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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die Aggression gegen Jugoslawien, eine Zäsur in der europäischen Geschichte nach dem 2. Weltkrieg

Interview mit Ralph Hartmann, Berlin

 

Vor zehn Jahren haben wir in unseren "Mitteilungen" Deine Rede auf der beeindruckenden Massenkundgebung vor der Berliner Gedächtniskirche am Tag nach dem NATO-Überfall auf Jugoslawien veröffentlicht. Darin hattest Du die Aggression und insbesondere "die Teilnahme der Bundesrepublik Deutschland an diesem völkerrechtswidrigen Gewalt- und Kriegsakt" leidenschaftlich verurteilt. Was empfindest Du heute?

Die gleiche Abscheu, den gleichen Zorn. Vielleicht weniger emotional, aber gleichzeitig auch begründeter.

Wie meinst Du das?

Als damals viele Tausende im Herzen der sogenannten City-West zusammenströmten, hatte der Überfall gerade stattgefunden. Die Empörung war groß. Doch niemand wußte zu diesem Zeitpunkt, daß die NATO das nach der Abspaltung Sloweniens, Kroatiens, Bosniens und Mazedoniens relativ kleine Land 78 Tage lang mit einer gewaltigen Luftarmada bombardieren und mehr Sprengstoff einsetzen würde als Hitlerdeutschland während der vier Jahre des Zweiten Weltkrieges gegen das damals wesentlich größere Jugoslawien. Niemand, selbstverständlich auch ich nicht, konnte sich vorstellen, daß der Kriegspakt so lange ausschließlich aus der Luft, selbst nahezu unangreifbar, mit High-Tech- und international geächteten Waffen Tod und Verderben säen, Tausende Frauen und Männer, Kinder und Greise erschlagen, die Infrastruktur und ganze Bereiche der Wirtschaft zerstören, die Umwelt schwer schädigen würde. Noch hatte niemand die schrecklichen Bilder der unter bundesdeutscher Beteiligung begangenen Verbrechen gesehen: die pechschwarzen, kilometerhohen Rauchwolken der brennenden Raffinerien in der Nähe Belgrads, die gen Himmel schießenden Flammen eines bombardierten Wolkenkratzers unweit des Zusammenflusses von Donau und Save, die verkohlten und zerfetzten Menschenleiber auf den Straßen von Prizren und Djakovica, in den Wohngebieten von Aleksinac, Pristina und Cupria, auf den Brücken von Novi Sad, Grdelica, Varvarin und vielen anderen Orten. Allen, die sich versammelt hatten, war schmerzlich bewußt, daß es sich nicht um einen "Nichtkrieg", wie Kanzler Schröder behauptete, um eine militärische Aktion zur Verhinderung einer "humanitären Katastrophe" in Kosovo, sondern um eine brutale Aggression handelte. Schwerlich aber konnten sie all die schrecklichen Folgen voraussehen. Auch so manchem Teilnehmer an der spontanen Protestmanifestation waren die weitreichenden Ziele nicht bekannt, aber...

Bleiben wir bitte bei den Zielen der NATO. Worin siehst Du diese mit einem zeitlichen Abstand von zehn Jahren?

Sie bezogen sich keinesfalls nur auf Kosovo, und auch nicht nur auf Jugoslawien. So fällt es schwer, sie mit wenigen Sätzen darzulegen. Doch ich will es versuchen. Im vergangenen Jahr hat der damalige serbische Ministerpräsident, übrigens ein erbitterter Gegner des langjährigen Vorsitzenden der Sozialistischen Partei Serbiens, Slobodan Milosevic, mit Blick auf die Scheinverhandlungen über den Ahtisaariplan zur Abtrennung der südserbischen Provinz Kosovo, sinngemäß erklärt, daß die USA und die NATO Serbien grausam und rechtswidrig bombardierten und ihre Streitkräfte nach Kosovo führten, um 15 Prozent des Territoriums Serbiens zu rauben. In diesem Punkt ist ihm zweifellos zuzustimmen, doch die Pläne der NATO gingen weit darüber hinaus. Ihr Ziel war es, das letzte Land in Europa, in dem noch immer die rote Fahne, wenn auch arg verschlissen, flatterte, in die Knie zu zwingen, die Sozialistische Partei Serbiens (SPS) von der Macht zu verdrängen und die Balkanhalbinsel zu einem sicheren Sprungbrett zu den weiter östlich liegenden Erdöl- und Erdgas-Ressourcen auszubauen. Nicht zuletzt ging es ihnen darum, Rußland, den traditionellen Verbündeten Serbiens, vom Balkan zu verdrängen und aller Welt die unwiderstehliche Macht des Kriegspaktes zu demonstrieren. So betrachtet war die Aggression ein Krieg zur Abrundung der 1989/90 erreichten Neuaufteilung Europas zu Gunsten der USA und der anderen imperialistischen Mächte.

