Der Persische Golf: Ein Binnenmeer der USA
Dr. Reiner Zilkenat, Hoppegarten
Vor 40 Jahren verkündete Jimmy Carter seine Doktrin für den Mittleren Osten
Am 23. Januar 1979 waren die beiden Häuser des Kongresses in Washington zu einer mit Spannung erwarteten Sitzung einberufen worden. Präsident Jimmy Carter hatte angekündigt, angesichts der krisenhaften Lage im Mittleren Osten eine Grundsatzrede zu halten, in der die Eckpunkte und Ziele der US-amerikanischen Politik in dieser Region bekannt gegeben und konkrete Maßnahmen zu ihrer Umsetzung angekündigt werden sollten.
Der Schah – strategischer Verbündeter der USA
Stichwortartig seien einige der wichtigsten Elemente der entstandenen krisenhaften Lage genannt. Am 16. Januar 1979 hatte Reza Pahlevi, der Schah von Persien, fluchtartig das Land verlassen. Die oppositionellen Kräfte, angeführt vom im Pariser Exil lebenden Ayatollah Khomeini, hatten durch nicht abreißende Massendemonstrationen und Streiks das Ende des Schah-Regimes erzwungen. In großen Teilen des Volkes war nie in Vergessenheit geraten, dass 25 Jahre zuvor, unter aktiver Mithilfe Großbritanniens, die demokratisch legitimierte Regierung unter Führung von Ministerpräsident Mohammad Mossadegh mit Hilfe eines von der CIA organisierten Militärputsches aus dem Amt gejagt worden war. An seiner Stelle wurde Reza Pahlevi als Statthalter der USA wieder auf den Thron gehievt. [1]Seitdem hatte er mit brutaler Gewalt regiert, große Teile des Volkes verelenden lassen und das Militär zu einer der stärksten Streitkräfte der Region ausgebaut.
In den siebziger Jahren galt der Schah zu Recht neben Israel als wichtigster Verbündeter der USA im Nahen und Mittleren Osten. Die Ursache hierfür bestand nicht nur in den reichen Erdölressourcen des Landes. Von gleicher Bedeutung war seine Kontrolle über die Straße von Hormus, die alle Öltanker passieren mussten, die nicht nur aus dem Iran, sondern z. B. auch aus Kuweit, Saudi-Arabien, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten den kostbaren Rohstoff nach den USA, Japan oder Westeuropa transportierten. Um das Schah-Regime zu stärken, verzichteten die USA auf jede Kritik an den zahlreichen Menschenrechtsverletzungen des persischen Potentaten und statteten die Streitkräfte des Landes mit modernsten Waffensystemen aus.
Eine andere Überlegung kam hinzu: Der Iran grenzte an die UdSSR und war auch aus diesem Grunde für den US-Imperialismus als Stützpunkt für Radar- und Abhöranlagen, deren Aktionsradius weit in den asiatischen Teil der Sowjetunion hineinreichte, von großer Bedeutung. Mit dem Sturz des Schah, der triumphalen Rückkehr Khomeinis nach Teheran am 1. Februar 1979 und der Bildung einer Islamischen Republik verloren die USA ihren wichtigsten Vasallen im Mittleren Osten und damit letztlich die Kontrolle über die großen Erdölvorkommen des Landes sowie den Persischen Golf und die Straße von Hormus. Außerdem musste der Verlust der hohen Investitionen befürchtet werden, die Erdöl fördernde und Erdöl verarbeitende Großkonzerne wie Texaco, Standard Oil of California, Exxon und Gulf Oil in den vergangenen Jahrzehnten im Iran realisiert hatten. Daneben waren für die kommenden Jahre Rüstungsexporte in Höhe von mehr als 12 Milliarden Dollar vereinbart worden. Sie betrafen vor allem vier der damals modernsten Raketenkreuzer der »Ticonderoga«-Klasse und achtzig Kampfflugzeuge des Typs F-14 »Tomcat«, die zeitgleich von den US-Streitkräften ihrem eigenen Arsenal zugeführt wurden. Zugleich hatten die USA 1978 Erdöl und Erdölprodukte in Höhe von 2,7 Milliarden Dollar aus dem Iran bezogen. [2]
Alle diese Sachverhalte belegen, dass mittlerweile das Schah-Regime zu einem der wichtigsten militärischen, politischen und Handelspartner der USA avanciert war. Als es am 4. November 1979 zum Sturm auf die US-amerikanische Botschaft kam, 52 Botschaftsangehörige als Geiseln genommen wurden und Geheimakten mit brisantem Inhalt in die Hände der Revolutionsgarden der Islamischen Republik fielen, stellte sich die Frage nach den Reaktionen der Carter-Administration. Anlass für die Erstürmung der Botschaft war die Weigerung der US-Administration, den Schah an den Iran auszuliefern, der sich inzwischen in New York zu einer ärztlichen Behandlung aufhielt.
