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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

»De Appel is riep«? [1]

Prof. Dr. Siegfried Kuntsche, Uelitz

 

60 Jahre danach

 

1958 peilte der V. Parteitag der SED an, den Sozialismus zum Sieg zu führen und binnen weniger Jahre die wirtschaftliche Überlegenheit gegenüber der Bundesrepublik sichtbar zu machen. Für die Landwirtschaft galt es, die 1952 begonnene Zusammenführung der 800 Tausend Bauernwirtschaften in LPG zu vollenden, also auch auf dem Lande durchgehend sozialistische Produktionsverhältnisse durchzusetzen und zugleich mit mehr Agrarerzeugnissen wachsenden Ernährungsansprüchen zu genügen. Zielmarke war das Jahr 1963, spätestens 1965. Die DDR befand sich in einer Konkurrenzsituation zur BRD. Dort führte die agrarwirtschaftliche Modernisierung zur rapiden Steigerung von Produktivität und Effektivität unter Verdrängung vieler kleinerer Bauern und zur Stärkung großbäuerlicher Höfe. Diesem Entwicklungspfad setzte die SED das Konzept des Zusammenschlusses der Bauern in Produktionsgenossenschaften entgegen. Sie folgte damit Überlegungen von Friedrich Engels in seiner Schrift »Die Bauernfrage in Frankreich und Deutschland« (1894). In der UdSSR hatte Stalin mit Terror die Bildung von Kolchosen erzwungen. Den Bestrebungen der SED lagen jedoch folgende Axiome zugrunde: Gemeinsam mit den Bauern den Sozialismus aufbauen, Bauern für den freiwilligen Zusammenschluss unter Bewahrung des Bodeneigentums gewinnen durch konkrete Beispiele wirtschaftlicher Überlegenheit, steigende Produktionsleistungen auf diesem Wege erreichen. Bauern sollen Bauern bleiben und sich durch den Aufbau genossenschaftlicher Großbetriebe eine Zukunft sichern.Die Gewinnung der Bauern für den Sozialismus galt als komplizierteste Aufgabe.

Nach dem Parteitag drängte die SED-Führung die Bezirks- und Kreisleitungen, die sozialistische Umgestaltung als Schwerpunktaufgabe zu sehen und gemeinsame Agitationseinsätze aller Parteien und Organisationen zu organisieren. Die Kreise Gräfenhainichen und Eilenburg kamen noch vor Jahresende der Vollgenossenschaftlichkeit nahe bzw. erreichten diese sogar. Das ZK-Plenum Ende Dezember 1959 gab noch kein Startsignal. Mitte Januar kam aber ein Paukenschlag aus Rostock: Die SED-Bezirksleitung beschloss, umgehend Agitationsgruppen mit 500 Mitarbeitern in die Dörfer zu schicken und auch Akteure der anderen Parteien und Organisationen sowie aus Patenbetrieben und LPG selbst dafür zu gewinnen. Bis zum Beginn der Frühjahrsbestellung sollten alle Bauern in einer LPG sein. »De Appel is riep« – ein Machtwort, das der SED-Bezirkssekretär Karl Mewis widerstrebenden Bauern in einer Versammlung zurief – wurde bald Aktionslosung. Am 4. März meldete der Bezirk, die Vollgenossenschaftlichkeit sei erreicht. Neubrandenburg folgte am 12. und Schwerin am 29. März. Am 14. April endete die Kampagne im Bezirk Karl-Marx-Stadt. Bis auf 18.821 Hofbesitzer waren nunmehr alle Bauern in den LPG. Es gelangten 266.136 bäuerliche Höfe in den Genossenschaftssektor. Das waren zwei Drittel aller Höfe, die die Jahre seit 1952 überdauert hatten. Im Unterschied zu den Vorjahren handelte es sich um wirtschaftsstabile Höfe. Diese hatten es mit immensem Fleiß der ganzen Familie, auch mit Traktorenhilfe der MTS, nicht zuletzt aber dank des gesicherten Absatzes der Agrarprodukte und der lukrativen »Freien Spitzen« (Produkte über das Ablieferungssoll hinaus zu höheren Preisen) zu einigem Wohlstand gebracht. Hatten 9.500 LPG im Vorjahr bestanden, so waren es nun 19.000 Betriebe, davon 13.000 vom Typ I und II. In einem Drittel der Gemeinden existierten zwei bis drei LPG Typ I, in den meisten zudem eine LPG Typ III. Die LPG Typ III hatten eine Durchschnittsgröße von 357 Hektar, die LPG Typ I/II 154 Hektar. Nur vier Prozent aller LPG entsprachen den damaligen Vorstellungen von einer optimalen Betriebsgröße mit mehr als 1.500 Hektar.

