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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Die Absurdität der bundesdeutschen Nachkriegshaltung

Horsta Krum, Berlin

 

Vor 10 Jahren, am 27. November 2001, wurde die zweite Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht in Berlin eröffnet. Sie erreichte hier große Aufmerksamkeit bei Besuchern und Medien und wurde in den folgenden Jahren an anderen Orten gezeigt. Das genannte Datum ist Anlaß für nachstehenden Rückblick.

Am 29. Januar 1995, fünfzig Jahre nach Kriegsende, eröffnete das Hamburger Institut für Sozialforschung die Ausstellung "Zweihundert Tage und ein Jahrhundert", die eine besondere Ausstellung über die deutsche Wehrmacht enthielt.

Am 5. März folgte dann, unmittelbar im Anschluß an diese Gesamtausstellung, wieder in Hamburg, die Ausstellung "Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944". In 33 deutschen und österreichischen Städten verzeichnete sie mehr als 800.000 Besucher. Die historische Forschung war sich über die Hauptaussage der Ausstellung weitgehend einig. Aber der weitaus größte Teil der Bevölkerung, zumal in der Bundesrepublik, nahm diese Forschung nicht zur Kenntnis. Andere Dinge prägten ihr Bewußtsein, beispielsweise das, was das Oberkommando der Wehrmacht am 9. Mai 1945 in seinem letzten Bericht formuliert hatte: daß "die deutsche Wehrmacht ... einer gewaltigen Übermacht ehrenvoll unterlegen sei". Dieser Bericht gebraucht immer noch die Sprache der LTI [Victor Klemperer, LTI (Sprache des Dritten Reiches), erste Auflage 1946.]: neben "ehrenhaft", "heldenhaft", "getreu" ist es vor allem das Wort "Opfer". Im November versuchen ehemalige hochrangige Militärs, die Wehrmacht von ersten Vorwürfen zu entlasten: Das Heer habe "sich in dem Partisanen- und Bandenkrieg stets in Abwehr" befunden. "Gefangene Partisanen wurden in Gefangenenlager abgeschoben oder der Arbeitsvermittlung übergeben." Zum Mord an Juden heißt es: "Die Maßnahmen gegen die Juden wurden vom Reichsführer SS getroffen und durchgeführt. Sie erfolgten außerhalb des Machtbereiches der Heeresdienststellen und ohne deren Kenntnis." [Diese Zitate und die Auseinandersetzung um die erste Ausstellung sind im Katalog der zweiten Ausstellung dokumentiert. Die von den Briten angefertigten Abhörprotokolle deutscher gefangener Offiziere geben folgende Äußerung des Generals Graf von Rothkirch vom 9.3.1945 wieder: "Bei allem was ich aussage, habe ich mir vorgenommen, es immer so zu drehen, daß das Offizierscorps reingewaschen wird. Rücksichtslos! Die nehmen ja auf uns keine Rücksicht, diese anderen (die SS)". Quelle: Abgehört von Sönke Neitzel, 2005.]

Hauptsächlich haben aber Medien das breite Bewußtsein bestimmt: illustrierte Massenblätter, Trivialromane, Filme – ganz im Sinne der oben erwähnten Dokumente. Heldenhafte, ehrenhafte Männer kämpften in diesem Krieg, aber sie waren Opfer des Führers, der sie in die Katastrophe führte. Es bleibt das Erlebnis der Kameradschaft und das Feindbild des Kommunismus.

In der Einleitung zum Ausstellungskatalog heißt es: "Die Wehrmacht führte 1941 bis 1944 auf dem Balkan und in der Sowjetunion keinen 'normalen Krieg', sondern einen Vernichtungskrieg gegen Juden, Kriegsgefangene und Zivilbevölkerung, dem Millionen zum Opfer fielen. Die deutsche Militärgeschichtsschreibung hat zwar viel zur Aufklärung dieses Tatbestandes beigetragen, sie weigert sich aber einzugestehen, daß die Wehrmacht an allen Verbrechen aktiv und als Gesamtorganisation beteiligt war ...

