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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der Mythos vom »Sturm«

Klaus Eichner, Lentzke

 

Auch nach 25 Jahren geistern durch die Medien immer wieder die Mythen vom »Sturm auf die Stasi-Zentrale« am 15. Januar 1990 und werden uns auch in diesen Wochen von allen Seiten nahegebracht.

Medien und Akteure der Bürgerbewegung charakterisieren diesen Tag nach dem 9. Oktober (Beginn der Leipziger Montagsdemonstrationen) und dem 9. November (dem »Fall der Mauer«) als einen von drei Grundpfeilern des Endes der DDR.

Jens Bisky nennt diesen Tag in der SZ vom 2. September 2010 den »dritten dramatischen Höhepunkt der ostdeutschen Selbstbefreiung«.

Den aggressiven Grundtenor - eingeengt auf das MfS der DDR - hatte die damalige Chefin der BStU, Marianne Birthler, bereits anlässlich des 20. Jahrestags vorgegeben: »Die Besetzung war der sichtbare, symbolische Sturz der verhassten Geheimpolizei. Die Bilder von der Besetzung der Stasi-Zentrale, die in alle Wohnzimmer gesendet wurden, machten allen Menschen klar, die Staatssicherheit hatte ihre Macht unwiederbringlich verloren.«

Bürgerrechtler greifen an

Wie sah diese Besetzung real aus? In den ersten Januartagen 1990 verbreitete das Neue Forum einen Aufruf zu einer Aktions-Kundgebung am 15. Januar 1990 vor den Toren des MfS in der Berliner Ruschestraße/Normannenstraße.

Das Flugblatt enthielt folgende Forderungen: »Sofortige Schließung aller Stasi-Einrichtungen; Hausverbot für alle Stasi-Mitarbeiter; Einleitung von Ermittlungsverfahren gegen das MfS; Offenlegung der Befehlsstrukturen zwischen SED und Stasi; Stasi in die Volkswirtschaft und Verzicht auf die Bildung neuer Geheimdienste.«

Aufgerufen wurde: »Schreibt Eure Forderungen an die Mauern der Normannenstraße! Bringt Farbe und Spraydosen mit! Wir schließen die Tore der Stasi! Bringt Kalk und Mauersteine mit!«

Die Steine sollten angeblich zum »Zumauern« dienen - aber die Besetzer wollten ja rein in das Objekt; und mit Steinen kann man auch werfen, wie noch am gleichen Abend praktiziert. Damit hatten die Organisatoren aber den brüchigen Konsens der Gewaltfreiheit in diesen Tagen verlassen.

Die Zentrale des MfS war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr von eigenen Kräften des MfS gesichert, sondern von VP-Angehörigen. Gegen 17 Uhr sammelt sich in der Ruschestraße eine große Menschenmenge, Medienberichte sprechen von mehreren tausend Menschen. Die Stimmung wird immer mehr angeheizt. Erste Demonstranten erklettern das eiserne Doppeltor an der Ruschestraße - da wird es von innen schon geöffnet.

Es war eine schizophrene Situation entstanden. Schon im Verlauf des Tages waren Abgeordnete von Bürgergruppen, vor allem des Neuen Forum, aus den Bezirken - mit Erfahrungen von der Besetzung der Bezirksverwaltungen des MfS - im Objekt und verhandelten mit Verantwortlichen des MfS über den Zugang zur Zentrale des MfS. Ob die Demonstration in der Ruschestraße vom Neuen Forum als zusätzliches Druckmittel für diese Verhandlungen gedacht war, ist nicht auszuschließen.

Der Pfarrer Martin Montag aus Suhl nimmt für sich in Anspruch, das Tor von innen geöffnet zu haben.

Durch das offene Tor strömte die Menge der Demonstranten in den Hof des MfS und wandte sich dem Versorgungstrakt zu. In diesem Haus 18 waren keinerlei Diensträume des MfS. Dort waren Speisesäle, Konferenzräume und vielfältige Versorgungseinrichtungen (Kaufhalle, Friseur, Buchhandlung, Reisebüro) und deren Verwaltungsbüros.

