Der 8. Oktober und die Gewalt
Egon Krenz, Dierhagen
In den zurückliegenden Oktoberwochen wurden wir erneut mit Legenden über die Leipziger Montagsdemos im Jahr 1989 überschüttet. Da die unentwegte Denunziation der DDR nicht damit in Übereinstimmung zu bringen ist, dass im sogenannten Wendeherbst kein Schuss abgegeben wurde, muss von den Anti-DDR-Eiferern wenigstens immer wieder betont werden, dass eigentlich seitens der DDR-Führung anderes vorgesehen gewesen sei. Wie es wirklich war, hat Egon Krenz in seinem Buch »Herbst '89« beschrieben. Wir danken ihm, dass wir Auszüge daraus dokumentieren dürfen, welche das Geschehen real beschreiben.
Am Abend des 7. Oktober kam es in Berlin zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen der Volkspolizei mit Demonstranten. Gerade das sollte verhindert werden. Dafür gab es einen Plan des Nationalen Verteidigungsrates für Sicherheitsmaßnahmen, der von Honecker bestätigt worden war und für deren Verwirklichung in Berlin Günter Schabowski verantwortlich zeichnete. …
Am nächsten Morgen – es war Sonntag, der 8. Oktober – fuhr ich mit Wolfgang Herger zu einer Beratung ins Ministerium für Staatssicherheit. Dort hatten sich die ranghöchsten Sicherheitsleute und Militärs des Landes versammelt, um sich über die Vorgänge am Abend und in der Nacht zu verständigen und Schlüsse aus dem offenkundigen Durcheinander zu ziehen. Noch bevor uns Mielkes Stellvertreter Mittig begrüßte, nahm ich ihn beiseite: »Rudi, was ist da gestern Abend schiefgelaufen? Warum wurde ich nicht informiert?«
»Was da passiert ist, war nicht nötig. Jemandem sind die Nerven durchgegangen.«
Wen er mit »jemand« meinte, sagte er nicht. Er sprach aber aus, was auch ich dachte: Die Zusammenstöße wären vermeidbar gewesen.
Gewaltlosigkeit als Prinzip
Bevor Mielke die offizielle, von ihm routiniert geleitete Sitzung beenden konnte, meldete ich mich zu Wort. Man konnte nicht einfach darüber hinweggehen, was da in den letzten 48 Stunden geschehen war.
»Ich habe eine Erklärung für das Politbüro ausgearbeitet und möchte diese gern mit euch beraten«, sagte ich, wohl wissend, dass ich mit dieser Ansage die Anwesenden ungefragt in Mithaftung nehmen würde. Deshalb schob ich nach: »Wer dabei sein will, kann bleiben.«
Erstaunlich: niemand ging.
Ich trug die knapp sechs Seiten vor. Der Schlüsselsatz lautete: »Mit militärischer oder polizeilicher Gewalt ist nichts zu machen. Politisch entstandene Probleme dürfen nur politisch gelöst werden!«
Die sonst eher nüchterne Arbeitsrunde applaudierte. … Dies sollte für mich einer der entscheidenden Augenblicke im Herbst 1989 sein: Die Verantwortlichen aller Schutz- und Sicherheitsorgane der DDR hatten sich in dieser Stunde zum Prinzip der Gewaltlosigkeit bekannt. …
Am 9. Oktober saß ich wie gewohnt um 7 Uhr an meinem Schreibtisch im Haus des Zentralkomitees … Honecker rief an. Das war ungewohnt früh. …
Ohne große Vorrede ersuchte er mich freundlich, den Entwurf meiner Erklärung zurückzuziehen, um ihn nicht im Politbüro erörtern zu müssen.
Ich schüttelte den Kopf. »Wenn ich dies tue, verliere ich nicht nur meine Selbstachtung. Die dramatische Lage im Land erfordert sofortiges Handeln. … Solange es keinen anderen Vorschlag gibt, ziehe ich meinen nicht zurück.« …
In meinem Büro erwartete mich bei meiner Rückkehr Professor Walter Friedrich im Vorzimmer. Er kam direkt aus Leipzig und war derart erregt, dass er mich nicht einmal begrüßte.