In einer Regierungserklärung am 25. April 1960 äußerte Walter Ulbricht, »dass nunmehr auch in der Landwirtschaft die Grundlagen des Sozialismus geschaffen sind«.

Das Dilemma: Widerstrebende Bauern

Nach dem Startsignal des ZK der SED am 27. Januar 1960 begann eine Massenaktion. Straff organisierte Agitationsgruppen gingen in die Dörfer und warben in Gesprächen für den LPG-Beitritt. Die übergroße Mehrheit der Bauern sträubte sich – auch wenn die Agitatoren fundiert argumentierten: Gemeinsam höhere Leistungen erreichen, die Arbeit erleichtern und die Lebensverhältnisse verbessern. Nicht wenige verweigerten jegliches Gespräch. Die Gegenreden der Bauern und die Ursachen einer ablehnenden Haltung waren längst bekannt: »Warum eintreten, mir geht’s doch gut«; »Jetzt, wo man wieder was Eigenes geschaffen hat, möchte ich nicht in eine LPG« [Neubauern];  »Ich will freier Bauer bleiben« [Altbauern mit ererbten Höfen]. Mit Blick auf ungeordnete Verhältnisse in einer LPG oder auf LPG TYP III mit schwachen Wirtschaftsleistungen wurde geäußert: »Kumpanei ist Lumpanei«.

Die Agitationstrupps waren wochenlang in den Dörfern. Wie die Einsätze abliefen, zeigen Tagebuchnotizen eines Akteurs. Siehe Aufzeichnungen eines Lehrers im Kreis Zossen in der Beilage. Was Bauern empfanden, spiegelt sich im Brief einer Bäuerin an ihre Tochter: [2] »Heute morgen schreibe ich Euch aus einem besonderen Grund. Ich weiß ja nicht, wie es in Eurem Bezirk aussieht. Hier haben sie sich ja vorgenommen, alle in die LPG zu bekommen und am liebsten noch im März. Ihr müsstet einmal durch die Dörfer gehen, überall verstörte Gesichter, und die Tränen, die in dieser Zeit geweint werden, kann keiner zählen. Ich habe mich wieder zusammengerissen wegen Vater, er sah so elend aus. Die Grimmer Polizei hat sich das Ziel gesetzt, die Schönenwalder zu übertölpeln, Verzeihung, zu überzeugen. Im ganzen Februar haben wir keine Ruhe mehr bekommen. Wenn sie sonntags mit 18 Mann ankommen, will das schon was heißen. Gestern Abend waren sie wieder bei uns.« 

Die Schaffung von Präzedenzfällen und nachfolgend eine breite Mobilisierung führte jedoch nicht zum gewünschten Ergebnis. Das dürfte erklären, weshalb ab März 1960 zunehmend Zwangsmaßnahmen einsetzten. Waren vorher Bauern zur Einschüchterung einzeln ins Gemeindebüro gerufen und bedrängt worden, so kamen nun Volkspolizisten und Staatsanwälte ins Dorf und drohten mit Verhaftungen. Verwaltungsstellen kündigten eine Erhöhung des Ablieferungssolls an. Widersetzliche Bauern wurden öffentlich angeprangert. Lautsprecherwagen fuhren ununterbrochen durchs Dorf. Dörfer wurden geradezu belagert. Schließlich wurde jedem klar: Es ist der Wille des Staates, alle bis zur Frühjahrsaussaat in die LPG zu bringen. Also Zustimmung unter diesem Druck: »Wenn schon LPG, dann gemeinsam«.

Kein Zweifel: Vollgenossenschaftlichkeit durch staatlichen Zwang entgegen der im LPG-Gesetz vom 3. Juni 1959 zugesicherten Freiwilligkeit. Dies war krasser Ausdruck eines obrigkeitsstaatlich geprägten Systems. Kaum ein Bauer wird die Ereignisse als »Sozialistischen Frühling« (Leitartikel des SED-Organs »Neues Deutschland« am 20. März 1960) empfunden haben, geschweige denn als »endgültige Befreiung der Bauern« (Regierungserklärung vor der Volkskammer der DDR am 25. April 1960).

