»Der Prozeß gegen die Neun von Catonsville«
Prof. Dr. Gerhard Oberkofler, Wien
In einer aufsehenerregenden Aktion zivilen Ungehorsams drangen am 17. Mai 1968 neun Friedens-Aktivisten in ein Rekrutierungsbüro in Catonsville (USA) ein, vernichteten Hunderte Einberufungsakten als »potentielle Todesurteile« und sahen damit ihrer Verhaftung, Anklage und Verurteilung entgegen. Sie wurden am 8. November 1968 zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Der katholische Priester und Jesuit Daniel Berrigan, geboren vor 100 Jahren am 9. Mai 1921, gestorben am 30. April 2016 und zusammen mit seinem Bruder Philip Berrigan einer der Initiatoren der Widerstandsaktion gegen den Vietnamkrieg, schrieb im Gefängnis ein Theaterstück über den Prozess, das sich künftig als mobilisierend für die Friedensbewegung erweisen sollte. Wir dokumentieren im Folgenden – mit freundlicher Genehmigung – den zweiten Teil von Gerhard Oberkoflers »Randnotizen« mit Bezügen zur Geschichte des Marxismus, der Befreiungstheologie und des Rechts. Beide Teile erschienen zuerst online bei der Partei der Arbeit Österreichs am 3. April 2021, siehe: zeitungderarbeit.at/feuilleton/der-prozess-gegen-die-neun-von-catonsville-teil-2/ (Red.)
Randnotizen zum Dokumentarstück von Daniel Berrigan SJ (1921–2016) in der Zeit des Vietnamkriegs aus Anlass seines 100. Geburtstages. Für Pater Swamy SJ
Ph. Berrigan und D. Berrigan wurden zu Anfang der 1980er Jahre Organisatoren einer »Pflugscharbewegung«, die sich auf den Propheten Jesaja berief: »Dann schmieden sie Pflugscharen aus ihren Schwertern und Winzermesser aus ihren Lanzen. Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk und übt nicht mehr für den Krieg«. [69] Papst Franziskus lädt die Christen in seiner Enzyklika Fratelli tutti ein, sich an diese Verkündigung aus dem Buch Jesaja zu erinnern. [70] Das lässt sich allerdings in der Bibel mit dem Propheten Joel auch in Inversion lesen: »Schmiedet Schwerter aus euren Pflugscharen und Lanzen aus euren Winzermessern! Der Schwache soll sagen: Ich bin ein Kämpfer«. [71] Die erste Aktion dieser neuen losen Organisation von Frauen und Männern, darunter eine katholische Nonne und eine Mutter von sechs Kindern, fand am 9. September 1980 statt, um die US-Öffentlichkeit auf die Atomwaffenfabrik von General Electric in »King of Prussia« in Pennsylvania und auf die Produktion der atomaren Massenvernichtungswaffen aufmerksam zu machen. Ph. Berrigan hat sich 1972 mit der Friedensaktivistin Elizabeth McAlister (*1939) verehelicht, beide wurden von der Amtskirche exkommuniziert. Acht Aktivistinnen und Aktivisten drangen in die Fabrik ein, versuchten zwei Sprengkopfgehäuse mit Haushaltshämmern zu zerstören und gossen Blut über die Konstruktionszeichnungen. Betend warteten sie auf ihre Verhaftung. Es kam zum Prozess der »Pflugschar Acht« (»Plowshares Eight«), in dem das Gericht urteilte, dass die Friedensaktivisten eine Gefahr für die Öffentlichkeit darstellen. Die Anklage lautete auf Einbruch, kriminelle Verschwörung, unbefugtes Betreten fremden Eigentums, einfacher Raub und Nötigung. Eine Diskussion über die Beweggründe, die zu dieser Aktion geführt haben, wurde nicht zugelassen. Ph. Berrigan und D. Berrigan sind radikale Christen, die ihren Friedenseinsatz völlig »gewaltfrei« planten, durchführten und auf dem bürgerlichen Rechtsstaat beharrten. Der Rechtstheoretiker der Bolschewiken Jewgeni Bronislawowitsch Paschukanis (1891–1937) hat 1924 diesen als bequeme »Fata Morgana« der Bourgeoisie charakterisiert. [72]