Der Aufmarsch der USA und die Lage in Afghanistan
Die Carter-Administration reagierte auf die Ereignisse im Iran, wie es in ähnlichen Fällen auch die vorangegangenen US-Regierungen praktiziert hatten. Innerhalb kurzer Zeit wurde die Präsenz der See- und Luftstreitkräfte in der »Krisenregion« drastisch verstärkt und mit militärischen Aktionen gedroht. Im Dezember 1979 befanden sich nicht weniger als fünf Flugzeugträger mit zusammen 350 Kampfflugzeugen im östlichen Mittelmeer und nahe des Persischen Golfes. Zugleich waren in Ägypten Tankflugzeuge und AWACS-Aufklärungsmaschinen stationiert worden, um groß angelegte Luftangriffe auf den Iran vorzubereiten und zu unterstützen. In der US-Presse wurden Meldungen über den möglichen Einsatz von B-52-Langstreckenbombern verbreitet. Doch derartige Überlegungen trafen auf Widerspruch: Zum einen würde durch die Bombardierung des Landes das Leben der Geiseln gefährdet werden, zum anderen könnte die Sowjetunion auf gegen den Iran gerichtete militärische Überfälle der USA mit einer Verstärkung ihrer militärischen Präsenz in Afghanistan reagieren. Hier war eine der UdSSR freundlich gesinnte Regierung an der Macht, gegen die allerdings bewaffnete Rebellen kämpften. [3]Besonders Außenminister Cyrus Vance, der diese Argumente im internen Kreis vortrug, warnte vor jeglichen militärischen Aktionen. [4]
In Moskau wuchs die Befürchtung, dass die USA einen Militärschlag gegen den Iran ausführen und mit eigenen Truppen bis an die Grenze zur UdSSR vorrücken könnten. Hervorgerufen wurde diese Vermutung durch den Umfang des militärischen Aufmarsches, der für eine Geiselbefreiung viel zu groß dimensioniert war. Er deutete vielmehr auf eine bevorstehende Großoffensive von Luft-, See- und Landstreitkräften hin. Im Politbüro der KPdSU wurden außerdem angesichts des soeben gefassten NATO-Beschlusses, Pershing-II-Raketen und Cruise Missiles in der BRD und anderen Staaten Westeuropas zu stationieren, Befürchtungen geäußert, dass derartige Waffensysteme, gegen die keine Vorwarnzeiten möglich waren, perspektivisch auch vom Iran aus die südasiatischen Teile der Sowjetunion mit ihren atomaren Sprengköpfen bedrohen könnten. [5]Es kam hinzu, dass die CIA in Pakistan regierungsfeindliche afghanische Rebellen trainierte, sie finanzierte und Waffen in das Land schmuggelte, was der UdSSR nicht verborgen geblieben war. [6]
Plante Washington die künftige Einbeziehung des Landes in eine anti-sowjetische Front? Schließlich beschloss das Politbüro in Moskau endgültig am 12. Dezember 1979, in Abwesenheit des erkrankten Ministerpräsidenten Alexei Kossygin und gegen den Rat des Generalstabschefs Marschall Nikolai Ogarkov, etwa 80.000 Soldaten in Afghanistan einmarschieren zu lassen, beginnend am 25. Dezember. [7]
Der Persische Golf – ein Binnenmeer der USA?
Vor dem Hintergrund dieser skizzierten Lage im Mittleren Osten entwickelte Präsident Jimmy Carter am 23. Januar 1979 vor beiden Häusern des Kongresses seine Doktrin, um gegenüber der Öffentlichkeit die Ziele, Inhalte und Instrumentarien seiner Politik im Mittleren Osten zu definieren.
