Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft
Dr. Ursula Schröter, Berlin
Mit diesem Satz wurde das »Familiengesetzbuch der Deutschen Demokratischen Republik vom 20. Dezember 1965« eingeleitet. Es trat am 1. April 1966 in Kraft und fiel (nach einer Änderung vom 20. Juli 1990) am 3. Oktober 1990 der Einführung des Bundesrechts zum Opfer (Posch 2006: 148). Nehmen wir den 50. Jahrestag des Inkrafttretens zum Anlass, an die Bedeutung dieses Gesetzes, aber auch an die generell schwierige Beziehung zwischen Familienentwicklung, Familienleben einerseits und Rechtsentwicklung, Gesetzgebung andererseits zu erinnern.
Seit der Aufklärung und der französischen Revolution – so Ute Gerhard (2005) – waren die Gesetzgeber (-geberinnen gab es kaum) immer wieder genötigt, die große Idee der Gleichheit aller Menschen für das Familienleben und die Ehe einzuschränken. Die moderne Gesellschaft, in der man Wissen erwirbt, statt an Gott zu glauben, in der man eine Regierung wählt, statt dem Kaiser zu huldigen, eine solche Gesellschaft war nur für Männer vorgesehen. Folgerichtig erhielten zunächst nur Männer das Wahlrecht und (vor allem begüterte) Männer Bildungsmöglichkeiten. Aber die kleinste Zelle der Gesellschaft, auch der modernen Gesellschaft, war ohne Frauen nicht vorstellbar. Deshalb wurden ergänzend zu Menschenrechten noch »Sonderrechte« für Frauen notwendig, um sie unter hausväterlicher bzw. eheherrlicher Gewalt zu halten (vgl. ebenda: 452). Als Begründung dafür musste die angeblich naturgegebene Zweitrangigkeit des weiblichen Geschlechts herhalten. Die Frau stünde – so etwa Johann Gottlieb Fichte in seinem »Grundriss des Familienrechts« – um eine Stufe tiefer als der Mann und könne ihre ganze Würde nur dadurch erhalten, dass sie sich zum Mittel der Befriedigung des Mannes macht. »Im unverdorbenen Weibe äußert sich kein Geschlechtstrieb …, sondern nur Liebe; und diese Liebe ist der Naturtrieb des Weibes, einen Mann zu befriedigen … Das Weib sieht nicht weiter und ihre Natur geht nicht weiter als bis zur Liebe« (Fichte 1796: 315).
Und solche Wesen hätten natürlich mit dem Wahlrecht und mit Bildungsangeboten in der Öffentlichkeit nichts anfangen können. Die Kluft zwischen Menschenrechten und Frauenrechten bestimmte die (Familien)Gesetzgebung über Jahrhunderte und ist auch heute nicht überwunden. Im Kern geht es um Männer- und Frauenrechte im Privatleben bzw. in der Familie.
Unter diesem Gesichtspunkt lohnt sich ein Rückblick auf das Familienrecht der alten BRD und der DDR. Zunächst die historischen Ausgangspunkte: In den westlichen Besatzungszonen schlug der Parlamentarische Rat, der für die Ausarbeitung des Grundgesetzes zuständig war, bezüglich Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau die Formulierung vor, die schon in der Weimarer Verfassung enthalten war: »Männer und Frauen haben dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten«. Diese Formulierung hätte sowohl das Berufsleben als auch das Privatleben der Frauen ausgeklammert. Die Juristin und SPD-Politikerin Elisabeth Selbert sorgte mit parlamentarischen und außerparlamentarischen Aktionen dafür, dass schließlich Paragraf 3, Absatz 2 des Grundgesetzes so lautet, wie wir ihn kennen: Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Später sprach Rita Süßmuth von einem Sturm öffentlicher Entrüstung, der die Frauen damals erfasst hätte. Waschkörbeweise seien die Petitionen eingetroffen (Süßmuth 1994: 14). Ein Passus, der alle mit dem Gleichheitsgrundsatz kollidierenden Bestimmungen aufhebt, wurde zwar diskutiert, aber nicht ins Grundgesetz aufgenommen. Nach Peschel-Gutzeit (2008) befürchtete man ein »Rechtschaos«. Die familienpolitischen Bestimmungen und Gesetze zur Konkretisierung des Gleichheitsgrundsatzes zogen sich dann über Jahrzehnte hin, mussten immer wieder nach Einsprüchen des Bundesverfassungsgerichtes reformiert werden und haben sich teilweise bis heute nicht erledigt. Einige Beispiele: Gleichberechtigungsgesetz 1957, Nichtehelichengesetz 1969, Eherechtsreformgesetz 1977, Unterhaltsänderungsgesetz 1986. Ein umfassendes grundgesetzkonformes Familienrecht, wie nach Art. 117 GG für den 1. April 1953 versprochen, gab es nie. Aber immerhin wurde 1977 das Alleinbestimmungsrecht des Mannes in allen familiären Angelegenheiten abgeschafft.