»Egon, heute Abend darf kein Blut fließen!«
Ich verstand nicht, was er meinte. »Du bist wahrscheinlich irgendwelchen Gerüchten aufgesessen.«
Friedrich berichtete von den Ängsten in der Stadt. Polizei und Kampfgruppen seien in Bereitschaft. …
Ich versuchte ihn zu beruhigen und rief Wolfgang Herger hinzu.
Der bestätigte Friedrich und mir, was gestern mit den Befehlsgebern besprochen worden sei: keine Gewalt!
… Der Professor schob mir ein Schriftstück über den Tisch. Diese 18 Seiten habe er in der Nacht ausgearbeitet.
»Die Feierlichkeiten in Berlin haben vermutlich etwa 90 Prozent der DDR-Bevölkerung nicht interessiert. Sie haben sich die Übertragungen im Fernsehen nicht oder nur ganz kurz (vor allem Gorbatschows wegen) angesehen. Die Rede des Genossen Honecker wurde selbst von engagierten Genossen als ›nichtssagend‹, als ›enttäuschend‹, als ›an den Problemen der Wirklichkeit vorbeigehend‹, als ›Rede eines gealterten Mannes‹ bezeichnet. Ich bezweifle nicht, dass die letzten Tage die Abneigung sehr vieler Menschen gegenüber unserer Politik und politischen Führern noch erhöht haben«, las ich. »Wir haben mit unserer Sprachlosigkeit, Bagatellisierung der Probleme und der falschen, weil höchst einseitigen Ursachenerklärungen so elementare und unglaubliche Fehler gemacht, dass ich unsere Berichterstattung und Propaganda nur als ›systemschädigend‹ klassifizieren kann.«
Walter Friedrich war kein Panikmacher. Er stand politisch fest auf dem Boden der DDR. Ich nahm jeden seiner Sätze ernst. …
Die Leute auf der Straße nicht als Feinde abstempeln
In Leipzig verbreiteten Gewandhauskapellmeister Kurt Masur, der Theologe Dr. Peter Zimmermann, der Kabarettist Bernd-Lutz Lange sowie die Sekretäre der SED-Bezirksleitung Dr. Kurt Meier, Jochen Pommert und Dr. Roland Wötzel einen Aufruf: »Unsere gemeinsame Sorge und Verantwortung haben uns heute zusammengeführt. Wir sind von der Entwicklung in unserer Stadt betroffen und suchen nach einer Lösung. Wir alle brauchen freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land. Deshalb versprechen die Genannten heute allen Bürgern, ihre ganze Kraft und Autorität einzusetzen, dass dieser Dialog nicht nur im Bezirk Leipzig, sondern auch mit unserer Regierung geführt wird.
Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.«
Der Aufruf wurde ab 16 Uhr über den Stadtfunk verbreitet. Zeithistoriker und Medienmacher sollten ihn neuerlich lesen, bevor sie behaupten, am 9. Oktober sei es um die Beseitigung der DDR gegangen. Vielmehr ging es, wie es im Aufruf wörtlich heißt, um den »freien Meinungsaustausch über die Weiterführung des Sozialismus in unserem Land.«
In Leipzig versammelten sich am Abend etwa 70.000 bis 80.000 Menschen. In Berlin, Dresden, Halle und in anderen Städten fanden in den Kirchen »Friedensgebete« oder ähnliche Zusammenkünfte statt. Die Organisatoren hatten untereinander Verbindung. Alle blickten nach Leipzig. Westdeutsche Radiosender erhöhten die Anspannung, indem sie suggerierten, es gebe Befehle zum Schießen. Das war eine Lüge, die Befehlslage eindeutig.
Gegen 21 Uhr erhielt ich die Meldung: Die Demonstration löse sich auf, … Der 9. Oktober in Leipzig sei friedlich verlaufen. Viele Elemente haben dazu beigetragen: der Aufruf der Sechs ebenso wie die Aufforderung der Kirche »Lasst die Steine liegen!«, die Flugblätter des Neuen Forum und das Verhalten der Demonstranten, insbesondere aber die Zurückhaltung der Volkspolizisten, der Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit und der Soldaten der Nationalen Volksarmee, die in Bereitschaft standen.