Erst spät sind Ph. Berrigan und D. Berrigan der Befreiungstheologie begegnet. Sie sind jetzt in einem Alter, in dem Menschen versuchen, ihre Ideen beizubehalten. Die Entscheidungen für die revolutionäre Befreiung mit allen ihren Konsequenzen, wie sie ein Camilo Torres oder ein von Johannes Paul II. mehrmals erniedrigter Ernesto Cardenal (*1925) getroffen haben, blieben ihnen nicht nur fremd, sie lehnten diese ausdrücklich ab. D. Berrigan sieht ein Foto mit einer Kollage von Torres, zuerst in Soutane, dann einem Straßenanzug, dann in einem Kampfanzug mit Maschinenpistole. Er sieht darin »eine Geistesstörung, ein Zeichen wahnsinniger Zeiten«. [73] D. Berrigan fragte Cardenal, wieso er das Prinzip der Gewaltfreiheit aufgeben und das Gewehr in die Hand nehmen konnte: »Weißt du nicht, dass jeder, der Gewalt übt, nicht nur seine Opfer tötet, sondern sich selber zerstört?« Die deutsche, mit den Geknechteten und Armen solidarische Theologin Dorothee Sölle (1929–2003) war mit beiden befreundet; als sie 1979 Cardenal im Exil traf, sagte er ihr, er könne D. Berrigan nicht antworten, er wisse nicht, »was die Revolution ist«. [74] D. Berrigan blieb in seinen theologisch intellektuellen Vorurteilen verstrickt, was damit zu tun hatte, dass er den Marxismus nicht als humanistisch wissenschaftliche Weltanschauung wahrgenommen hat, sondern in der antikommunistischen Tradition der Kirche stehend nur als Feindbild, als Luzifer, vor dem die Augen zu schließen sind. Die absolute Gegenüberstellung von Gewalt mit dem Ideal der Gewaltlosigkeit dient der Verschleierung der historischen Realität mit ihren Abgründen. [75] Es soll als Beispiel auf das Gewaltmonopol der kapitalistischen Medien hingewiesen werden. Cardenal war wie viele andere Befreiungstheologen der Auffassung des mexikanischen Jesuiten José Porfirio Miranda (1924–2001), nach dem Marx das »christliche Projekt par excellence« entwickelt hat. [76]
Die Berührungsängste von Ph. Berrigan und D. Berrigan bedingen die Grenzen der von ihnen repräsentierten Friedensbewegung, die einem Bündnis mit der marxistischen Arbeiterbewegung distanziert gegenübergestanden ist. Die revolutionären Christen haben sich so wie Marxisten nirgends auf der Welt auf Gewaltausübung schlechthin kapriziert, sie wissen, dass es eine Utopie bleiben muss, in der gewalttätigen Welt des Privateigentums die Befreiung der Unterdrückten allein mit Gebeten und Appellen an das Gewissen und das Recht der Reichen, das nicht das Recht und das Gewissen der Armen ist, [77] zu erlangen. Revolutionäre Gewalt kategorisch auszuschließen heißt sich an Wendepunkten der Geschichte selbst Fesseln anzulegen! Seit der Allgemeinen Konferenz der lateinamerikanischen Bischöfe in Medellín (24. August bis 6. September 1968) war der Weg hin zu einer Differenzierung von Gewaltanwendung für die Christen in der Katholischen Kirche offen. [78] Für die Priester- und christliche Laienbewegungen in Lateinamerika war die Befreiung der Armen nicht allein mit liebevollen Worten, Bittgebeten oder gewaltlosen Aktionen zu erreichen. Die Auffassung jener privilegierten Universitätstheologen in den reichen und korrupten Staaten an, die den Armen verkünden, dass erst die Annahme ihres Loses die Unterbrechung der Spirale der Gewalt ermöglicht, verhöhnt das Hungersterben von Millionen von Kindern. Der Christ muss aufgrund der Realität bestimmte, nicht terroristische Formen der Gewalt akzeptieren. Ignacio Ellacuría SJ (1903–1989), ein aus dem Baskenland stammende Mitbruder von D. Berrigan hat im Vergleich der Lebenswege von Charles de Foucauld (1858–1916), von Torres und Martin Luther King eine christlich-marxistische Orientierung über »Gewaltlose Friedensarbeit und befreiende Gewalt« gegeben. [79] Ellacuría SJ wurde in El Salvador mit fünf Mitbrüdern, der anwesenden Köchin und deren Tochter am 16. November 1989 ohne Gerichtsverfahren als Christ und Kommunist im Auftrag des US-Apparats ermordet.