Seit 1966 galten Ehegatten auch in der Familie als gleichberechtigt
In der sowjetischen Besatzungszone gab es bei der Ausarbeitung der Verfassung keinen Sturm öffentlicher Entrüstung, aber auch wichtige, von Frauen initiierte Korrekturen am ersten Verfassungsentwurf. Der Volksrat, der hier für die Ausarbeitung der Verfassung zuständig war, hatte im August 1948 seine Vorschläge veröffentlicht. Hier hieß es zur Gleichberechtigung: »Die Frau ist auf allen Gebieten des staatlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens dem Manne gleichgestellt.« Innerhalb des DFD existierte bereits seit Mitte 1947 eine Verfassungskommission unter Leitung von Käte Kern. Dieses Gremium setzte seinen Formulierungsvorschlag dagegen: »Mann und Frau sind gleichberechtigt. Alle Gesetze und Bestimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen, sind aufgehoben.« Mit dem »Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau«, das bereits 1950 erlassen wurde und den Gleichberechtigungsgrundsatz konkretisierte (allerdings auch Abtreibung wieder verbot), wurde das Alleinbestimmungsrecht des Mannes in allen familiären Angelegenheiten abgeschafft.
Die damals bestehende Chance, auf Geschlechtergerechtigkeit in der Familie hinzuwirken, wurde demnach in Ost und West unterschiedlich wahrgenommen. Dabei ist zu vermuten, dass die Macht habenden Männer weder in der BRD noch in der DDR großes Interesse an der Familiengesetzgebung zeigten. »Das Thema Familie war für die Männer des Politbüros nebensächlich, während Hilde Benjamin die Auffassung vertrat, dass die Familie auch im sozialistischen Staat wichtige Funktionen habe und nur ein modernes Familienrecht die Gleichberechtigung der Frau ermöglichen könne« (Feth 2002: 67). Hilde Benjamin, von 1953 bis 1967 Justizministerin und in dieser Funktion bis heute heftig umstritten, war es vor allem, die über fast 20 Jahre hinweg um ein dem Sozialismus entsprechendes Familienrecht kämpfte. Als Gründungsmitglied des DFD wird sie großen Anteil an der Formulierung des Gleichberechtigungsgrundsatzes in der Verfassung gehabt haben. Noch in den 1940er Jahren argumentierte sie in der Zeitschrift »Neue Justiz« zu Problemen der elterlichen Gewalt und der eigenständigen (!) Kinderrechte (vgl. Nr. 4/1949). 1949 erschienen ihre »Vorschläge zum neuen deutschen Familienrecht«, und 1954 wurde ein erster Entwurf des Familiengesetzbuches veröffentlicht, in dem sowohl Männer als auch Frauen für die Aufgaben des Haushaltes und die Kindererziehung verantwortlich gesprochen wurden. Im Rückblick schätzte Anita Grandke ein, dass die Zeit für ein solches Gesetz damals noch nicht gekommen war. Die Einstellungen und Verhaltensweisen – wohl auch der Frauen – machten die Gesetzesforderungen in den 1950er Jahren noch unreal (vgl. Grandke 1978: 240).
Reichlich zehn Jahre später gab es – den Erinnerungen der damals Beteiligten nach (vgl. Schröter, Ullrich 2005) – immer noch Vorbehalte und Widerstand, aber das Gesetz wurde dennoch »beschlossen, nachdem es fast sechs Monate hindurch in der Bevölkerung … öffentlich diskutiert worden war. Nahezu 753.000 Bürger hatten sich an öffentlichen Veranstaltungen über dieses Gesetz beteiligt, fast 24.000 Vorschläge wurden im Verlaufe dieser großen Volksaussprache zum Gesetz gemacht. Auf der Grundlage ihrer Ergebnisse wurden durch die Gesetzgebungskommission rund 230 Veränderungen am Entwurf vorgenommen« (aus dem Vorwort). Nicht jedem DDR-Gesetz wurde vor der Verabschiedung so viel Aufmerksamkeit zuteil.
Seit dem 1. April 1966 also galten die Ehegatten (Familie ohne Ehe war in der offiziellen DDR in diesem Zeitraum noch nicht diskutabel) auch in der Familie als gleichberechtigt. Und die Familie beruhte, dem Gesetzestext (Präambel) nach, »auf den besonders engen Bindungen, die sich aus den … Beziehungen gegenseitiger Liebe, Achtung und gegenseitigen Vertrauens zwischen allen Familienmitgliedern ergeben.« Nach § 9 folgte daraus, dass »alle Angelegenheiten des gemeinsamen Lebens und der Entwicklung des einzelnen« im beiderseitigen Einverständnis zu regeln sind. Daraus ergaben sich Folgerungen für Eigentums- und Vermögensfragen, für Unterhaltsfragen, für Ehescheidungen und nicht zuletzt für den Umgang mit Kindern. Dass das Gesetz den familiären DDR-Alltag oft überforderte (vgl. Ulbricht 1968: 437), steht außer Zweifel, spricht aber nicht gegen das Gesetz.