Von Beginn an versuchte die Wehrmacht, die Spuren ihrer Verbrechen und die Erinnerung daran zu verwischen. Was an Legendenbildung in der Nachkriegszeit entstand, war nur die Fortsetzung dieser Politik. Die Ausstellung will kein verspätetes und pauschales Urteil über eine ganze Generation ehemaliger Soldaten fällen. Sie will eine Debatte eröffnen über das – neben Auschwitz – barbarischste Kapitel der deutschen und österreichischen Geschichte, den Vernichtungskrieg der Wehrmacht von 1941 bis 1944."

Legendenbildung, Kritik und Protest

Von Anfang an begleiten Vorträge, Filme die Ausstellung, auch kontroverse Diskussionen. In München kommt es zum Eklat. Nachdem Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) die Ausstellung am 24. Februar 1997 eröffnet hat, demonstrieren am 1. März zwischen 4.000 und 5.000 Ausstellungsgegner. Mit der NPD rufen auch Vereine wie der "Schutzbund deutscher Soldaten" auf, die "Protestveranstaltungen der volkstreuen Verbände" zu unterstützen. Der Vorsitzende der Münchener CSU, Peter Gauweiler, läßt einen Protestbrief an 300.000 Münchener Haushalte verteilen. Unter seiner Führung legt die Münchener CSU, zusammen mit der Jungen Union, am Tage der Ausstellungseröffnung einen Kranz nieder am Grabmal des Unbekannten Soldaten. Fotos zeigen Teilnehmer mit Kerzen, manche Menschen knien. Der Bayernkurier wirft der Ausstellung vor, "einen moralischen Vernichtungskrieg gegen das deutsche Volk zu führen." Einer der Autoren der Ausstellung, Hannes Heer, und der Leiter des Hamburger Instituts, Jan Philipp Reemtsma, werden persönlich diffamiert und wehren sich gerichtlich.

Aber am 1. März protestieren in München auch etwa 10.000 Menschen gegen die von der NPD geführte Demonstration. Die Auseinandersetzungen in München wecken Aufmerksamkeit in anderen Städten. Im Januar 1998 protestieren in Dresden über tausend Rechtsradikale. Eins ihrer Transparente lautet: "Die deutsche Wehrmacht kämpfte tapfer und anständig. Zerschlagt die antideutsche Propaganda ständig und überall." Andere Protestdemonstrationen folgen. Im Februar 1999 zieht die NPD durch Saarbrücken; kurz darauf verwüstet ein Sprengstoffanschlag die dortige Ausstellung. Dies alles, obwohl die Ausstellungsleitung und die jeweils Verantwortlichen vor Ort sich ständig um konstruktive Diskussionen bemühen.

In Bremen soll die Ausstellung im Frühjahr 1997 gezeigt werden, also kurz nach München. Bürgermeister Henning Scherf (SPD) bemüht sich bereits im Vorfeld, Spannungen abzubauen. Nach zwei Zugeständnissen stimmt schließlich der Koalitionspartner CDU, der die Ausstellung am Stadtrand ansiedeln wollte, dem Rathaus als Präsentationsort zu: gleichzeitig gibt es im Bremer Rathaus eine Ausstellung über den militärischen Widerstand, und am Eingang hängt die Erklärung des Bremer Senats vom März 1997, die einerseits bestätigt, "daß die Wehrmacht ein Instrument der nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik war und in ihrer Spitze sowie mit Truppenteilen in Verbrechen ... verstrickt war ... Teile der Wehrmacht waren an den Greueltaten des Nazi-Regimes beteiligt." Aber "die Mehrzahl der deutschen Soldaten war an den Greueltaten ... nicht direkt beteiligt. Der einzelne hatte keine Chance, den Vernichtungskrieg Hitlers zu verhindern. Deshalb ist es nicht zulässig, ein Pauschalurteil über alle 18 Millionen deutsche Soldaten zu fällen ..." Diese Erklärung reicht der NPD und ihren Sympathisanten nicht: Sie planen eine Demonstration, die der Bremer Senat untersagt.