Bundespräsident Horst Köhler behauptete 20 Jahre später in einem Festakt in Leipzig: »Vor der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne Rücksicht zu schießen. Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in der Behandlung von Schusswunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt.«
Weder gab es Panzer vor noch in der Stadt. Es gab keinen Befehl, auf Menschen zu schießen. Es waren weder Blutplasma noch Leichensäcke bereitgestellt worden. Nicht einmal eine »Stadthalle« gab es. Frei erfunden, vorgetragen vom Bundespräsidenten, wiederholt von anderen Festrednern und verbreitet von den Medien.
Für mich war die wichtigste Lehre aus den Vorgängen am 9. Oktober in Leipzig: Es müssen jetzt Befehle her, die garantieren, dass niemand mehr die Nerven verlieren kann. …
Sicher, die DDR hatte Feinde. Sehr starke sogar. Sie waren in diesen Tagen besonders aktiv. Sie standen in Verbindung mit bundesdeutschen Journalisten, die die Atmosphäre anheizten.
Das war seit Gründung der DDR so.
Doch wer waren die Leute auf der Straße? Waren das Feinde? Es waren Bürger unseres Landes, die die gegenwärtige Politik ihrer Führung kritisierten, darunter sehr viele SED-Mitglieder. Sie entzogen uns, der Führung, ihr Vertrauen. Wir durften sie nicht als Feinde abstempeln. …
Verdrehte Tatsachen und das Feindbild DDR
In den Vormittagsstunden des 13. Oktober stieg in Berlin-Schönefeld eine Sondermaschine vom Typ TU 154 in den Himmel und flog in Richtung Leipzig. An Bord befanden sich wichtige Entscheidungsträger für die Sicherheit der DDR: Wolfgang Herger, Leiter der Abteilung für Sicherheitsfragen des ZK, Generaloberst Fritz Streletz, Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates und Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung, Generaloberst Rudi Mittig, Stellvertreter des Ministers für Staatssicherheit, und Generaloberst Karl-Heinz Wagner, Stellvertreter des Ministers des Innern und Chef des Stabes der Deutschen Volkspolizei, und ich. Wir wollen mit der Einsatzleitung des Bezirks Leipzig, einem nachgeordneten Organ des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, über die Sicherung des friedlichen Verlaufs der Montagsdemonstration am 16. Oktober beraten.
Auf dem Leipziger Flugplatz begrüßte uns Generalleutnant Hummitzsch, der Chef der Bezirksverwaltung des MfS.
Er informierte, dass die Sicherheitsorgane seit dem 8. Oktober strikte Weisung hätten, sich bei politischen Protesten zurückzuhalten. Gegen 13 Uhr gab der 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung, Helmut Hackenberg … einen Bericht zur Lage in Leipzig.
Nach der Besprechung sagte ich Helmut Hackenberg: »Was es immer noch an anderen Befehlen geben mag, egal, von wem und welchen Rang oder Dienstgrad derjenige hat – es gilt ausschließlich, was wir besprochen haben.«
Mit dieser Weisung überschritt ich meine Befugnis. Ich wusste es, meine Begleitung wusste es, und die Leipziger Einsatzleitung war sich dessen ebenfalls bewusst. …
Als wir wieder mit dem Flugzeug in der Luft waren, sprach ich mit jedem einzeln: »Mit Erich Honecker wird es nicht weitergehen können. Das Politbüro wird darüber am Dienstag entscheiden müssen.«
Generaloberst Fritz Streletz darauf: »Ich bin auf die DDR vereidigt, nicht auf Personen.«
Im Verlauf unseres Gespräches informierte er, dass gegenwärtig die in der DDR stationierten sowjetischen Truppen wie gewohnt ihre Herbstmanöver durchführten. Besonders um Leipzig, Halle und Magdeburg seien große Einheiten disloziert.
Wenn sie in dieser angespannten Zeit mit ihren Panzern und anderem militärischen Gerät auf die Übungsplätze rollten, gab er zu bedenken, könnte das von der Bevölkerung falsch verstanden werden. Und interessierte politische Kräfte könnten dies als Anlass für Provokationen nehmen.