Historisch neuer Familientyp in der DDR
Aus heutiger Sicht bemerkenswert: Es ging beim Familiengesetzbuch nicht nur um das gemeinsame Leben in der Familie, sondern auch um die Entwicklung des/der einzelnen in dieser Gemeinsamkeit. In § 10 heißt es ergänzend zu § 9: »Die Beziehungen der Ehegatten zueinander sind so zu gestalten, dass die Frau ihre berufliche und gesellschaftliche Tätigkeit mit der Mutterschaft vereinbaren kann.« Die DDR-Realität vor Augen, wurde eine analoge und eigentlich erforderliche Regelung zur Vereinbarkeit mit der Vaterschaft zwar nicht für notwendig gehalten, aber dass nicht nur die Familie als Ganzes (nicht nur die »Bedarfsgemeinschaft«), sondern auch die Individuen in ihr zu schützen sind, galt wohl als selbstverständlich. Dazu noch einmal Ute Gerhard: »Am Beispiel Schwedens, das aus familienpolitischer Sicht als Musterland einer gelungenen Sozialpolitik im Hinblick auf die Vereinbarung von Familie und Beruf anzusehen ist, lässt sich … die Bedeutung von Recht als Instrument der Politik nachweisen. Hervorzuheben ist, dass es sich dabei nicht um Rechtsfortschritte zum Schutz der Familie als Institution handelt, sondern um die Stärkung der individuellen Bürgerrechte jedes und jeder Einzelnen in der Familie und insbesondere auch der Kinder« (Gerhard 2005: 465).
Im Ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung von 2011 wird unter dem Thema Familienrecht nicht vom »Musterland« DDR gesprochen, aber (mit Bezug auf Coester 1983) von einem historisch neuen Familientyp, den die DDR etabliert habe (Neue … 2011: 44). So kann man das nennen. Man könnte aber auch resümieren, dass im Osten Deutschlands (bis zur Einführung des Bundesrechts) die seit 300 Jahren auf der Tagesordnung stehende Moderne für die kleinste Zelle der Gesellschaft ein Stück vorangekommen war.
Literatur:
Benjamin, Hilde, 1949, Vorschläge zum neuen deutschen Familienrecht, Berlin 1949.
Coester, Michael, 1983, Das Kindeswohl als Rechtsbegriff. Die richterliche Entscheidung über die elterliche Sorge beim Zerfall der Familiengemeinschaft. Schriftenreihe der Gesellschaft für Rechtsvergleichung, Band 114, Alfred Metzner Verlag Frankfurt am Main.
Feth, Andrea, 2002, Hilde Benjamin (1902-1989). In: Neue Justiz 2/2002, Zeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtssprechung in den Neuen Ländern, S. 64-67.
Fichte, Johann Gottlieb, 1796, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, Jena und Leipzig bei Christian Ernst Gabler.
Gerhard, Ute, 2005, Die Ehe als Geschlechter- und Gesellschaftsvertrag: Zum Bedeutungswandel der Ehe im 19. und 20. Jahrhundert. In: Ingrid Bauer, Christa Hämmerle, Gabriele Hauch (Hrsg.), Liebe und Widerstand. Ambivalenzen historischer Geschlechterbeziehungen, Böhlau Verlag Wien-Köln-Weimar, S. 449-468.
Grandke, Anita, 1978, Zur Entwicklung von Ehe und Familie. In: Zur gesellschaftlichen Stellung der Frau in der DDR, hrsg. vom Wissenschaftlichen Beirat »Die Frau in der sozialistischen Gesellschaft« bei der AdW der DDR unter Leitung von Prof. Dr. Herta Kuhrig und Dr. sc. Wulfram Speigner, Verlag für die Frau Leipzig.
Neue Wege – gleiche Chancen. Gleichstellung von Frauen und Männern im Lebensverlauf. Gutachten der Sachverständigenkommission an das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für den Ersten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung, Berlin 2011.
Peschel-Gutzeit, Lore-Maria, 2008, Die Entwicklung des Familienrechts in der BRD. Vortrag auf Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung »Die Frau ist frei geboren und bleibt dem Manne gleich«, 29.2./1.3. 2008, Berlin.
Posch, Martin, 2006, 60 Jahre »Neue Justiz«. In: Neue Justiz 4/2006, Zeitschrift für Rechtsentwicklung und Rechtssprechung in den Neuen Ländern, S. 145-150.
Schröter, Ursula; Ullrich, Renate, 2005, Patriarchat im Sozialismus? Nachträgliche Entdeckungen in Forschungsergebnissen aus der DDR, hrsg. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Texte Nr. 24, Karl Dietz Verlag Berlin.
Süßmuth, Rita, 1994, Vom Frauenwahlrecht zur Frauenpolitik. In: 75 Jahre Frauenwahlrecht in Deutschland – Rückblick und Bilanz. Aktuelle Fragen der Politik Nr. 5, Konrad-Adenauer-Stiftung, St. Augustin.
Ulbricht, Lotte, 1968, Reden und Aufsätze 1943-1967, Dietz Verlag Berlin.
Mehr von Ursula Schröter in den »Mitteilungen«:
2015-06: In anderen Umständen – seit 20 Jahren
2014-07: Die Republik braucht alle Frauen – alle Frauen brauchen die Republik