Die Berliner Compagnie propagiert die Ideen von »Catonsville«. Begegnung mit Petra Kelly
Seit Beginn der 1980er Jahre wurde in der Bundesrepublik an »Catonsville« wieder erinnert. Dafür verantwortlich ist die 1981 gegründete Berliner Compagnie, die das Dokumentarstück mit Unterstützung des Kunstamtes Kreuzberg, der Dahlemer Christuskirchengemeinde und der Heilandgemeinde Moabit einstudierte und nach der Premiere am 19. Mai 1982 im Künstlerhaus Bethanien in Westberlin, bei der die von der deutschen Friedensbewegung mit Petra Kelly (1947–1992) eingeladenen Ph. Berrigan und D. Berrigan anwesend waren, auf Tournee ging. [80] Die westdeutsche Friedensbewegung sollte ermuntert werden, Schritte über das selbstempfundene Gutsein hinaus zu machen. Gerhard (Helma) Fries, der Regie führte und den Staatsanwalt spielte, erinnert sich: [81]
»Es war im Sommer 1980 im italienischen Parma, auf einem Seminar meines Schauspiellehrers Dominic de Fazio, dass einige der deutschen Teilnehmer – beunruhigt über die drohende Stationierung der Pershing II und Cruise Missiles in Westeuropa – sich fragten, was sie mit den Mitteln ihres Berufes gegen die drohende Kriegsgefahr tun könnten. Dominic kam aus Los Angeles und kannte als Schüler [Lee] Strassbergs [(1901–1982)] gesellschaftskritische Stücke aus dem Umkreis des linken group-theatre (wie etwa Clifford Odets [(1906–1963)] ›Waiting for Lefty‹), aber eben auch Daniel Berrigans Stück. Dessen Aktualität war uns sofort klar. ›Der Prozess gegen die Neun von Catonsville‹ zeigte das Beispiel eines effektiven zivilen Ungehorsams und bot damit vielen Aktiven in der Antikriegsbewegung, die über die »Latschdemos« hinausgehen wollten, eine neue Aktionsform an. Wir haben mit dem Stück ab 1982 über viele Jahre etwa 250 Gastspiele gegeben, bewegten uns in der Friedensbewegung wie ein Fisch im Wasser.«
Auf dem Düsseldorfer Katholikentag (1.–5. September 1982), der in der sich aufrüstenden Bundesrepublik zur Erneuerung der Welt aufrief, gab die Berliner Compagnie mit »Catonsville« ein Gastspiel. 1986 inszenierte die Berliner Compagnie ein auch in Lateinamerika, Spanien und den USA aufgeführtes Stück über den ermordeten Bischof Óscar A. Romero (1917–1980), der vom Handlanger der kirchlichen und weltlichen Herrschaftsstrukturen zum kraftvollen Anwalt der Befreiung des salvadorianischen Volkes geworden ist. Die von der USA finanzierte und mit Waffen belieferte salvadorianische Junta, deren Offiziere die USA speziell noch in »Verhörpraktiken« ausgebildet hatte, ließ Romero ermorden. Nach einer Aufführung des Romero-Stückes kamen Frauen aus einem Flüchtlingslager in Honduras in die Garderobe und umarmten die Schauspieler. [82] Der von Martin Maier SJ (*1960) bezeichnete Weg von Romero war jener wie ihn D. Berrigan beschritten hat, »Unrecht zu nennen und Gerechtigkeit zu fordern.« [83] In Salzburg, wohin die Berliner Compagnie von der Katholischen Jugend eingeladen worden, eine Woche vor dem im Juni 1988 angekündigten Besuch des antikommunistischen Heiligen Papstes Johannes Paul II. (1920–2005) das Stück zu spielen, untersagte der mit seinen Zelebrationen im Ornat selbst Theater spielende Erzbischof Karl Berg (1908–1997) nach Lektüre des Manuskripts im vorauseilendem Vatikangehorsam die Aufführung im Dom. Die katholische Jugend ließ sich nicht einschüchtern und verlegte diese in das Kolpinghaus. Im Stephansdom ist seit 2020 eine Haarlocke von Johannes Paul II. als Reliquie ausgestellt.