Im Dezember 1997 ehrt die Internationale Liga für Menschenrechte die Verantwortlichen der Ausstellung und überreicht Hannes Heer die Carl-von-Ossietzky-Medaille. "Die Debatte um die nach wie vor als 'umstritten' geltende Wehrmachtsausstellung hat uns erneut die ganze Verlogenheit und Absurdität der bundesdeutschen Nachkriegshaltung des 'Niemand-war-dabei-und-keiner-hat's-gewußt' deutlich vor Augen geführt."

Ab 1999 richtet sich lautstarke Kritik vor allem gegen die Fotos der Ausstellung: 1.433 Fotos, aufgenommen von "Bildberichtern" der Propaganda-Kompanien, also von offiziellen Fotografen; in der Mehrzahl sind es aber Privatfotos von Soldaten, teilweise ist ihre Herkunft unklar, so daß manche Bildunterschriften etwa lauten "Unbekannter Ort, Serbien" oder "Unbekannter Ort, UdSSR". Manche Kritiker sprechen von "Bilderflut", von "Suggestion"; andere, wie der Pole Bogdan Musial, nennen einzelne Bilder, "die nicht, wie die Aussteller behaupten, Verbrechen der Wehrmacht, sondern nach Ansicht des Verfassers sowjetische Verbrechen dokumentieren."

Die Medien im ganzen Land reagieren stark, viele stellen die Ausstellung insgesamt in Frage. "Es geht nicht um die Wahrheit", zitiert das Wochenblatt Focus (43/1999) den Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, "Wir können es uns nicht leisten, diese Geschichtsklitterung (im Original hervorgehoben) ins Ausland zu exportieren. Das wäre fatal." Die Welt am Sonntag vom 24. Oktober bringt ein Foto von "Generalfeldmarschall Wilhelm Keitel, dem Chef des Oberkommandos der Wehrmacht" (in Uniformmantel, mit Mütze, eisernem Kreuz und Stab), daneben neun Fotos der Ausstellung mit einem roten Aufkleber "falsch".

Vorwürfe, aggressiv, hämisch, scheinbar wohlwollend, kommen von vielen Seiten, so daß der Leiter des Hamburger Instituts, Jan Philipp Reemtsma, am 4.11.1999 die Ausstellung schließt. Eine Kommission aus namhaften Wissenschaftlern arbeitet ein Jahr lang. Sie prüft Bilder und Texte, lädt einige Kritiker wie den Polen Bogdan Musial ein und hört auch die Autoren der Ausstellung.

Im November 2000 liegt das Arbeitsergebnis vor: "Die Ausstellung enthält ... keine Fälschungen ... Die Überprüfung der verwendeten Bild- und Textdokumente in den benutzten Archiven hat zwar manche Ungenauigkeiten und in einigen Fällen auch falsche Zuschreibungen zu Tage gefördert, insgesamt aber die Intensität und Seriosität der von den Ausstellungsautoren geleisteten Quellenarbeit bestätigt.

Die Ausstellung argumentiert teilweise zu pauschal und unzulässig verallgemeinernd ... Dessen ungeachtet bleiben die Grundaussagen über die Wehrmacht und den im 'Osten' geführten Vernichtungskrieg der Sache nach richtig. Es ist unbestreitbar, daß sich die Wehrmacht in der Sowjetunion in den an Juden verübten Völkermord, in die Verbrechen an den sowjetischen Kriegsgefangenen und in den Kampf gegen die Zivilbevölkerung nicht nur 'verstrickte', sondern daß sie an diesen Verbrechen teils führend, teils unterstützend beteiligt war. Dabei handelte es sich nicht um einige 'Übergriffe' oder 'Exzesse', sondern um Handlungen, die auf Entscheidungen der obersten militärischen Führer und der Truppenführer an der Front und hinter der Front beruhten."