Und haben sie diese Ziele erreicht?

In mancherlei Hinsicht ja, in anderer nicht. Kosovo wurde von der NATO okkupiert und 2008 in eine "überwachte Unabhängigkeit" entlassen. Südlich von Pristina haben die USA "Camp Bondsteel", mit mehr als 7.000 Soldaten eine ihrer größten Militärbasen, errichtet. Mit zeitlicher Verzögerung und mit Hilfe erpresserischer Sanktionen sowie massiver völkerrechtswidriger ausländischer Wahlhilfe wurden die SPS entmachtet, der Kapitalismus in Serbien restauriert und der Ex-Präsident Milosevic nach Den Haag vor das sogenannte Jugoslawientribunal, vor dem die Aggressoren über die Angegriffenen richten, verschleppt und durch die Verweigerung dringend erforderlicher medizinischer Hilfe zu Tode gebracht. Mit der von außen forcierten und finanzierten Abspaltung Montenegros und dem Raub Kosovos wurde die Zerschlagung der einst international geachteten und von Ost wie West gleichermaßen umworbenen Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien abgeschlossen.

Weshalb meinst Du angesichts dieser Bilanz, daß die NATO letztlich nicht alle ihre Ziele erreicht hat?

Verfehlt wurde das Ziel, der Welt zum Zwecke der Einschüchterung die militärische Macht der NATO nachhaltig zu demonstrieren. Trotz hundertfacher militärischer Überlegenheit, trotz mörderischer Bombardements und Einsatz modernster High-Tech-Kriegstechnik sowie international geächteter Splitterbomben und Uranmunition gelang dem Militärpakt kein Blitzsieg über die relativ kleinen jugoslawischen Streitkräfte. Erst nach dem Verrat Rußlands unter der trunkenen Führung Jelzins, "Vermittlung" genannt, zogen sich diese, weitgehend intakt und auf einen Bodenkrieg vorbereitet, aus Kosovo zurück. Selbst der erste Befehlshaber der auf dem Balkan eingesetzten Bundeswehrsoldaten, General Hartmut Harff, sah sich zu dem Eingeständnis gezwungen, die NATO sei noch einmal davon gekommen, "allerdings mit zwei blutunterlaufenen blauen Augen". Daß es zu keinem Bodenkrieg kam, war für die gequälten Opfer der Aggression gewissermaßen ein kleines Glück im großen Unheil. Und was Rußland anbelangt, so ist es unter Putin auf den Balkan zurückgekehrt. Das zeigt sich nicht nur in seiner konsequenten Ablehnung der Abtrennung Kosovos und seinem Beharren auf der UN-Resolution 1244, in der die Achtung der territorialen Integrität Serbiens festgeschrieben ist, sondern zum Beispiel auch in der kürzlichen Unterzeichnung eines russisch-serbischen Abkommens über eine strategische Zusammenarbeit im Bereich der Energetik, die für ganz Südosteuropa von beträchtlicher Bedeutung ist.

Laß uns noch einmal auf das ‚kleine Glück im großen Unheil‘, den nicht stattgefundenen Bodenkrieg, der zweifelsohne noch größere Zerstörungen gebracht und die so schon enorme Zahl der Opfer erhöht hätte, zurückkommen. Welche Rolle spielte aus Deiner Sicht die Antikriegsbewegung bei seiner Verhinderung?