»Wir müssen in unserer Gewaltfreiheit radikaler werden«
Die westdeutsche Friedenbewegung sammelte seit Ende 1980 Unterschriften zur Unterstützung des Krefelder Appells (15./16. November 1980), der den NATO-Doppelbeschluss als Kriegssignal für die Sowjetunion infrage stellte. Bis Sommer 1981 unterzeichneten mehr als eine Million BRD-Staatsbürger diesen gegen die Gefahr des atomaren Erstschlags gerichteten Appell. Karl Rahner SJ (1904–1984) lehnte den Einsatz von Atomwaffen »bedingungslos ab, gleichgültig ob diese Waffen zum Angriff oder zur Verteidigung verwendet werden sollen«. [84] Die »gottgläubigen« Eliten Westdeutschlands ließen sich nicht beirren und blieben verlässlicher Bündnispartner der US-amerikanischen Kriegsverbrecher. Die Lehren aus den Nürnberger Prozessen waren längst vergessen. Auf dem Evangelischen Kirchentag in den Tagen der 40. Wiederkehr des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion (17.–21. Juni 1981) erklärten Gert Bastian (1923–1992) und Petra Kelly die aggressive Aufrüstung der NATO auf dem Hintergrund der dem deutschen Wesen angemessenen Bedrohungslüge. Die deutsche Pflugscharbewegung sammelte sich und startete achtbare und gewaltfreie Aktionen nach dem Vorbild der US-amerikanischen Friedensbewegung. Die Brüder Berrigan fanden große Aufmerksamkeit, sie schlugen »Fasten für den Frieden« als symbolische Tat vor, worüber diskutiert wurde. [85] Wolfgang Sternstein (*1939) schreibt über von ihm erlebte deutsche Gerichtsverhandlungen: »Die Rechtsordnung war für ihn [d.i. den Richter] absolut verbindlich. Wer sie durch Akte des zivilen Ungehorsams infrage stellte – und er betrachtete den zivilen Ungehorsam als Infragestellung der Rechtsordnung im Ganzen – musste nicht nur bestraft, er musste auch moralisch verurteilt werden, denn durch ihn drohen Gesetzlosigkeit und Chaos«. Sternstein meinte bei einer solchen Verhandlung, dass »der zivile Ungehorsam nicht die Rechtsordnung als solche in Frage stellt, sondern lediglich das gesetzlich sanktionierte Unrecht«. [86] Ende 1981 (29. November – 7. Dezember) war Petra Kelly als Sprecherin der Grünen und Mitinitiatorin des Krefelder Appells in Begleitung von Gert Bastian in den USA. Sie nahm Kontakte mit »SANE« (»nicht wahnsinnig sein«) auf, die Friedensdemonstrationen für eine »vernünftige« Nuklearpolitik organisierte. [87] Die US-amerikanische Friedensbewegung war in viele Gruppen aufgespalten, ein einheitliches Organisationszentrum der amerikanischen Friedensbewegung gab es Ende 1981 nicht. Kelly, die in den 1960er Jahren fast acht Jahre in den USA studiert hatte, kannte die Atmosphäre der Zivilgesellschaft der USA recht gut. Über ihre Begegnung mit Ph. Berrigan und D. Berrigan notiert sie, sie seien der Auffassung, ihre Aktionen hätten nicht nur eine Funktion, sondern sie seien zugleich eine Aussage. [88] Wann immer wir mit der NATO, mit dem Pentagon, mit welcher militärischen Macht auch immer, »mit einer irrationalen Macht« verhandeln oder ins Gespräch kommen wollten, müssten nicht nur Flugblätter oder Gespräche verwendet werden, »sondern Symbole, die den Tod konkretisieren (Asche, Blut, Wasser, Erde, Öl usw.). Kelly: »Die große Sünde ist für die Berrigans die Abstraktion. Über das Leben und seine mögliche Zerstörung wollen sie konkret sein. Alles, was man sagt, soll man auch bezeugen können, meinte Phil. Also keine folgenlosen Reden, Worte, Papiere«. »Ich glaube«, so Kelly, »das ist ein wichtiger Punkt für uns hier in Europa, in der BRD. Wir haben nur ein Jahr vor uns, um die NATO-Nachrüstung zu verhindern. 