Das "Glaubwürdigkeitsproblem" der Ausstellung, heißt es, beruhe hauptsächlich auf dem "überheblichen und unprofessionellen Umgang ... mit der an der Ausstellung geübten Kritik." Damit spielt die Kommission auf mehrere von den Verantwortlichen geführten Prozesse an. Obwohl dieser Bericht die Erklärung des Bremer Senats in ihrer wesentlichen Einschätzung nicht teilt, sondern die Aussagen der Ausstellung bestätigt, spendet auch diese Kommission der Ausstellung sowohl Lob wie Tadel, um ihr dann zu bescheinigen, daß sie "sinnvoll und nötig" war.

Die Nachfolgeausstellung ist umfangreicher und systematischer. Während die erste von der bundesdeutschen Wirklichkeit nach 1945 ausgeht und deren Bild von der Wehrmacht reichlich dokumentiert, beginnt die zweite Ausstellung mit einer breiten historischen Basis, der Haager Landkriegsordnung von 1907 bis zum Eid der Soldaten von 1933 und 1934. Dann folgt der Hauptteil: Verbrechen der Wehrmacht – Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941 – 1944. Der eigentliche Titel der 1. Ausstellung ist also geblieben. Neu ist das Wort "Dimensionen"; ich interpretiere es als Hinweis auf Unvollkommenheit und eventuell noch auffindbare Dokumente – was sich bei jeder geschichtlichen Darstellung von selbst versteht.

Die Ausstellung ist nach Themen geordnet, die jeweils nachweisen, daß dieser Krieg "kein Krieg im herkömmlichen Sinne" war, was Hitler bereits drei Monate vor dem Überfall auf die Sowjetunion gegenüber dem Oberkommando der Wehrmacht ausführte.

Wie die Wehrmacht diese Grundentscheidung umsetzte, wird durch viele Dokumente deutlich gemacht, viele im Faksimile, durch spätere Zeugenaussagen von Opfern und Tätern, Briefe von Soldaten und auch Fotos, aber weit weniger als in der ersten Ausstellung. Themen dieser zweiten Ausstellung sind u.a. "Wehrmacht und Völkermord", "Sowjetische Soldaten in deutscher Kriegsgefangenschaft", "Ernährungskrieg".

Manche Kapitel enden mit einem Abschnitt "Bruchstücke". Dokumente, Berichte, Kriegstagebücher, spätere Aussagen und Fotos ergänzen als "Bruchstücke" die jeweilige thematische Aussage. Am Ende dokumentiert die Ausstellung, wie "Handlungsspielräume" von Soldaten und Offizieren genutzt wurden, manchmal unter Einsatz des eigenen Lebens.

Bei gleichbleibender Grundaussage trägt die zweite Ausstellung dem Kommissionsbericht Rechnung: Sie ist "durch die Theorie und Methodologie der Geschichtswissenschaft geprägt", sie ist "gegen Mißverständnisse geschützt". Die Fachwelt und einige, eher zurückhaltende, Kritiker können zufrieden sein.

Die neue Dimension der Grausamkeit

Sicherlich: Statistiken, Dokumente usw. dienen der Wahrheitsfindung. Sie sind sachlich, objektiv. Aber indem sie versachlichen, objektivieren sie, schaffen Distanz. Auch Berichte, selbst wenn sie im Augenblick sehr berühren, beeindrucken weniger nachhaltig als Bilder. Aber würden denn Berichte, die sehr berühren, den Kriterien einer strengen Wissenschaft genügen? Sie will ja diesen Krieg, den es so vorher nicht gab, erfassen durch bekannte und bewährte Methoden. Aber wie können bewährte Methoden und bekannte Wörter das Unbekannte begreiflich machen? Die Grausamkeit dieses Krieges war ja anders als die Grausamkeit vorhergehender Kriege (auch die war schlimm), war auch nicht ein Mehr an Grausamkeit (auch das wäre schlimm), sondern stellt eine neue Dimension dar.

Diese neue Dimension darzustellen gelingt der ersten Ausstellung weitgehend, und zwar hauptsächlich durch die Fotos. Sie lösen einen Schock aus, wie die Fotos aus dem ersten Weltkrieg, die Ernst Friedrich 1924 in seinem Buch "Krieg dem Kriege" veröffentlichte.