Die NATO-Aggressoren hatten es vorgezogen, Jugoslawien mit Terrorangriffen aus der Luft zu besiegen und eigene Opfer zu vermeiden. Ein Krieg auf jugoslawischem Territorium hätte auch vielen NATO-Soldaten das Leben gekostet und den Kriegspakt in eine Zerreißprobe ohnegleichen gebracht. Allein schon der brutale Überfall aus der Luft hatte in vielen Ländern zu Massenprotesten geführt. Auch in Deutschland nahm die Friedensbewegung einen beachtlichen Aufschwung. Auf Großkundgebungen, u.a. in Berlin, Hamburg, Frankfurt/Main, forderten Tausende und Abertausende ein sofortige Einstellung der barbarischen Luftangriffe. Ein Bodenkrieg hätte den Protest vervielfacht. Das fürchteten auch diejenigen, die für die Kriegsverbrechen verantwortlich waren. Mit jedem neuen "Kollateralschaden" bröckelte der Rückhalt für den Krieg selbst in den Bevölkerungsteilen, die der Manipulation der öffentlichen Meinung anfangs zum Opfer gefallen waren. Ende Mai wurde NATO-Generalsekretär Javier Solana ein internes Papier vorgelegt, in dem Experten zur Einschätzung gelangt waren, daß die Pluspunkte, die der Pakt in der öffentlichen Meinung durch Bilder von den Flüchtlingsströmen gesammelt habe, durch die Aufnahmen von bombardierten Wohngebäuden oder von Opfern unter der Zivilbevölkerung zunichte gemacht würden. Eingeschätzt wurde, "daß die NATO dabei war, aus der Informationsschlacht gegen Serbien als Verlierer hervorzugehen". Das war nicht zuletzt ein Ergebnis der Friedensbewegungen.

Welche Auswirkungen hatte das auf die Regierenden, die den Krieg als "humanitäre Mission" vorbereitet und begonnen hatten?

Die Regierungen der NATO-Länder gerieten unter wachsenden Druck. Die deutsche rot-grüne bildete keine Ausnahme, gerade ihr stand das Wasser bis zum Hals. In der zweiten Maihälfte war die Stimmung endgültig umgeschlagen. Die Mehrheit der Bevölkerung sprach sich in Umfragen für eine sofortige Einstellung der Bombardements aus, in Ostdeutschland forderten drei Viertel der Erwachsenen eine sofortige bedingungslose Einstellung der Luftangriffe, darunter 75 Prozent der SPD-Wähler und zwei Drittel der CDU-Anhänger. Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer in Deutschland wuchs rapide.

Unter den Grünen distanzierten sich selbst hartnäckige Kriegsbefürworter vom NATO-Kurs. Sogar die verteidigungspolitische Sprecherin ihrer Bundestagsfraktion, Angelika Beer, die die Bombardierung Jugoslawiens über viele Wochen als "alternativlos" bezeichnet hatte, erklärte die Strategie der NATO für "endgültig gescheitert" und schätzte ein, daß sich die NATO in eine Sackgasse bombt. Von Angelika Beer und ihrem frappierenden Sinneswandel gegenüber der NATO-Strategie kann man halten, was man will, hier traf sie ins Schwarze. Ihre Einschätzung verriet den entscheidenden Grund, weshalb der grüne Außenminister Fischer, der die deutsche Kriegsbeteiligung betrieben und mit monströsen Argumenten verteidigt hatte, rastlos nach einem Ausweg aus der Sackgasse des Krieges suchte. Für ihn ging es nicht mehr allein um das Fortbestehen der rot-grünen Regierung, auf dem Spiel stand die eigene politische Existenz...

In der SPD-Führung, deren Repräsentanten, Kanzler Schröder und Kriegsminister Scharping, gemeinsam mit Fischer die Bundesrepublik in den Krieg getrieben hatten, war doch die Stimmung keineswegs besser.

