeführt. Von internationalen Gewässern aus fingen sie Radio- und Radarsignale von Küstenstationen auf, die sich an der Peripherie kommunistischer Länder wie der Sowjetunion, China, Nordkorea und, was hier von größerer Bedeutung ist, Nordvietnam befanden.« Der Befehlshaber der Pazifik-Flotte, Admiral Thomas Moorer, habe »die Anzahl der Einsätze sowie den Kurs der DESOTO-Fahrten« bestimmt.

Es kam zu dem, was in der ganzen Welt mit sehr unterschiedlicher, im Westen naturgemäß tendenziös falscher Wertung als »Zwischenfall im Golf von Tonkin« registriert ist. Was aber war vor der Küste der DRV, im Golf von Bac Bo (vietnamesischer Name des Golfes - HK) wirklich geschehen? Es genügt, den höchst kompetenten Memoirenautor dazu zu Wort kommen zu lassen. In der Nacht zum 30. Juli griffen in einem 34A-Einsatz zwei südvietnamesische Patrouillenboote zwei nordvietnamesische Inseln an, weil man den »Verdacht« hegte, von dort seien »Infiltrationsaktionen gegen den Süden unterstützt« worden. Am folgenden Tag lief der USA-Zerstörer Maddox, der auf DESOTO-Patrouille war, in den Golf ein. Am Nachmittag des 2. August meldete der Zerstörer, von zwei nordvietnamesischen Schnellbooten mit Torpedos und Bordwaffen angegriffen zu werden. Da es aber, wie man einräumen musste, »weder Verletzte noch Beschädigungen am Schiff« gab, darf davon ausgegangen werden, dass die beiden Boote der DRV-Volksmarine allenfalls ein paar Warnschüsse abgegeben haben. Von vietnamesischer Seite wird dieser Vorfall nicht bestritten.

Johnson beorderte lediglich zur »Fortsetzung der Patrouille« einen zweiten Zerstörer in den Golf, andere Reaktionen gab es nicht. Am Morgen des 4. August (Ortszeit »erfolgte ein weiterer 34A-Überfall auf die Küste Nordvietnams«. Am Abend (Ortszeit) meldete die Maddox Radarkontakt »mit drei nicht identifizierten Schiffen«; ein Angriff scheine unmittelbar bevorzustehen, habe man abgefangenen »nordvietnamesischen Befehlen« entnommen. Von dem nicht weit entfernt kreuzenden Flugzeugträger Ticonderoga stiegen Kampfflugzeuge auf. Alles Weitere, von McNamara freimütig geschildert, spricht Bände. Witterungsbedingt »extrem schwierige Sichtbedingungen« hätten in jener Nacht im Golf zu »Konfusion« geführt, liest man. »Die beiden Zerstörer berichteten über mehr als 20 Torpedoangriffe, durch Torpedoabschüsse hervorgerufene Turbulenzen im Wasser, feindliche Cockpitlichter, Suchscheinwerfer, Maschinengewehrfeuer und Radar- und Echolotkontakte.« Es sei aber nicht klar gewesen, »ob es sich wirklich um einen Angriff gehandelt hatte«, da die Berichte »hauptsächlich auf Echolotsignalen - die häufig nicht zuverlässig sind - beruhten«. Dennoch, so McNamara, »entwickelten wir umgehend einen Plan: Vier Stützpunkte der nordvietnamesischen Patrouillenboote und zwei Öldepots zur Versorgung dieser Schiffe sollten von einem Flugzeugträger aus bombardiert werden.«

Am frühen Nachmittag des 4. August Washingtoner Zeit (Nach Mitternacht Golf-Ortszeit) wurde dann plötzlich von der Maddox gemeldet: »Überprüfung des Vorfalls lässt viele der gemeldeten Feindberührungen und Torpedoangriffe zweifelhaft erscheinen. ... Von der Maddox sind keine Vorkommnisse gesichtet worden.« Was daraufhin auf der Brücke des Zer-störers geschehen sein mag, bleibt bei McNamara im Dunkeln. Jedenfalls widerrief Captain Herrick, der Kommandeur der DESOTO-Patrouille an Bord der Maddox, nur 81 Minuten später diese Meldung. »Bin sicher, dass Angriff aus dem Hinterhalt beabsichtigt war«, ließ er nach Washington funken. Offensichtlich passte die vorausgegangene, Entwarnung signalisierende Meldung nicht in das schon fertige Angriffskonzept. Am Abend Washingtoner Zeit trat dort der Nationale Sicherheitsrat zusammen, dann gab es eine Spitzenrunde im Oval Office des Weißen Hauses. Es folgte der Befehl des Präsidenten an die Flugzeugträger Ticonderoga und Constellation zur Bombardierung nach genanntem Plan. Ab 23:43 Uhr Washingtoner Zeit (5. August 10:43 Uhr vietnamesischer Zeit) flogen Trägermaschinen »64 Einsätze«. Am 7. August beschlossen beide Häuser des Kongresses - Senat und Repräsentantenhaus - bei zwei Gegenstimmen die schon seit Monaten bereitliegende »Tonking-Resolution«, die Nordvietnam einer »gezielten und systematisch betriebenen Aggression« zieh und dem Präsidenten grünes Licht »für alle notwendigen Maßnahmen« gab.