Eine Sache ist es, Befehle an die Wehrmacht zu lesen, die "mit aller Härte" auszuführen seien. Aber dann auf Fotos zu sehen, wie Wehrmachtsangehörige solche Befehle umsetzen, ist eine andere Sache. Ich kann Statistiken, Dokumente zur Kenntnis nehmen, Zahlen in meinem Gedächtnis behalten, aber viele der Fotos lassen mich nicht mehr los, besonders Privatfotos. Sie halten fest, wie Menschen zusammengetrieben werden, wie sie Massengräber schaufeln, wie sie erschossen oder erhängt werden, wie sie gequält und gedemütigt werden. Manchmal haben Täter, die erschießen, ein unbewegliches, gleichgültiges Gesicht. Keiner läßt ein Unrechtsbewußtsein erkennen. Gesicht und Körpersprache verraten vielmehr ein starkes Rechtsbewußtsein: die Täter stehen in autoritärer Haltung, wenn sie beispielsweise Exekutionen überwachen; oder in Siegerpose stehen sie vor einheimischen Zivilisten oder hinter den Leichen Erschossener oder Erhängter; sie lachen, wenn Menschen (oft als Juden erkennbar) gequält und gedemütigt werden; sie haben sich zu einem Gruppenfoto (manchmal mit Dame) zusammengestellt in der Nähe eines Exekutionsplatzes.

Zum Rechts- bzw. Unrechtsbewußtsein der Täter im Krieg fallen mir zwei Beispiele ein:

Borchert: "Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Hause. Aber er hatte kein Brot. Da sah er einen, der hatte Brot. Den schlug er tot. Du darfst doch keinen totschlagen, sagte der Richter. Warum nicht? fragte der Soldat." – Während meiner Gefängnisarbeit in Lyon traf ich einen sehr jungen Mann, gerade erst 18 Jahre alt. Er hatte jemanden mit dem Messer bedroht, weil dieser ihm nicht sein Mobiltelefon leihen wollte. Der junge Mann verstand nicht, warum er verhaftet worden war. Er hatte in seiner Heimat Jugoslawien viele gesehen, die sich etwas mit Gewalt nahmen, ohne bestraft zu werden. Manchmal wurden sie sogar noch dekoriert.

Wie die Kritiker der Ausstellung und die Kommission, nehme ich Borchert und ein eigenes Erlebnis zu Hilfe, um das Unbegreifliche an den Verbrechen der Wehrmacht zu begreifen. Das fehlende Rechtsbewußtsein meiner Beispiele ist nicht hinnehmbar, aber erklärbar: der ehemalige Soldat hatte Hunger, und der junge Verhaftete hatte unbedingt telefonieren müssen, wie er sagte.

Das Beispiel von Borchert paßt auch auf andere Kriege, erklärt also das fehlende Rechtsbewußtsein der Täter im zweiten Weltkrieg nur zum Teil. Psychologen haben uns Begriffe an die Hand gegeben wie "Perversion", "übersteigertes Selbstbewußtsein", "Herrenmenschentum", "Blutrausch". Klaus Theweleit erklärt die Schaulust, den Schauzwang der Täter, besonders beim Prügeln und anderen Demütigungen, durch Leibfeindlichkeit und den immer wieder zerstörten Sexualtrieb in der Erziehung des wilhelminischen Soldaten. [Klaus Theweleit, Männerphantasien, Bd. 2, 2000, S. 343ff.]

Das hilft, wie andere Erklärungsmuster auch. Aber wieder bleibt ein unbegreiflicher Rest.

Gleichzeitig mit der Eröffnung der ersten Ausstellung gaben die Veranstalter ein Begleitbuch heraus [Es ergäbe einen weiteren Artikel, diese interessanten Beobachtungen über Fotografen und Fotografierte auszuwerten, auch im Hinblick auf heutige Kriege. Aber hier geht es nur auf die Wirkung der Fotos auf die Betrachter.], das ein ausführliches Kapitel über Fotos und ihren Gebrauch als historische Quellen enthält [Hannes Heer, Klaus Neumann, Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941-1945, März 1995.]. "Wir versuchen, die Bilder als Dokumente einer Mentalitätsgeschichte des Faschismus zu lesen, die über die politökonomische Erklärung hinaus die Blockade der Vernunft vor dem menschlich 'Unbegreiflichen' zu überwinden vermag." [Dieter Reifarth, Viktoria Schmidt-Linsenhoff, Die Kamera der Täter; Abdruck eines Artikels von 1983.]