Völlig richtig, auch in der SPD rumorte es. Die Front der Kriegsbefürworter wurde von Woche zu Woche schwächer. Daß zum Beispiel Oskar Lafontaine auf einer Großkundgebung, aber auch Hermann Scheer und die Parteilinke um Detlev v. Larcher gegen den Krieg auftraten, daran hatten sich Schröder und Scharping gewöhnt; nun aber, Ende Mai/Anfang Juni, meldeten sich Parteifreunde kritisch zu Wort, von denen noch vor kurzem ganz andere Töne zu hören waren. Die ostdeutschen Ministerpräsidenten Manfred Stolpe und Reinhard Höppner traten für eine umgehende Feuerpause ein. Der stellvertretende Fraktionschef und außenpolitische Sprecher Gernot Erler schätzte ein, daß sich die NATO mit dem Verlauf des Krieges ein Armutszeugnis ausgestellt habe. Aber schlimmer noch: Unbill drohte dem Kriegskabinett von einer Seite, von der sie nach dem kriegsbefürwortenden Sonderparteitag der SPD im April am wenigsten zu erwarten war: von Erhard Eppler. Dieser hatte auf dem Kongreß mit einem demagogischen Plädoyer gegen das Völker- und für das Menschenrecht die Mehrheit der Delegierten für den Krieg gewonnen. Nun aber sprach er sich plötzlich gegen den Krieg aus.

Epplers Einsicht kam spät, Monate zu spät, aber sie machte deutlich, daß für den Kanzler und seinen Verteidigungsminister auch in der eigenen Partei die Luft immer dünner wurde. Zugleich schlossen sich die Kriegsgegner wieder enger zusammen. Beim Kassler "Friedensratschlag" Anfang Juni vereinbarten die Vertreter von rund hundert Friedensorganisationen und -initiativen für den Fall der Fortdauer des NATO-Krieges sowohl europaweite Massenkundgebungen als auch wirksame dezentrale Manifestationen. Als Veranstaltungsorte für derartige Aktionen wurden Objekte ins Auge gefaßt, die von den NATO-Bombern in Jugoslawien mit Vorliebe attackiert worden waren: Brücken und Eisenbahnschienen, Krankenhäuser, Elektrizitätswerke und Fernsehstudios. Der Sprecher des "Friedensratschlages", Peter Strutynski, kündigte an, daß die Strukturen für eine kurzfristige Mobilisierung für die vorgesehenen Aktionen und Demonstrationen bereitstehen. Nein, auch und gerade dank der Aktivitäten der Friedensbewegung sah es an der bundesdeutschen "Heimatfront" Ende Mai/Anfang Juni nicht gut aus für Schröder, Fischer, Scharping und die Ihren.

Welche Lehren sollten nach Deiner Meinung die Friedensbewegten aus dem Krieg ziehen?

Ich stehe nicht an, mich in dieser immer noch aktuellen Frage als Lehrmeister aufzuspielen. Die Kriegsgegner im Kassler Friedensratschlag, die vielen einzelnen Friedensorganisationen, darunter die Berliner Friedenskoordination, aber besonders auch die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerecht und Menschenwürde, haben das gründlich diskutiert. Die von letzteren organisierten Internationalen Hearings zu Vorbereitung eines Europäischen Tribunals über den NATO-Krieg gegen Jugoslawien und das Tribunal selbst, in deren Gefolge sich das Europäische Friedensforum (efp) bildete, waren außerordentlich wichtige Ergebnisse dieses Prozesses. Alles andere als zufällig ist es, daß das efp, das Friedensbewegte und -organisationen in Ost und West vereint – übrigens eine unverzichtbare Aufgabe, um unbelehrbaren Kriegsabenteurern rechtzeitig in den Arm zu fallen – aus Anlaß des 10. Jahrestages des NATO-Überfalls auf Jugoslawien zu einer außerordentlich bedeutsamen Europäischen Friedenskonferenz am 14./15. März in Berlin aufgerufen hat.

Dieser Einschätzung ist zweifellos zuzustimmen, aber trotzdem bleibt die Frage, ob von allen Kriegsgegnern die notwendigen Lehren aus der NATO-Aggression gegen Jugoslawien gezogen wurden?

Diese berechtigte Frage muß sich jeder selbst beantworten. Dabei erscheint mir ein Aspekt von besonderer Wichtigkeit: Militärische Aggressionen – gleich wie sie geführt werden, ob zu Lande, zu Wasser oder in der Luft – sind stets von Lügenfeldzügen begleitet, in der Phase der Vorbereitung und in ihrem gesamten Verlauf.