Bei seiner Analyse der entstandenen Lage stellte Carter die Tatsachen auf den Kopf. Die Bedrohungen der Region hätten ihre Ursache in der Anwesenheit sowjetischer Truppen in Afghanistan. Sie seien eine ernste militärische Bedrohung für die Öltransporte durch die Straße von Hormus, von der sie nur 300 Meilen entfernt seien. Carter unterstellte der UdSSR, von Afghanistan aus an die Küsten des Indischen Ozeans sowie des Persischen Golfes vordringen zu wollen, um die Tankerrouten durch die Straße von Hormus und damit den freien Transport des Erdöls zu stören. Der freie Verkehr von zwei Drittel des auf der Welt zur See transportierten Rohöls sei damit bedroht.
Mehr noch: In den USA wurde seit den Sommermonaten in der Presse eine Debatte über die angeblich in naher Zukunft, ja innerhalb weniger Jahre zu Ende gehenden Erdölvorkommen in der UdSSR geführt. Ausgangspunkt war eine entsprechende »Analyse« der CIA, die durch offenbar gezielte Indiskretionen führenden Zeitungen zugespielt worden war. [8]In diesem Zusammenhang wurde eine hysterische Diskussion über frei erfundene Planungen der Sowjetunion ausgelöst, mit militärischer Gewalt die Ölquellen im Mittleren Osten zu erobern. Der Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan wurde gegenüber der Öffentlichkeit als Beweis für die Stichhaltigkeit dieser Behauptung ausgegeben.
Insgesamt war im Verlauf des Jahres 1979 von der Carter-Administration und einflussreichen Medien ein Bedrohungsszenarium entwickelt worden, als dessen Konsequenz die USA bereit und fähig sein müssten, militärische Gewalt für die selbst angemaßten »Interessen« anzuwenden. Die Schlüsselsätze in Carters Erklärung vor dem Kongress lauteten deshalb: »Unsere Position ist absolut klar: Jeder Versuch einer auswärtigen Macht, Kontrolle über den Persischen Golf zu gewinnen, wird als ein Angriff auf eine für uns lebenswichtige Region betrachtet und wird mit allen notwendigen Mitteln zurückgeschlagen werden, einschließlich militärischer Gewalt.« [9]Offenbar ging Carter gemäß der lange währenden Traditionen des US-Imperialismus davon aus, dass für die USA eine viele Tausend Kilometer entfernte Region, in diesem Falle der Persische Golf, eine Art Binnenmeer darstellt und die Vereinigten Staaten deshalb keine »auswärtige Macht« seien.
Harte Kritik erntete Präsident Carter erwartungsgemäß nicht nur aus Moskau, sondern von erfahrenen Politikern aus dem eigenen Land. Senator George McGovern, Präsidentschaftskandidat der Demokraten von 1972, sezierte in einem ausführlichen Zeitschriftenartikel die Rede und kam zu einer beinahe vernichtenden Kritik. Carter ignoriere, dass die sowjetische Führung die von ihm unterstellte Strategie, militärisch an den Golf und an den Indischen Ozean vorzudringen, möglicher Weise gar nicht verfolge; dass die Gefahren in der Region des Persischen Golfes von lokalen Mächten ausgehen; dass vor der Verkündung einer derartigen Doktrin bzw. vor militärischen Interventionen die Golfstaaten sowie die Verbündeten der USA konsultiert werden müssten. Im Übrigen wäre es nötig gewesen, die ganze Bandbreite möglicher Ursachen für den Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan zu erkunden anstatt ihnen weitreichende aggressive Absichten zu unterstellen. Mehr noch: Carter habe, als er vor der größten Gefahr für den Frieden seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gewarnt habe, in den USA unvermeidlich eine Kriegsatmosphäre geschaffen. Die sowjetische Führung, so McGovern, teile mit der Bevölkerung ihres Landes aber den Schrecken vor einem großen Krieg, der in der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges mit seinen mehr als 20 Millionen toten Sowjetbürgern seine Ursache habe. [10]