Die von McNamara geschilderten Ereignisse räumen jeden Zweifel an der Glaubwürdigkeit dessen aus, was das Außenministerium in Hanoi in einem Memorandum zur »Wahrheit über den von den USA als Vorwand für die Luftangriffe auf die Demokratische Republik Vietnam inszenierten ›zweiten Zwischenfall im Golf von Tonking‹« erklärte: »Die Wahrheit unterscheidet sich völlig von dem, was der Präsident und der Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten feierlich gegenüber dem amerikanischen Volk und der Weltöffentlichkeit erklärt haben.« Bei ihrer Darstellung handle es sich »um eine schamlos zynische Erfindung, denn am Tag und in der Nacht des 4. August 1964 befand sich kein Kriegsschiff der Demo-kratischen Republik Vietnam in der Zone, wo - nach der amerikanischen Version - die amerikanischen Zerstörer ›zum zweiten Mal von nordvietnamesischen Torpedoschnellbooten angegriffen‹ worden seien«. Den Vereinigten Staaten sei es mit dieser vorsätzlichen Inszenierung darum gegangen, »einen Vorwand dafür zu haben, ihre verbrecherischen Absichten gegenüber der Demokratischen Republik Vietnam zu verwirklichen«.

So tat denn auch einer der Piloten, die von der Ticonderoga mit Kurs auf die angeblich bedrohten Zerstörer aufgestiegen waren, später in seinen von McNamara zitierten Erinnerungen kund, »dass er, als er am 4. August die beiden Zerstörer überflog, keine nordvietname-sischen Schiffe gesichtet und von einem Angriff nichts bemerkt habe«. Der damalige stellvertretende USA-Außenminister George Ball gestand 1977: »Viele von denen, die mit dem Krieg befasst waren, ... haben nach einem Vorwand für die Bombardierungen gesucht. ... Die DESOTO-Patrouillen dienten in erster Linie der Provokation. ... Es machte sich die Ansicht breit, dass es genau der von uns gewünschten Provokation entspräche, wenn der Zerstörer in Schwierigkeiten geriete.« Also erfand man die »Schwierigkeiten« der Maddox am 4. August.

Historiker mögen darüber streiten, was den »Zwischenfall im Golf von Tonkin« 1964 von dem »Überfall auf den Sender Gleiwitz« 1939 unterscheiden könnte, mit dem Nazi-Deutschland den Überfall auf Polen zu rechtfertigen suchte und in Europa den zweiten Weltbrand entfacht hat. Die skrupellos erschwindelte Kongressresolution kam, wie es der Ex-Verteidigungsminister nennt, »einer Kriegserklärung der Vereinigten Staaten an Vietnam gleich«. Auf sie habe sich die Johnson-Administration berufen, »um ihre militärischen Operationen in Vietnam von 1965 an als verfassungsmäßig zu rechtfertigen«.

Könnte angefügt werden, welche Einsicht Robert McNamara, Verteidigungsminister von 1961 bis 1968, im Vorwort zu seinen Memoiren formuliert hat: »Wir, die Mitglieder der Regierungen Kennedy und Johnson, die an den Entscheidungen über Vietnam teilhatten, handelten entsprechend dem, was wir für die Prinzipien und die Traditionen unseres Landes hielten. Wir trafen unsere Entscheidungen anhand dieser Wertvorstellungen. Aber wir haben uns geirrt, schrecklich geirrt. Und wir sind künftigen Generationen eine Erklärung schuldig, warum das so war.« Und zu den »Lehren aus Vietnam« zählte er: »Wir haben unterschätzt, welche Kraft das Nationalbewusstsein einem Volk (hier den Nordvietnamesen und dem Vietcong) verleiht, für seine Überzeugungen und Werte zu kämpfen und zu sterben. Und noch nicht einmal heute tragen wir dieser Tatsache in vielen Teilen der Welt Rechnung.«

Robert S. McNamara: Vietnam - das Trauma einer Weltmacht, SPIEGEL Buchverlag 1996; Originaltitel: In Retrospect. The Tragedy and Lessons of Vietnam (1995).

 

 

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