Wir vereinbarten, die sowjetischen Freunde zu bitten, in diesem Herbst in den Kasernen zu bleiben und die Objekte nicht zu Manövern zu verlassen.
Gegen 16 Uhr trafen Herger, Streletz und ich wieder im Haus des ZK ein. In meinem Arbeitszimmer diktierte Fritz Streletz meiner Sekretärin den Befehl Nr. 9/89 des Vorsitzenden des Nationalen Verteidigungsrates.
Meine Sekretärin schrieb und schluckte, sie hatte die Brisanz erfasst.
… Dann rief ich Honecker an und bat, dass er Streletz und mich empfängt.
Gegen 17 Uhr saßen wir in seinem Zimmer.
Streletz berichtete präzise und schnörkellos über die militärische Lage in Leipzig. Honecker hörte aufmerksam zu und machte sich Notizen. Der Generaloberst ließ allerdings keinen Zweifel daran, dass es sich in erster Linie nicht um eine militärische, sondern um eine politische Entscheidung handelt, die nunmehr getroffen werden musste.
… Nach längerer Diskussion unterschrieb Honecker schließlich den vorbereiteten Befehl. Darin hieß es unmissverständlich:
»Der aktive Einsatz polizeilicher Kräfte und Mittel erfolgt nur bei Gewaltanwendung der Demonstranten gegenüber den eingesetzten Sicherheitskräften bzw. bei Gewaltanwendung gegenüber Objekten auf Befehl des Vorsitzenden der Bezirkseinsatzleitung Leipzig. Der Einsatz der Schusswaffe im Zusammenhang mit möglichen Demonstrationen ist grundsätzlich verboten.«
Streletz informierte noch, dass die NVA außerhalb der Kasernen aktuell keine Manöver durchführen werde, um die Bürger nicht zu irritieren, was bei Honecker die Frage provozierte:
»Und was machen die sowjetischen Truppen?«
Streletz antwortete, sie beabsichtigten wie in jedem Herbst Manöver abzuhalten.
Darauf reagierte umgehend Honecker:
»Reden Sie mit Snetkow, dass seine Truppen in den Objekten bleiben.«
Gegen 18 Uhr rief ich über die WTsch-Leitung den sowjetischen Botschafter an. Wjatscheslaw Kotschemassow hatte zwar keinerlei Weisungsrecht für die sowjetischen Militärs, dennoch meinte ich ihn informieren zu müssen, dass Honecker einen Befehl erlassen habe, der den Einsatz bewaffneter Gewalt gegen die Demonstranten untersage. Ferner habe er Streletz beauftragt, dass dieser den Oberkommandierenden der sowjetischen Streitkräfte in der DDR, Armeegeneral Boris W. Snetkow, ersuche, die Herbstmanöver auszusetzen. »Ich bitte Sie, unseren Vorschlag in Wünsdorf zu unterstützen.«
Kotschemassow sagte zu.
So waren die Abläufe und die Zusammenhänge. Überrascht nahm ich später zur Kenntnis, dass die Medien verbreiteten, der Befehl »Bleibt in den Kasernen!« sei aus Moskau gekommen – auch um der DDR-Führung bewusst zu machen, dass diese, sofern sie beabsichtigte, Gewalt gegen die eigene Bevölkerung anzuwenden, dabei von den sowjetischen Truppen nicht unterstützt werden würde. Diese »Verweigerung« habe schließlich Berlin zum Gewaltverzicht genötigt …
Was für eine Verdrehung der Tatsachen! …
Zwanzig Jahre später veröffentlichte Altbundespräsident Richard von Weizsäcker »Der Weg zur Einheit«. Darin schrieb er: »Trotz ausdrücklicher Anforderung durch die Sicherheitskräfte der DDR blieben sowjetische Streitkräfte auf Befehl aus Moskau in ihren Quartieren.«
Woher nahm der Alt-Bundespräsident diese Information?