Das in Zeiten des Kalten Kriegs entstandene Schlagwort »Zwangskollektivierung« hat sich eingebürgert. Es entstand im Kalten Krieg zur Diffamierung der DDR. Man sollte sachlich korrekt von Vergenossenschaftung sprechen.

Es bleibt die Frage, warum die frühestens für 1963 geplante Vollgenossenschaftlichkeit nun schon für 1960 angepeilt wurde, obwohl die notwendigen Voraussetzungen noch fehlten: durchweg prosperierende Agrargenossenschaften und materiell-technische Investitionen, die einen starken Produktionsanstieg erwarten ließen. Am plausibelsten ist, einen Zusammenhang mit der bevorstehenden Pariser Gipfelkonferenz im Mai 1960 und dem »Deutschlandplan des Volkes« zu sehen: Kraftzuwachs der DDR bei Verhandlungen über die Zukunft Deutschlands. Vielfach stellten Agitatoren den Bauern die Frage »Bist Du für den Frieden?«

Folgen und Langzeitwirkungen

Die Republikflucht stieg wieder an. 13.000 Bauern verließen ihre Höfe und gingen in die Bundesrepublik. Viele der neuen LPG-Mitglieder zögerten die Aufnahme der gemeinsamen Arbeit so lange wie möglich hinaus: »LPG Typ I, jeder macht Seins«. Es gab zahlreiche LPG-Austritte, die nur nach massivem Druck zurückgenommen wurden. 1961/62 trat ein Rückschlag in der Marktproduktion ein, der sich nicht nur durch Ertragsausfälle infolge schlechter Witterung erklärte. Butter und Fleisch mussten zeitweise wieder rationiert werden.

1960 vor den Kopf gestoßen, fanden Zehntausende erst dann eine produktive Einstellung zur LPG, als sie an deren Gestaltung teilhatten. Nach einer Konsolidierungsphase setzte in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ein Produktionsanstieg ein, der ohnegleichen war und später nie wieder erreicht wurde. Das war vor allem dadurch möglich, dass die Genossenschaftsbauern zunehmend auf einer neuen materiell-technischen Basis wirtschaften konnten, nämlich mit zugeführten Produktionsmitteln aus der Industrie. Durch die berufliche Qualifizierung vor allem auch der Genossenschaftsbäuerinnen wuchs das Können, verbunden mit gesellschaftlichen Einsichten und größerem Selbstvertrauen. Eine große Rolle spielte die jährliche Leistungsmesse in Leipzig-Markkleeberg, die agra. Das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖSPL) und ein neues Preissystem für Agrarerzeugnisse gab starke Impulse für eine Leistungssteigerung. Durch die Bauernkongresse auf Kreis-, Bezirks- und Republik-Ebene und die Wahl von Landwirtschaftsräten mit Beschlusskompetenz fühlten sich LPG-Bauern in agrarwirtschaftliche Entscheidungen einbezogen.

Die LPG konsolidierten sich, Genossenschaften schlossen sich zusammen, und es bildeten sich stabile, leistungsfähige Betriebe der Pflanzen- und Tierproduktion heraus. Entsprechend den Leistungen wuchsen das familiäre Einkommen und die genossenschaftlichen Fonds mit Möglichkeiten zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Erstmals in ihrem Leben hatten Bauern und Bäuerinnen eine geregelte Arbeitszeit und Urlaub.

Alles in allem: Man sah in den meisten Dörfern, dass es vorwärts ging. Die SED gewann Vertrauen zurück. Erfolgserlebnisse überlagerten nun die Schrecknisse von 1960. Die meisten wollten nicht mehr an ihre schmerzlichen Erlebnisse erinnert werden.

Bei einer Zeitzeugenbefragung in Wittenberg und Umgebung äußerte sich Frau Elli I. Mitte der 90er Jahre wie folgt: [3] »Wir mussten ja als Einzelbauern auch von früh bis abends arbeiten. 1957 ist meine Tochter zu früh jeborn, weil ich meinem Mann jeholfen hatte, 30 Sack Kalk mit aufjeladen. Das brauchten wir nich mehr in der Genossenschaft. Wir sind denn nachher auch in de Jenossenschaft einjetreten, und denn hab ich mir nach Jahren jesacht, meine Güte, wie dumm bist de denn man jewesen?! Du kannst jar nich besser leben als da. Die Arbeit wurde leichter. Wir hatten ärztliche Betreuung, da konnte jede Frau zum Arzt gehen, hatten Haushaltstag und Urlaub. Wenn ich so zurückdenke: Ich bin nich freiwillig in de Genossenschaft jegang'n, aber es waren meine besten Jahre.«       

 

Anlage: Manfred Musal, Aus dem Tagebuch eines Agitators im »sozialistischen Frühling«, seinerzeit Lehrer an der Polytechnischen Oberschule Ludwigsfelde, Kreis Zossen. [4]

Freitag, 29. Januar 1960: Nun auch bei uns im Kreis Zossen Kurs auf die Vollgenossenschaftlichkeit. Arbeitsgruppen für die Hauptdorfbereiche gebildet. 80 Genossen für 20 Bereiche.