300.000 Menschen in Bonn und schöne Reden werden diese Nachrüstung nicht verhindern – auch nicht nur Unterschriften und Appelle. Es muss viel mehr passieren und wir müssen in unserer Gewaltfreiheit radikaler werden. Phantasievoller. Wir müssen vielen Gesetzen den Gehorsam verweigern … zum Steuerstreik übergehen, Kriegsdienst verweigern, in keinem Rüstungsbetrieb arbeiten, zusammen mit den engagierten Ärzten etwas gegen die Katastrophenschutzpläne unternehmen«. Mit dem in den USA akkreditieren deutschen Journalisten hat sich Kelly an einem Abend in Washington getroffen: »– ein sehr etablierter und sehr arroganter Haufen von Auslandskorrespondenten mit einigen Ausnahmen. Zum Teil verachten sie die deutsche Friedensbewegung, zum Teil glauben sie, dass wir alle vom Kreml gelenkt und bezahlt sind, und viele, die es besser wissen müssten, stufen uns als Anti-Amerikanische Bewegung ein, die den Amerikanern nur Böses wünschen. Die deutschen Journalisten der etablierten Zeitungen in USA haben überhaupt kein Interesse, mit der amerikanischen Friedensbewegung in Kontakt zu kommen, sie besser kennenzulernen – viele meinen, es gäbe gar keine Bewegung in USA, viele wissen nicht einmal, wer Berrigan ist«. Diesen deutschen Journalisten sei nur wichtig, was die Administration von Ronald Reagan (1911–2004) mit ihren antisowjetischen Frontfiguren wie Alexander Haig (1924–2010) oder Caspar Weinberger (1917–2006) zu sagen hätte.
Im Mai/Juni 1982 war Kelly, die von Frauen der Deutschen Demokratischen Republik wie von Helga Hörz (*1935) hochgeachtet wurde, [89] zu einer Vortragsreise wieder in den USA. [90] Die Brüder Berrigan würden ihre Aktionen mit den vielen Symbolen und Gesten als eine »Erweiterung ihres Gottesdienstes« verstehen. Die Verteidigungsrede von D. Berrigan über die Aktion der Pflugschar-8-Aktion am 9. September 1980 ist charakteristisch: »Es gibt heute Jesuiten in ganz Lateinamerika. Sie sind meine Brüder. Sie befinden sich im Gefängnis. Sie wurden gefoltert. Viele von ihnen wurden ermordet. In unseren religiösen Gemeinschaften hier und in Lateinamerika sind die Wände voll von Bildern ermordeter Priester, von eingekerkerten Priestern, von Priestern, die sich einsetzten, weil sie an etwas glaubten. Und diese Bilder verfolgen mich. Und ich möchte wissen, wie ich angesichts solcher Leitbilder meines eigenen Zeitalters, meines eigenen Alters, meiner eigenen Generation, mein Leben in Lauheit verbringen könnte«. [91] Ph. Berrigan, dessen Reisekosten ein katholischer Priester übernommen hat, kam zu der von der deutschen Friedensbewegung beim US-Camp in Mutlangen, wo die Pershing II stationiert werden sollten, am 1. September 1983 organisierten »Blockade«. [92] Der Bundestag billigte am 22. November 1983 die Stationierung dieses Waffenarsenals. Bis 1987 wurde in vier NATO-Staaten – Belgien, Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien, Italien – die Pershing II aufgestellt.