Erinnern wir uns nur an die lügnerischen Vorwände, die in den letzten hundert Jahren zur Begründung von Krieg und Völkermord vorgebracht wurden: an das angeblich von Serbien organisierte Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajewo, den inszenierten polnischen Überfall auf den Sender Gleiwitz, die Propaganda über die dem Dritten Reich drohende "Gefahr seitens der russischen Bolschewisten", den erlogenen Angriff eines vietnamesischen Bootes auf ein US-Kriegsschiff in der Tonking-Bucht, die frei erfundene Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak. Die Reihe der Beispiele für die Entstellung der Wahrheit ließe sich beliebig fortsetzen.

Im Falle der Aggression gegen Jugoslawien waren die Lügenpropaganda und die Desinformationskampagnen mit Hilfe der modernen Medien besonders ausgeprägt und wirksam. Jahrelang wurden die Serben dämonisiert, ihr Präsident Slobodan Milosevic wurde als "Schlächter des Balkans" verteufelt, ihr Vorgehen gegen die separatistische UCK in Kosovo, anfangs selbst von den USA als "terroristische Organisation" charakterisiert, wurde als "humanitäres Verbrechen" dargestellt. Überhaupt ging es den USA, der Bundesrepublik Deutschland und ihren Verbündeten angeblich ausschließlich darum, in Kosovo eine "humanitäre Katastrophe" zu verhindern. Außenminister Fischer erfand dazu die den Holocaust bagatellisierende zweite Auschwitzlüge und gleichzeitig beschuldigte er Milosevic, eine "faschistische Politik", mehr noch: "eine rohe barbarische Form des Faschismus", zu betreiben. Gleichzeitig verbreitete sein Kabinettskollege, Kriegsminister Scharping, bis dahin nicht gehörte Greuelmärchen. Denken wir nur an seine Berichte von den Frauen, denen man die Kinder entrissen, deren Köpfe abgeschnitten und damit Fußball gespielt habe; von den Schwangeren, denen man den Leib aufgeschlitzt, den Fötus gegrillt und anschließend in den Bauch zurückgelegt habe. Begleitet wurden diese Horrorgeschichten im Fernsehen von immer wiederkehrenden Bildberichten über die vor den serbischen Schergen flüchtenden Albaner. Wohlweislich wurde verschwiegen, daß im Jahr vor dem NATO-Angriff 170.000 Bewohner vor den Auseinandersetzungen zwischen der UCK und den jugoslawischen Sicherheitskräften aus dem Gebiet geflohen waren. Nach dem NATO-Überfall flüchteten 800.000, darunter 70.000 Serben und Roma, zum größten Teil aber albanische Bewohner des Gebietes. Sie verließen das Gebiet – flüchtend vor den NATO-Bomben, die Serben und Albaner töten, allein Pristina wurde 280 Mal von der NATO angegriffen, vertrieben von serbischen Paramilitärs, den Aufrufen der UCK folgend und deren Terror gegen "Kollaborateure" fürchtend, Schutz suchend vor den Kämpfen zwischen der UCK und dem jugoslawischen Militär.

Angesichts aller Lügen und der aufwühlenden Bilder über den Massenexodus aus Kosovo gerieten viele, darunter auch entschiedene Kriegsgegner, in Zweifel und Verwirrung, weil sie befürchteten, als Verteidiger eines üblen Diktators, des zum "zweiten Hitler" gescheitelten Milosevic zu gelten. Nur ein Teil von ihnen war mutig genug, gegen die Aggressoren zu protestieren, ohne gleichzeitig die serbischen Opfer der Aggression zu verurteilen bzw. sich von ihnen zu distanzieren. Zwangsläufig schwächte das den Widerstand, zumal dann, wenn selbst in der PDS, die in ihrer Gesamtheit als entschiedene Friedenspartei auftrat, einige Kräfte den Lügen, z. B. im Falle des sogenannten Racak-Massakers, auf den Leim gingen.