George F. Kennan, ehemals Botschaftsrat an der diplomatischen Vertretung in Moskau und Chef des Planungsstabes im State Department, brachte seine Kritik in der »New York Times« kurz und bündig auf den Begriff: »Das Hinstarren auf die sowjetische militärische Bedrohung des Persischen Golfes, die erst noch zu beweisen sei, berge das Risiko in sich, dass man die wahren Gefahren für die amerikanische Sicherheit in dieser Gegend vergesse: die selbst verursachte Abhängigkeit vom arabischen Öl und die Verwicklung in den arabisch-israelischen Konflikt.« [11]
Und schließlich meldete sich sogar der Chef des Generalstabs, General David Jones, öffentlich zu Wort, indem er mitteilte, er schließe »einen sowjetischen Vorstoß auf den Persischen Golf aus«. Welche Kriegsszenarien damals offenbar hinter verschlossenen Türen in Washington diskutiert wurden, illustriert General Jones‘ Bemerkung, er halte den Einsatz von Atomwaffen im Falle eines Krieges im Mittleren Osten für »unangebracht«. [12]
Es verdient festgehalten zu werden, dass Carters militärische Maßnahmen, die zur Täuschung des Publikums mit dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan begründet wurden, bereits lange vor dem Jahreswechsel 1979/80 beschlossen, ihre Realisierung bereits begonnen und auch der Öffentlichkeit mitgeteilt worden waren: Die Aufstellung einer 110.000 Mann starken »Schnellen Eingreiftruppe«; die beabsichtigte Inanspruchnahme von Stützpunkten, u. a. in Ägypten, Kenia, Oman und Somalia; der weitere Ausbau der britischen Marinebasis Diego Garcia im Indischen Ozean, um hier eine Flugzeugträger-Gruppe, Atom-U-Boote und strategische Bomber B-52 zu stationieren sowie Depots für die Schnelle Eingreiftruppe und andere Verbände einzurichten [13]; die Schaffung einer starken »5. US-Flotte«, die ständig im Persischen Golf und im Indischen Ozean patrouillieren und mit mindestens einem Flugzeugträger präsent sein müsse; die Lieferung von US-amerikanischen Waffen an alle Staaten der Golfregion, die bereit seien, Stützpunkte zeitweilig oder dauerhaft zur Verfügung zu stellen. Bereits im Januar 1980 erfolgte eine Vereinbarung mit der Türkei, auch zukünftig insgesamt 26 militärische und von verschiedenen US-Geheimdiensten genutzte Einrichtungen in der Türkei nutzen zu dürfen, während mit Ägypten die Lieferung von Kampfflugzeugen und Panzern sowie gemeinsame Manöver mit Luft- und Landstreitkräften verabredet und auch bald durchgeführt wurden. [14]Die Frankfurter Allgemeine Zeitung teilte ihren Lesern in diesem Zusammenhang erfreut mit, dass »den Vereinigten Staaten für den Fall eines militärischen Vorgehens im Nahen Osten und im Bereich des Persischen Golfes sämtliche ägyptischen Luftstützpunkte zur Verfügung« stehen würden. Die ersten gemeinsamen Manöver der Luftwaffen beider Länder – vor der Verkündung der Carter-Doktrin! – seien »zur vollen Zufriedenheit der Generalstäbe verlaufen«. [15]
Springer-Presse feierte »neuen« Jimmy Carter
In der BRD und in Westberlin feierte vor allem die Springer-Presse den endlich auf einen kompromisslos antisowjetischen Kurs eingeschwenkten US-Präsidenten. Die Welt jubelte: »Carter hat sich vollkommen den Argumenten der Entspannungsgegner – und der Mehrheit der republikanischen Präsidentschaftskandidaten – angeschlossen.« Er werde »als der größte Nachrüster unter den letzten sechs Präsidenten in die Geschichte eingehen.« [16]Der gleiche Autor verbreitete in der Welt mit sichtlicher Freude, nur wenige Wochen nach Carters Rede vor dem Kongress: »Der Ost-West-Gegensatz tritt wieder ins Zentrum seines politischen Denkens«. Und als ein wesentliches Resultat der neuen Konfrontationspolitik wusste er seinen Lesern mitzuteilen: »Heute blüht das US-Waffengeschäft wie noch nie!« Hierzu gehörten auch die Lieferung nuklearer Brennstoffe an Pakistan und spaltbaren Materials an Indien.