Ich schrieb ihm einen Brief. Mir sei »nicht bekannt, dass Personen mit Befehlsgewalt in den Sicherheitskräften der DDR die Hilfe sowjetischer Streitkräfte angefordert hätten«. Nicht ganz frei von Sarkasmus fügte ich an, dass ich den Verdacht nicht loswürde, »der DDR-Führung soll unbedingt der Wille zur Gewaltanwendung gegen die eigene Bevölkerung unter Hinnahme eines möglichen Blutbades unterstellt werden. Angenommen, die DDR-Führung hätte wirklich Gewalt anwenden wollen, dann hätte sie dazu keine sowjetischen Streitkräfte anfordern müssen.«
In der Überzeugung, dass Richard von Weizsäcker öffentliche Äußerungen genau abwäge, nähme ich an, »dass Sie zu Dokumenten oder Informationen Zugang haben, die mir als damals Verantwortlichem verborgen blieben. Ich wäre Ihnen daher sehr verbunden, wenn Sie mir mitteilen könnten, worauf sich die besagte Feststellung in Ihrem Buch stützt.«
Eine Antwort auf diesen Brief erhielt ich nie.
Am Sonnabend, dem 14. Oktober, bat mich Honecker am Abend zu sich nach Hause. Vor ihm lagen Karten von Leipzig auf dem Tisch.
Seine Fragen beunruhigten mich. … Zwar zweifle ich auch jetzt nicht daran, dass er unverändert keine Gewalt auf der Straße wollte, aber er glaubte offenbar, die Demonstrationen durch administrative Entscheidungen verhindern zu können.
In Honeckers offenkundiger Fehleinschätzung der Situation lag die Gefahr einer ungewollten Eskalation. …
Wir kamen am Montag im Arbeitszimmer des Innenministers zusammen. Dort bestand eine Fernsehverbindung nach Leipzig, so dass wir live die Demonstration verfolgen konnten. Gegen 15 Uhr stieß Erich Honecker zu uns, er hatte kurz zuvor sein Kommen telefonisch angekündigt. Honecker wirkte abgespannt und nervös. Er hielt sich an unsere Verabredung, keine eigenmächtigen, spontanen Entscheidungen zu treffen.
Als wir am Abend auseinandergingen, sagte Innenminister Dickel zu mir: »Ich hab in Spanien mit der Waffe in der Hand die Republik verteidigt. Ich würde das auch heute gegen jeden Aggressor tun – aber ich würde keine Waffe gegen unser Volk richten. Du hast meine volle Unterstützung.« Dieses Bekenntnis berührte mich sehr.
Während meines Prozesses vor dem Berliner Landgericht wurde Egon Bahr als Zeuge vernommen. Ich fragte ihn, ob es in der alten Bundesrepublik auch ein Feindbild gegeben habe.
»Selbstverständlich«, antwortete er. Ich fragte nach: »Und wie hieß dies?«
»Die DDR muss weg!«
Bahr widersprach nicht, als ich ergänzte: »Dieses Feindbild wurde nach 1990 in die Aufgabe umfunktioniert: An der DDR darf kein gutes Haar bleiben.«
Alle Militärs und Politiker der DDR, die in erster Linie die Gewaltlosigkeit im Herbst ’89 verantworteten, wurden nach 1990 mit Strafen belegt. …
So kam es, dass der Sekretär des Nationalen Verteidigungsrates der DDR, Fritz Streletz, der alle Dokumente für die Friedfertigkeit im Herbst ’89 ausgearbeitet hat, fünfeinhalb Jahre ins Gefängnis geschickt wurde und als Generaloberst der NVA heute eine Rente in der Höhe eines Stabsfeldwebels der Bundeswehr bezieht.
Auszug aus Egon Krenz' Buch »Herbst '89«, 1999 zuerst und 2014 aktualisiert mit 504 Seiten, neu erschienen im Verlag edition ost, Berlin. Zwischenüberschriften: Mitteilungen-Redaktion. – 2019 erschien im selben Verlag: »Wir und die Russen« von Egon Krenz: 304 Seiten, 16,99 Euro. Siehe dazu auch Friedrich Wolffs Äußerung in den Mitteilungen 9/2019.
Mehr von Egon Krenz in den »Mitteilungen«:
2019-10: Chinas Entwicklung, die niemandem schadet, aber allen hilft
2019-05: Gedanken zum Todestag Erich Honeckers
2018-11: Hochrüstung muss verhindert werden