Mahnmale, die Hoffnung geben
Was ist von der Utopie der Brüder Ph. Berrigan und D. Berrigan und den vielen anderen Idealisten geblieben? Die USA als »a nation under God« praktiziert durch ihr Establishment den Staatsterrorismus. Bombardements der Demokratien der Reichen gegen die Armen stehen am Beginn der NATO-Ausplünderungskriege von denen die bekanntesten jene gegen Afghanistan, den Irak, Libyen oder Syrien sind. In die Vergessenheit gedrängt werden Drohnenangriffe wie 2009 durch die USA auf Jemen, seit 2014 forciert die NATO ihren Aufmarsch in der Ukraine. [93] Das von den Medien immer wieder ins Gedächtnis gerufene Datum des 11. September 2001 (New York) ist das Alibi für diese Barbarei. Deutschland als Zentrum der Europäischen Union führt wieder Kriege, Aggressionskriege unter dem Vorwand, friedliche Bürger zu schützen. Kelly hat den Grünen angehört, einer Partei, die, wie sie 1991 in einem offenen Brief klagt, »zuallererst menschlich gescheitert ist«. [94] Die Grünen haben ihre rebellischen Anfänge ziemlich rasch hinter sich gelassen und wurden von Opportunisten und Chauvinisten übernommen. [95] Sie gehören zu den treibenden Kräften, die deutsche Tornados zur völkerrechtswidrigen NATO-Bombardierung von Belgrad (24. März 1999) aufsteigen haben lassen und für die Neokolonialisierung des Balkans mitverantwortlich sind. Geschickt wird dieser Aggressionsakt durch die Definition »Kosovo-Krieg« verschleiert. Nach der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 14. Dezember 1974 angenommenen »Definition der Aggression« müssten sich die verantwortlichen deutschen Politiker vor einem Kriegsverbrechertribunal verantworten.
Wenige Wochen vor ihrem Tod hat Kelly in einem Brief über die Vorbereitungen von deutschen Militäreinsätzen geschrieben 1992 (7. Juli): »Ich bin gegen den militärischen Einsatz – schon gar nicht für einen Einsatz der deutschen Soldaten. Deutsche Soldaten haben nichts im Ausland verloren! Wir brauchen gewaltfreie Konfliktlösungen und pazifistische Denk + Lebensweisen! Eine Bundesrepublik ohne Armee!«
Friedensfreunde wie D. Berrigan blieben mit ihrer Friedensidee und den daraus resultierenden Aktionen im Formalen und Nur-Politischen stecken, sie glaubten und hofften allzu sehr durch ihr Tun eine mögliche Veränderung im Geiste zu erreichen. Die Veränderung kann nicht allein ein geistiger Prozess sein, es ist auch nicht allein ein materieller Prozess wie das Marxisten gemeint haben. D. Berrigan war wie seine Freunde kompromissloser Pazifist mit naiven Vorstellungen über die Ergebnisse seines Tuns. Es gilt die Ursachen des Unfriedens zu bekämpfen, deren letzter Grund in der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen aufgrund der Eigentumsverhältnisse zu suchen ist. Marxisten wie Hermann Klenner fordern immer wieder, den Dingen auf den Grund zu gehen und erinnern an Brecht, der auf dem Pariser Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur (1935) gefordert hat: »Kameraden, sprechen wir von den Eigentumsverhältnissen!« [96] Die Kriege des Imperialismus sind Kriege nach innen und außen um Eigentum, um Profit und die großen und kleinen Geschäfte. Sie begründen die Herrschaft von Menschen über andere Menschen. Die Armut aufgrund der Eigentumsverhältnisse ist die nachhaltigste Form der Gewalt »und«, so Jon Sobrino SJ, »die Form der Gewalt mit der größten Straffreiheit. Nach einem Holocaust oder nach Massakern gibt es – manchmal – ein Nürnberg, das gibt es aber nicht für die Ausplünderung des lateinamerikanischen oder des afrikanischen Kontinents. Welches Tribunal soll man wegen der 35 oder 40 Millionen Menschen anrufen, die jährlich wegen Hungers oder dadurch verursachten Krankheiten sterben? Und das Bitterste ist, es wäre heute möglich, den Hunger auszumerzen«. [97]
»Es geht also darum«, wie Ignacio Ellacuría SJ mit Blick auf die moderne Gewalt an den vielen Orten des globalen Terrors des Reichtums auffordert, »mit der revolutionär-befreienden Gewalt das verneinte Leben zu bejahen, angesichts der Herrschaft des Todes zu überleben, sich von dem zu befreien, was ein Mindestmaß an Verwirklichung des menschlichen Wesens selbst verhindert. Wenn ihr kein anderer Ausweg bleibt, wird diese revolutionäre Gewalt zum bewaffneten Kampf, ohne deswegen terroristischer Kampf sein zu müssen«. [98]
Für den Widerstand gegen die Verbrechen und Akkumulation des Kapitals sind solche furchtlosen Leben wie von Daniel Berrigan SJ ein Mahnmal, weil sie Hoffnung geben.