Im ND vom nächsten Tag wurde die Situation mit folgenden Worten beschrieben:

»Die Spitze tobte auf das Haus 18 - ein Büro- und Versorgungstrakt - zu. Steine zertrümmerten die Glasfront des Eingangs. Damit war der Weg in das Gebäude frei. Johlend stürmte eine große Menge in das mehrgeschossige Haus. Papiere und Möbel flogen aus zerschlagenen Fenstern auf das Pflaster. Randalierer verwüsteten die Räume und plünderten in Büro- und Diensträumen, in der Kantine, in einem Buchladen und in der Theaterkasse, was nicht niet- und nagelfest war.« [Vgl. Neues Deutschland, 16. Januar 1990: Erst gestürmt, dann verwüstet.]

Am 17. Januar informierte der stellvertretende Innenminister und Chef der VP, Generalmajor Dieter Winderlich, auf einer Pressekonferenz über das Ausmaß der Sachschäden und bezifferte deren Höhe auf eine Million Mark. Vertreter des Neuen Forum wiederum bezweifelten bei einer Ortsbegehung in der Normannenstraße die Höhe der Schadenssumme. Winderlich teilte mit, dass die Kriminalpolizei des Präsidiums der Volkspolizei Berlin eine Einsatzgruppe zur Untersuchung der schweren Sachbeschädigungen, des Rowdytums und des Diebstahls, zu denen es am 15. Januar kam, gebildet hat. Über die Ergebnisse der Untersuchungen gab es danach keine Unterrichtung der Öffentlichkeit.

Das Fernsehen der BRD war natürlich von Anfang an dabei. Journalisten reckten anklagend angebliche Gehaltsstreifen mit Monatsverdiensten zwischen 6.000 und 8.000 Mark oder eine Speisekarte in die Kamera, auf der kulinarische Angebote wie Kaviar, Räucheraal o.ä. zu finden waren. Natürlich mit der Aussage, dass das die tägliche Kost der Mitarbeiter des MfS in ihrer Kantine gewesen sei. Insider wissen, dass sich in dem Versorgungstrakt ein kleiner spezieller Speisesaal befand, in welchem Minister Mielke ab und zu ausländische Gäste empfing. Nur von dort könnte eine solche Speisekarte stammen. Aber in vielen Medienberichten über die Jahrestage dieses Ereignisses finden wir immer wieder diese Verleumdungen, zum Beispiel in der Berliner Zeitung vom 15./16. Januar 2005 folgende Aussagen (nach dpa):

»Die Wut war nicht mehr zu stoppen. Als am 15. Januar 1990 aufgebrachte Demonstranten in die Berliner Stasi-Zentrale eindrangen, konnten sie es nicht fassen: Räucheraal und Krabben auf der Kantinen-Speisekarte, mit Roastbeef und Haifischflossensuppe in Dosen gefüllte Lagerräume, holzgetäfelte Konferenzräume. Statt ihrer Stasi-Akten sahen sie diesen für DDR-Verhältnisse unvorstellbaren Luxus.«

Die mit der Berichterstattung über die Besetzung der MfS-Zentrale verbundene Lügenkampagne war einer der Ausgangspunkte der jahrelang weiter wirkenden »Stasi-Hysterie«.

Ein kleiner Teil der Demonstranten beteiligte sich nicht am Vandalismus in diesem Komplex. Zielstrebig nutzten sie den Zugang über eine Fußgängerbrücke zum Haus 2, dem Sitz der Spionageabwehr (Hauptabteilung II). Dort verschafften sie sich mit Gewalt Zugang zu 18 Diensträumen. Die Auswahl der betroffenen Räume verriet Insiderkenntnisse. Das war nicht verwunderlich, denn erst im Dezember 1989 war ein Abteilungsleiter der Hauptabteilung II, Oberstleutnant Rainer Wiegand, gemeinsam mit seiner Sekretärin und Geliebten zum Bundesnachrichtendienst übergelaufen. Er hatte offensichtlich die Orientierungen für die Einsatzgruppe des BND geliefert.