Montag, 1. Februar: Als Vertreter des Rates des Kreises mit fünf Genossen vom Industriewerk Ludwigsfelde und Genossen Kietz, Traktorist im VEG Christinendorf, für Thyrow eingeteilt. Leiter der Gruppe: Heinz Walther, 2. Sekretär der SED-Kreisleitung Zossen. Schwierige Aufgabe: traditionelles Altbauerngebiet.

Mittwoch, 3. Februar: Treffpunkt in Thyrow aufgebaut. Anfang in Christinendorf gemacht und Dorfkomitee für die sozialistische Umgestaltung zu unserer Unterstützung gebildet.

Sonnabend, 6. Februar: Unsere Hauptmethode – das individuelle Gespräch mit den Bauern. Liste der anzusprechenden Bauern zusammengestellt, Reihenfolge festgelegt. Begonnen, jeden einzelnen aufzusuchen. Immer wieder die altbekannten Argumente: »LPG, warum nicht, aber ich will nicht der erste sein.« Und: »Warum LPG, mir geht's doch auch so gut!« Ständig Hinweise auf schlechte LPG in anderen Orten. Wenig Unterstützung durch örtliche Funktionäre und Gemeindevertreter. Der VdgB-Vorsitzende: »Von mir könnt ihr alles verlangen, aber nicht, dass ich mit werben gehe. Ich halte ja selbst nichts vom Eintritt in die LPG.« Im Bezirk Rostock große Wende. Im Kreis Jüterbog steht schon das Rostocker Beispiel auf der Tagesordnung, Und bei uns? Leben im Kreis Zossen andere Menschen?

Ende Februar: Endlich! Nach langen Gesprächen Georg Reuther aus Klein Beuthen für die LPG gewonnen. Der erste werktätige Bauer seit Beginn unserer Tätigkeit. Guter Mann, besitzt Ansehen und Autorität. Beginnt bei uns die Wende?

Donnerstag, 4. März: Rostock ist vollgenossenschaftlich. Wir diskutieren und diskutieren! Immer noch kein Durchbruch.

Montag, 7. März: Früh Gruppe aus Rostock bei uns eingetroffen. Macht mit uns in Thyrow weiter. Karl aus Rostock meint: »Heute abend ist Thyrow vollgenossenschaftlich.« Das ist vielleicht ein Optimist!

Freitag, 11. März: Karl behielt nicht ganz recht, aber heute haben wir es geschafft! Thyrow, Klein und Groß Beuthen sind vollgenossenschaftlich. Nur Kerzendorf  steht noch aus – 24 Einzelbauern. Morgen werden wir dort beginnen.

Sonnabend, 12. März: Zuerst einmal Einladung an alle, ins Kerzendorfer Gemeindebüro zu kommen. Es läuft auch ganz gut an. Einige treten gleich der LPG bei.Aber dann geht's los. Tour von Hof zu Hof beginnt. Anfang bei Maschulek. Tür und TOR verschlossen. Seine Frau öffnet. Er ist im Wald. Heftige Reden. Unsere Devise: »Ruhig bleiben«. Dennoch kein Erfolg. Recht erregte Auseinandersetzung mit Alfred Peter. Ausgesprochen provokatorisch! Genosse Walter, unser Brigadier, verliert die Ruhe, bietet Ohrfeigen an. Otto Müller will erst noch mit seiner Frau sprechen. Prill senior ist aus gesundheitlichen Gründen verhindert. Aussprache mit Sohn Heinz, Leiter der Freiwilligen Feuerwehr. Verweist auf seine gute ehrenamtliche Arbeit. Will mit der LPG aber nichts zu tun haben. Emil Kuhle, Kirchenratsvorsitzender, möchte zunächst mit seiner Frau sprechen. Will am Sonntag zu uns kommen. Na gut. Hans Felgentreu, tüchtiger junger Bauer, fordert 500 Mark garantiertes Monatseinkommen, sonst kein Eintritt. Er verdiene ja jetzt schon mehr. Unmöglich! Alles lassen wir uns auch nicht einreden. Unsere Rechnung: summa summarum ca. 300 Mark Reineinkommen pro Nase auf dem Hof, mehr nicht. Schmeckt ihm gar nicht.