Gerhard Oberkofler, geb. 1941, Dr. phil., ist Universitätsprofessor i.R. für Geschichte an der Universität Innsbruck.
Anmerkungen:
[69] Jesaia 2, 4. Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Verlag Katholisches Bibelwerk 12. A. Stuttgart 2015, S. 806.
[70] Papst Franziskus, Fratelli tutti, 270.
[71] Joel, 4 /10. Die Bibel, S. 1028; vgl. Hermann Klenner: Kategorischer Imperativ bei Christen und Marxisten. In: Christentum, Marxismus und das Werk von Emil Fuchs. Beiträge des sechsten Walter-Markov-Kolloquiums. Hg. von Kurt Reiprich, Kurt Schneider, Helmut Seidel und Werner Wittenberger. Rosa Luxemburg Stiftung Sachsen 2000, S. 17-20.
[72] Allgemeine Rechtslehre und Marxismus. Der Text der 1924 in Moskau erschienenen Schrift wurde nach der deutschsprachigen Erstausgabe (Wien 1929) neu herausgegeben und mit einem Anhang versehen von Hermann Klenner und Leonid Mamut. Haufe Schriftenreihe zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung Band 2. Freiburg / Berlin 1991, S. 153; vgl. von Hermann Klenner z. B.: Grundsätzliches zum Rechtsstaat. Mitteilungen der Kommunistischen Plattform, 24. Jg., Heft 11, 2014, S. 1–12.
[73] Daniel Berrigan: Zehn Gebote für den langen Marsch zum Frieden. Kreuz Verlag 1981, S. 51.
[74] Dorothee Sölle: Gegenwind. Erinnerungen. Hoffmann und Campe Hamburg 2. A. 1995, S. 205.
[75] Vgl. Judith Butler: Die Macht der Gewaltlosigkeit. Über das Ethische im Politischen. Aus dem Amerikanischen von Reiner Ansén. Suhrkamp 2020, hier S. 17.
[76] Als Motto zitiert zu Michael Ramminger / Franz Segbers (Hrsg.): ›Alle Verhältnisse umzuwerfen … und die Mächtigen vom Thron zu stürzen.‹ Das gemeinsame Erbe von Christen und Marx. In Kooperation mit Edition ITP Kompass. Eine Veröffentlichung der Rosa-Luxemburg-Stiftung. VSA Verlag Hamburg 2018.
[77] Vgl. Karl Marx / Friedrich Engels: Prozess gegen Gottschalk und Genossen. MEW 6 (1973), S. 129–137, hier S. 130: »Das ›Gewissen‹ der Privilegierten ist eben ein privilegiertes Gewissen«.
[78] Vgl. Segundo Galilea: Lateinamerika in den Konferenzen von Medellín und Puebla: Beispiel für eine selektive und kreative Rezeption des Konzils. In: Die Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils. Hg. von Hermann J. Pottmeyer, Giuseppe Alberigo und Jean-Pierre Jossua. Patmos Verlag Düsseldorf 1986, S. 85–103.
[79] Ignacio Ellacuría: Gewaltlose Friedensarbeit und befreiende Gewalt. Widerstandsrecht. Concilium 24 (1988), S. 47–53; zustimmend zitiert von Jon Sobrino: Christologie der Befreiung. Matthias- Grünewald Verlag Ostfildern 2. A. 2008, S. 300 f.