Das Kapitel über die Fotografie nennt eine Frau aus Hannover, die 1961 beim Friseur in einer Illustrierten blättert und dort einen Bericht über Massenerschießungen von Juden in der Ukraine findet. Eins der Fotos hält den Augenblick fest, als das Opfer, am Rande seines Grabes stehend, von einem deutschen Soldaten durch Genickschuß getötet wird. In dem Soldaten erkennt die Frau ihren Mann: "Ich wollte sterben. Wie konnte ich weiterleben mit dem Wissen, daß ich neun Jahre mit einem Mörder gelebt hatte? Immer wieder sah ich mir sein Gesicht unter der Lupe an. Sein Gesicht zeigte keinerlei Gemütsbewegung, während er den Mann erschoß. Vielleicht hatte er sich sogar freiwillig gemeldet ..." [S. 477 im Begleitbuch]

Das genau ist das Unbegreifliche: daß es sich um normale Menschen gehandelt hat, daß in diesem Krieg bestialische Verbrechen normal waren, daß die, die sich weigerten oder wenigstens Skrupel hatten, Unnormale waren und als solche behandelt wurden.

Ich habe mich oft gefragt, ob die Männer in meiner engeren und weiteren Familie auch "normal" gewesen waren. Und meine Lehrer, zum Beispiel der nette Deutschlehrer, den wir Zehnjährige wegen seiner Kriegsverletzung bemitleideten und dem wir abwechselnd die Tasche trugen. Oder der freundliche Pfarrer, der seinen Sohn Adolf getauft hatte.

Als langjährige Pastorin machte ich viele Hausbesuche, sah auf den Familienfotos auch manchmal Wehrmachtsuniformen, hörte Klagen über das Leid in Deutschland, aber nichts von dem, was Soldaten in den besetzten Ländern erlebt hatten – mit einer Ausnahme: Ich besuchte einen alten Mann, Witwer. Er sah schlecht aus, und als ich ihn fragte, sagte er, zögernd zuerst, daß er nachts wieder Albträume gehabt habe, weil er doch damals, in Rußland, bei Exekutionen dabei sein mußte. Nicht einmal seiner Frau habe er das sagen können. Mir als einzigem Menschen sagte er, was er in diesem Krieg als Normalität erlebt hatte. Der Mann war gläubig, und ich erinnere mich wörtlich an seinen letzten Satz: "Ich habe oft gedacht, wenn die Russen uns auch nur einen Teil von dem heimzahlen, was wir dort gemacht haben, dann gnade uns Gott."

Was ist heute normal? Daß sogenannte zivilisierte Länder ihre Soldaten in fremde Länder schicken? Der deutsche Verteidigungsminister will die deutsche Öffentlichkeit daran gewöhnen, daß Soldaten nicht für zivilen Einsatz da sind, sondern zum Kämpfen, wie er Anfang September sagte. Damit wird er nach eigener Aussage zum Kriegsminister. Er will uns daran gewöhnen, daß Krieg normal ist – Krieg, zwar nicht bei uns, sondern woanders.

Als ich, bundesrepublikanische Schülerin, Ende der fünfziger Jahre im Geschichtsunterricht vorsichtig nach den Opfern des zweiten Weltkrieges fragte, war die Antwort, daß das deutsche Volk viele Opfer gebracht hätte. Und als ich nach den Opfern in den anderen Ländern fragte, war die Antwort: "Wo gehobelt wird, fallen Späne." Heute heißt das offiziell "Kollateralschäden".

Wenn Krieg normal wird, wenn wir Lügen, daß Krieg nötig sei, hinnehmen – dann wird auch Faschismus in Wort und Tat erstarken.

 

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2011-02: Der zornige alte Mann

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