Ebenfalls in der Welt unterbreitete der pathologische Kommunistenhasser Matthias Walden einen Vorschlag, der seiner Zeit allerdings noch voraus war: »Amerika hat einen Anspruch auf unsere Beteiligung an seinen Gegenmaßnahmen zur Eindämmung der sowjetischen Aggressionen ...« Das »freie Deutschland« habe »für Amerika geradezustehen«. Und weiter: »Die USA sind nicht bereit, überall und immer allein die Kastanien aus dem Feuer zu holen und ihren Verbündeten den Luxus mangelnder Betroffenheit und einer komfortablen Distanz zu den Lasten zu erlauben, die es zu tragen gilt. (…) Wir sollen gelähmt werden und die Amerikaner im Stich lassen. Ließen aber die Amerikaner uns im Stich, dann wären wir verloren.« [17]Zum Glück blieb dieser kaum verhüllte Aufruf zu einer bundesdeutschen Beteiligung an möglichen Militäraktionen der USA im Persischen Golf ohne Echo. [18]
Carter säte, Reagan erntete
Bei Lichte betrachtet stellte die Carter-Doktrin keineswegs eine völlig neue, auf den Mittleren Osten bezogene US-Strategie dar. In einer Analyse des Cato-Instituts, einer der Großindustrie nahe stehenden Denkfabrik, wird zutreffend festgestellt, dass Jimmy Carter sich durchaus in der Kontinuität seiner Vorgänger befunden habe, die seit 1945 den Nahen und Mittleren Osten mit ihren reichen Erdölvorkommen als lebenswichtige Regionen für die Volkswirtschaft der USA und ihrer Verbündeten beansprucht hätten und stets eine unübersehbare militärische Präsenz aufrechterhielten. In dieser Tradition bewegte sich Jimmy Carter. Auch sein Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski hatte bereits am 2. August 1979 vom Mittleren Osten als einer »lebenswichtigen strategischen Zone« gesprochen, die für die Sicherheitsinteressen der USA von gleicher Bedeutung sei wie Europa oder der Ferne Osten.[19]
Zusammengefasst: Außenminister Cyrus Vance formulierte präzise den Stellenwert der Carter-Doktrin, indem er hervorhob, dass die Geisel-Krise im Iran und der Einmarsch von 80.000 Soldaten der sowjetischen Armee in Afghanistan lediglich bereits auf den Weg gebrachte militärische Maßnahmen der USA beschleunigten, sie aber nicht verursacht hätten. [20]Die Schicksale Carters, seiner Doktrin sowie der von ihm angeschobenen Hochrüstungspolitik sind bekannt: »Die Wiedergewinnung nationaler Stärke bestimmte die Diskussion – gerade auch im Wahlkampf. Von Entspannung war kaum noch die Rede; die Befürworter einer Entspannungspolitik resignierten in der doppelten Bedeutung dieses Wortes.« [21] So kam es, wie es kommen musste: Bei den Wahlen am 4. November 1980 ging Ronald Reagan mit großem Vorsprung ins Ziel, Carter blieb eine zweite Amtszeit verwehrt. [22]
Axel Springers Berliner Morgenpost jubilierte: »Amerika hat im Grundsatz umgesattelt. (…) Der Selbstgeißelung, der Bußfertigkeit ist Genüge getan. Die lange Gewissenserforschung ist abgeschlossen. Amerika hat sich als selbstbewusste Nation wiederentdeckt. Es besinnt sich auf alte, leichtfertig verschüttete Tugenden. Führungsfähig war Amerika nach dem Zweiten Weltkrieg immer, nun ist es wieder führungswillig.« [23]
Anstatt die Chance zu nutzen, mit der UdSSR Verhandlungen auf gleichberechtigter Basis zu führen, wozu ihm erfahrene Spitzendiplomaten und Politiker seiner eigenen Partei dringend rieten und sich der kubanische Staatschef Fidel Castro als Vermittler anbot [24], wurde er nolens volens zum Stichwortgeber und Steigbügelhalter des Präsidentschaftskandidaten der Republikaner, Ronald Reagan. Wo Carter säte, konnte Reagan ernten. Mit der Carter-Doktrin war endgültig der Weg in einen »Zweiten Kalten Krieg« beschritten worden, der unter der Präsidentschaft von Reagan die Spannungen zwischen den USA und der Sowjetunion erneut anheizte und die Kriegsgefahr drastisch erhöhte – nicht nur am Persischen Golf. [25]
(Dieser Beitrag entstand in Vorbereitung eines von Hans Schoenefeldt und dem Autor dieses Beitrages verfassten Buches, das 2020 im papyrossa Verlag erscheinen und der »NATO-Nachrüstung« sowie ihren Voraussetzungen und Folgen gewidmet sein wird.)
Anmerkungen:
[1] Siehe Helmut Wolfgang Kahn: Der Kalter Krieg. Band 1: Spaltung und Wahn der Stärke 1945-1955, Köln 1986, S. 296 ff.
[2] Siehe Derselbe: Der Kalte Krieg. Band 3: Die Nemesis oder die Verkommenheit der »freien Welt« seit 1973, Köln 1988, S. 90 ff.; Iran: Carter’s Biggest Crisis, in: U.S. News and World Report, 8.1.1979, S. 24 ff.