Agonie und Selbstaufgabe

Am 16. Januar übernahm ein selbsternanntes »Bürgerkomitee Normannenstraße« die Kontrolle im Gebäudekomplex.

Die Besetzung der MfS-Zentrale in Berlin war der Höhepunkt der von verschiedenen Kreisen der Bürgerbewegung organisierten und angeführten DDR-weiten Kampagnen gegen das MfS. Zu diesem Zeitpunkt waren alle Kreis- und Objektdienststellen sowie die 15 Bezirksverwaltungen des MfS nicht mehr arbeitsfähig, acht der Bezirksverwaltungen durch Bürgerkomitees besetzt. Das heißt, dieser sogenannte »Sturm« auf die MfS-Zentrale war ein Angriff auf einen Gegner, der sich bereits in der Agonie befand.

In den Bezirken und in der MfS-Zentrale war zu diesem Zeitpunkt die Auflösung bereits im vollen Gange. Die Mehrheit der Führungskader, Minister, Stellvertreter, Leiter und Stellvertreter von Hauptabteilungen, war bereits aus dem Dienst ausgeschieden. In den Diensteinheiten gab es in immer neuen Wellen Aufforderungen an die Mitarbeiter, sich Arbeitsplätze im zivilen Leben zu suchen.

Am 10. Januar waren die Waffenkammern auch der MfS-Zentrale geräumt worden, die dort gelagerten Infanteriewaffen wurden in Einrichtungen des MdI untergebracht.

Das Öffnen der schweren Eisentore in der Rusche- und Normannenstraße war nur noch ein symbolisches Zeichen für das nahende Ende der DDR.

Jedoch war der Aufruf des Neuen Forum unter den Bedingungen der offensichtlichen und den Bürgerbewegungen bestens bekannten Auflösungsprozesse eine bewusste Machtdemonstration, die auch auf die Vertreter anderer Oppositionsgruppen ausstrahlen und den Führungsanspruch des Neuen Forum markieren sollte. Mit dieser Demonstration nahm man in Kauf, dass eine chaotische Situation entstand und Gewaltexzesse zur realen Gefahr wurden, auch wenn einige dieser Vertreter die Schärpe »Keine Gewalt« trugen. Die Staatsorgane der DDR waren zu dieser Zeit bereits handlungsunfähig, trotz der tagelangen Ankündigungen der »Aktionskundgebung« erfolgte keine Verstärkung der Sicherungskräfte der Volkspolizei, der Zentrale Runde Tisch tagte in diesen Stunden in Permanenz weit weg vom Ort des Geschehens. Es ist auch in diesem Fall dem besonnenen und verantwortungsbewussten Verhalten der im Objekt des MfS verbliebenen Mitarbeiter des MfS zu verdanken, dass keine weitere Eskalation der Auseinandersetzungen stattfand. Jeder, der dort vor Ort war, wird sich an die extremen physischen und psychischen Belastungen dieser Stunden erinnern.

Mit der Aktion »Sturm auf die MfS-Zentrale« hatten bestimmte Kräfte der Bürgerrechtsbewegung die alleinige Kontrolle über den Prozess der Auflösung der Sicherheitsorgane übernommen.

Dieser Tag dürfte ein weiterer Höhepunkt der Selbstaufgabe der DDR gewesen sein. Aber das Ende des MfS war nur eine logische Folge eines Niedergangsprozesses, der das ganze System des Realsozialismus in Europa erfasst hatte und kurze Zeit später mit der Implosion dieses Systems endete.

 

Klaus Eichner, Oberst a.D., stellvertretender Abteilungsleiter in der HVA, war am 15. Januar 1990 in der MfS-Zentrale und hat sowohl diesen Tag als auch den Prozess der Auflösung der HVA selbst miterlebt.

Siehe auch: Klaus Eichner, Der Sturm, der keiner war. Mitteilungen, Heft 1/2010, S. 19ff.

 

 

Mehr von Klaus Eichner in den »Mitteilungen«: 

2013-12:  Das Teufelszeug muss weg! (Erich Honecker)    

2013-01:  Alter Wein in alten Schläuchen

2012-01:  Neonazis und Verfassungsschutz