[80] Der Prozess gegen die Neun von Catonsville (berlinercompagnie.de) in: www.berlinercompagnie.de/www/Geschichte/geschichte_1982.htm.
[81] E-Mail vom 9. März 2021 an den Autor. Besten Dank!
[82] Oscar Romero (berlinercompagnie.de) in www.berlinercompagnie.de/www/Geschichte/geschichte_1986.htm. Über Romero vgl. Martin Maier: Oscar Romero. Prophet einer Kirche der Armen. Herder Verlag Freiburg / Basel / Wien 2015; Martin Maier hat ein bei einem Theaterfestival in Avignon 1985 erstmals aufgeführten Theaterstück des katholischen Priesters Jean-Pierre Nortel über Romero in einer Aufführung einer französischen, nicht konfessionell gebundenen, aber sich christlich verstehenden Schauspielertruppe in Paris (1986) gesehen und darüber eine Besprechung geschrieben: Jahrgang 50, Heft 05, Datum 15.03.1986 (orientierung.ch) in www.orientierung.ch/pdf/1986/JG%2050_HEFT%2005_DATUM%2019860315.PDF.
[83] Maier, Romero, S. 171.
[84] Karl Rahner und Thomas Cremer: Die Atomwaffen und der Christ. In: Atomrüstung – christlich zu verantworten? Herausgegeben von Achim Battke. Patmos Verlag Düsseldorf 1982, S. 98–115, hier S.101.
[85] Daniel Gerster: Friedensdialoge im Kalten Krieg. Eine Geschichte der Katholiken in der Bundesrepublik 1957–1983. Campus Verlag Frankfurt / New York 2012, S. 302.
[86] Sternstein, Mein Weg, S. 397 f.
[87] Das Archiv Grünes Gedächtnis in Berlin hat mir durch Frau Eva Sander sehr freundliche Unterlagen zur Verfügung gestellt. Herzlichen Dank!
[88] Nicht veröffentlichtes Typoskript von Petra Kelly. Wie Anmerkung 87.
[89] Helga E. Hörz: Zwischen Uni und Uno. Berlin 2009, S. 276 f.
[90] Petra Kelly: Um Hoffnung kämpfen. Gewaltfrei in eine grüne Zukunft. Vorwort von Heinrich Böll. Lamuv Taschenbuch 29. Göttingen 1983, S. 100–107.
[91] Kelly, Um Hoffnung kämpfen, S. 104.
[92] Sternstein, Mein Weg, S. 332–335 und öfters, Foto von Philip Berrigan S. 442.
[93] Daniele Ganser: Illegale Kriege. Wie die NATO-Länder die UNO sabotieren. Eine Chronik von Kuba bis Syrien. Orell Füssli Verlag 5. A. Zürich 2015.
[94] Petra Kelly: Eine Erinnerung. Herausgegeben von der Heinrich-Böll-Stiftung. Berlin 2007, S. 174.
[95] Vgl. die Erinnerungen von Ulrike Heider: Keine Ruhe nach dem Sturm. Bertz + Fischer Berlin 2018, S. 254 und öfters.
[96] Bertolt Brecht: Werke (Große kommentierte Ausgabe), Band 22 Berlin / Weimar / Frankfurt a. M. 993, S. 146, 931; Hermann Klenner: Apriorität, Historizität und Aktualität von Menschenrechten. Topos Heft 21 (2003), S. 25–49, Zitat Brecht S. 49.
[97] Jon Sobrino: Der Glaube an Jesus Christus. Eine Christologie aus der Perspektive der Opfer. Herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Knut Wenzel. Übersetzt von Ludger Weckel. Matthias Grünewald Verlag Ostfildern 2008, S 31.
[98] Ellacuría, Gewaltlose Friedensarbeit, S. 48.
Mehr von Gerhard Oberkofler in den »Mitteilungen«:
2021-02: Ein neuer Deutscher Reichskalender aus dem Bundesarchiv Berlin
2019-11: Zum Arbeitspapier der »Amazonien-Synode« in Rom (Teil 2)
2019-10: Zum Arbeitspapier der »Amazonien-Synode« in Rom (Teil 1)