[3] Allerdings glaubte man in Moskau damals, berechtigten Anlass zu der Befürchtung zu haben, dass Präsident Amin demnächst die Avancen der USA annehmen werde, die freundschaftlichen Beziehungen zur UdSSR zu lockern bzw. ganz aufzugeben und Partner der USA zu werden. Deshalb setzte man in Moskau auf einen Wechsel im Amte des Präsidenten, das künftig Babrak Karmal ausüben sollte. Nach der Ermordung Amins wurde er am 27. Dezember 1979 sein Nachfolger.
[4] Siehe Richard C. Thornton: The Carter Years. Toward a New Global Order, New York 1991, S. 455 f.
[5] Siehe Reiner Zilkenat: Atomarer Rollback. Vor 40 Jahren beschloss die NATO die Nachrüstung ihrer Mittelstreckenraketen in Westeuropa, in: www.jungewelt.de/artikel/368569.atomarer-rollback, html (letzter Abruf: 14.12.2019).
[6] Siehe hierzu den ausführlichen Beitrag von Konrad Ege: CIA Intervention in Afghanistan, in: CounterSpy, Vol. 4, No. 2, Spring 1980, S. 22 ff. Im Netz abrufbar unter: www.cia.gov/library/readingroom/docs/CIA-RDP90-00845R000100150005-6.pdf (letzter Abruf: 1.11.2019).
[7] Siehe nsarchive2.gwu.edu/dc.html?doc=5696257-Document-5-Soviet-Decisions-in-December-1979 (letzter Abruf: 12.12.2019).
[8] Siehe: Soviets Will Be Importing Oil Within 3 Years, CIA Report Says, in: The Washington Post, 30.7.1979; C.I.A. Sees Soviet Importing Oil Soon, in: The New York Times, 30.7.1979. Die Faksimiles dieser Beiträge sind im Internet abrufbar unter: www.cia.gov/library/readingroom/docs/CIA-RDP05S00620R000501270001-6.pdf (letzter Abruf: 23.12.2019).
[9] Public Papers oft he Presidents oft he United States – Jimmy Carter 1980-1981 (in three Books), Book 1, Washington, D.C. 1981, S. 197. Übersetzung von mir – R.Z.
[10] George McGovern: How to Avert a New »Cold War«. The trouble with the so-called Carter Doctrine, in: The Atlantic, Vol. 245, No. 6, June 1980, S. 45 ff. Die von mir in indirekter Rede übersetzten wiedergegebenen Zitate: S. 45, 48 u. 53.
[11] Zitiert in: Carter-Doktrin auf dem Prüfstand, in: Neue Zürcher Zeitung, 3.2.1980.
[12] Siehe Washingtoner Sandkastenspiele um den Persischen Golf, in: Neue Zürcher Zeitung, 6.2.1980.
[13] Bereits am 28. September 1974 teilte der damalige Präsident Gerald Ford auf einer Pressekonferenz mit, dass die USA »sehr wichtige Interessen« im Indischen Ozean hätten. Deshalb würden die US-Streitkräfte einen »begrenzten Ausbau« von Diego Garcia vorantreiben. Siehe www.cia.gov/library/readingroom/docs/CIA-RDP80B01495R0005500050023-0.pdf (letzter Abruf: 23.12.2019). Mittlerweile haben die USA Diego Garcia bis 2036 von Großbritannien gepachtet und zu einem großen Marine- und Luftwaffenstützpunkt ausgebaut.
[14] Zu den militärischen Konsequenzen der Carter-Doktrin siehe: The U.S. Gets Tough, in: Newsweek, 21.2.1980, S. 22 ff. u. A Year After – New U. S. Role in Mideast, in: U. S. News and World Report, 3.11.1980, S. 39 ff. Zu den bereits vor dem Dezember 1979 eingeleiteten militärischen Aktivitäten im Zusammenhang der Krise im Mittleren Osten siehe z. B. Iran: Carters Biggest Crisis, in: U. S. News and World Report, 8.1.1979, S. 24 ff.; Richard Burt: U. S. Studying Ways to Bolster Strength in Mideast, in: The New York Times, 10.12.1979. Im Netz abrufbar unter: www.cia.gov/library/readingroom/docs/CIA-RDP05S00620R000501320001-0.pdf (letzter Abruf: 1.11.2019).
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2019-02: »Braucht Deutschland eigene Atomwaffen?«
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