Aus meiner Sicht kann die Schlußfolgerung nur lauten, sich durch die Herrschenden und die in ihren Medien betriebene Kriegspropaganda nicht in die Irre führen zu lassen und die Wahrheit zu verteidigen. Aggressionen sind ohne Lügen undenkbar. Ihnen zu begegnen ist schlicht und einfach Bürgerpflicht und eine entscheidende Voraussetzung, um die Friedens- als Massenbewegung zu stärken. Unter den herrschenden Verhältnissen ist das eine schwierige Aufgabe, zuweilen beinahe Sisyphus-Arbeit, aber die Steine der Wahrheit müssen immer wieder nach oben geschleppt werden. Im Verlauf des NATO-Krieges hat die Friedensbewegung auch in Deutschland eine bewundernswerte Leistung vollbracht, die Kriegspropaganda entlarvt und gerade damit wirksam zur Einstellung der barbarischen Luftangriffe beigetragen.

Je mehr die Wahrheit über die barbarische Kriegsführung ans Licht kam, je überzeugender die Kriegslügen widerlegt wurden, desto schwieriger wurde es für die Verantwortlichen, den Angriffskrieg zu verteidigen. Es kam die These auf, daß die Bundesrepublik den Krieg eigentlich gar nicht gewollt habe, sondern nur in ihn "hineingeschlittert" sei. Was hältst Du davon?

Das ist blanker Unsinn. Um diese irrwitzige These zu widerlegen, muß man an dieser Stelle weder näher auf die bekannte Vorreiterrolle der BRD bei der völkerrechtswidrigen Einmischung in die innerjugoslawischen Auseinandersetzungen, bei der Zerschlagung der jugoslawischen Föderation und der Schürung des blutigen Bürgerkrieges in Bosnien noch auf die massive Unterstützung der albanischen Separatisten in Kosovo eingehen. Es genügt allein daran zu erinnern, daß Forderungen nach einem Eingreifen der NATO in Jugoslawien, nach Luftangriffen gegen die jugoslawische Armee bereits zu Beginn der 90er Jahre, unter anderen von Wolfgang Schäuble, Karl Lamers und Christian Schwarz-Schilling, gestellt wurden. In diese Reihe gehört auch Gerhard Schröder. Schon im Herbst 1998 erklärte er, damals noch Kanzlerkandidat, daß er sich ein Eingreifen der NATO in Kosovo auch ohne UNO-Mandat, mit anderen Worten eine Aggression, vorstellen könne. Rudolf Scharping, Verteidigungsminister der ersten rot-grünen Regierung, wurde noch präziser. In seinem "Kriegstagebuch" beschreibt er detailliert die Phasen der 2 Monate später erfolgenden NATO-Aggression. Nach seinen Worten sah die Phase III die Ausdehnung der Angriffe auf ganz Jugoslawien vor, wobei u.a. Produktions- und Lagerstätten, Elektrizitätswerke und Ölraffinerien angeführt wurden. In den sogenannten Friedensgesprächen in Rambouillet schließlich schob die NATO stets dann neue Forderungen nach, wenn eine friedliche Konfliktlösung nahe war. Zuletzt forderte sie ultimativ die sofortige Unterzeichnung eines nicht verhandelten sogenannten Implementierungsabkommens, dessen Kern die Okkupation Kosovos durch eine 28.000 Mann starke NATO-Truppe, die Verwandlung des Gebietes in ein NATO-Protektorat mit der Perspektive seiner Abtrennung von der Republik Serbien nach drei Jahren und die Einführung eines NATO-Besatzungsregimes für ganz Jugoslawien vorsah. Nun endlich ging die Rechnung der NATO auf: Die jugoslawische Regierung konnte dieses Diktat, das in der modernen Geschichte ohne Vergleich ist, nicht annehmen. Damit hatte die NATO den Vorwand gefunden, um mit der Bombardierung Jugoslawiens zu beginnen.

Wie lautet nach all dem Dein Fazit?

Die Aggression gegen Jugoslawien war eine Zäsur in der europäischen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Krieg wurde von den USA, der BRD und anderen NATO-Staaten mit Vorsatz herbeigeführt und Deutschland stieß mit seiner Teilnahme endgültig die Tür zu einer neuen Militärrolle auf, die deutsche Truppen mittlerweile bis an den Hindukusch führte. Wenn es auch nur eines Beweises bedürfte, um die Forderung nach Auflösung der NATO zu begründen, dann wurde er bereits vor zehn Jahren mit dem barbarischen Krieg gegen Jugoslawien erbracht.

 

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2007-06: Bücherbord: »Die DDR unterm Lügenberg«