Sonntag, 13. März: Morgenbesuch bei Otto Müller. Mit Frau und Tochter in der Küche. Die Tochter – Frau vom Chef der Feuerwehr. Otto Müller ist die Ruhe selbst. Die beiden Frauen sprechen um so mehr, Ergebnis gleich Null. Völlig veränderte Lage im Dorf. Neues Argument: »Eintritt ja, aber nur, wenn das ganze Dorf mitmacht«. Kann uns nur recht sein. Herr Fuchs, der stellvertretende Bürgermeister: »Ich verstehe das nicht. Wir sollten doch endlich alle an einem Strang ziehen. Ist es denn wirklich nötig, dass ein Bauer nachts im Strohschober schläft, um nicht zu einer Entscheidung gedrängt zu werden?« Das kann nur Karl Maschurek sein. Am Tag im Wald, nachts im Stroh! Bisher haben wir nicht ein Wort mit ihm gesprochen. Am Vormittag vier oder fünf Beitrittserklärungen – aber mit Vorbehalt: »bei Vollgenossenschaftlichkeit«. Im Gemeindebüro erscheint Ottilie Schädlich. Besitz: ein Hektar von früher und zwei Hektar Bodenreformland. Tränen. Wir lassen uns beeindrucken. Schon strahlt sie. Trotzdem keine Unterschrift. Gegen Mittag kommt Emil Kuhle. Sehr in Eile. Will unbedingt nach Berlin zur Präsidialkanzlei fahren, um Anspruch auf Unfallrente zu regeln. Genosse Saretz, Beauftragter der Bezirksleitung Potsdam, will die Sache klären. Nutzt nichts. Kuhle beharrt auf der Reise. Nach Rückkehr könnten wir weiter reden. Gastwirt Schmidt schreibt Beitrittserklärung aus mit dem Zusatz: »nach der Ernte«. Nachmittags: 18 Unterschriften liegen vor, 7 fehlen noch. Gegen 17 Uhr kommt Fritz Lehmann. Eintritt ja, aber erst am 1. Juli! Lässt sich nicht umstimmen. Erklärt: Was er einmal gefordert habe, davon gehe er nicht mehr ab. Erzählt ein Beispiel von seinem Hausbau. Der Maurer hatte am Giebel einen Stein schief aufgelegt. Fiel sofort ins Auge. Als der Maurer abrücken wollte, verlangte Lehmann: »Nehmen Sie den Rucksack noch mal ab und rücken Sie den Stein gerade, sonst gibt's kein Geld.« Der Maurer tat es und konnte sich dann sogar noch zusätzlich den Rucksack voll Kartoffeln packen. Meine Antwort: »Mir geht es jetzt genauso. Ihr Eintrittsdatum 1. Juli  ist der Stein, der mir ins Auge fällt. Nehmen Sie doch den Rucksack noch mal ab, Herr Lehmann, und rücken Sie den Stein gerade.« Lehmann unterschrieb mit Zusatz: »vom Zeitpunkt an, wo Kerzendorf vollgenossenschaftlich«.

Montag, 14. März: Frau Dreke erbittet sich noch Bedenkzeit bis 13 Uhr. Ihr Problem: »Was wird mit der Versorgung im Haushalt lebender Altenteiler?« Genosse Saretz kann positiven Bescheid geben. Sie unterschreibt. Prill, Kuhle und Maschurek sind nach Berlin gefahren. Wahrscheinlich zu »höheren« Stellen, um sich zu erkundigen. Auch Otto Müller wartet auf Bescheid aus Berlin. Sein Schwiegersohn Heinz ist ja mit bei den »Berlinfahrern«. 19.30 Uhr. Die Berlinfahrer sind zurück. Wollen um 20.45 Uhr im Gemeindebüro sein. Ottilie Schädlich erklärt ihren Beitritt. 23 Uhr. Endlich: Die letzten unterschreiben.

Dienstag, 15. März: Kerzendorf hat seine LPG Typ III. Heinz Prill übernimmt den Vorsitz.        

 

Anmerkungen:

[1]  Ausführliche Fassung siehe »Sozialistischer Frühling 1960?«. In: Kuntsche, Beiträge zur Agrargeschichte der DDR. Van Derner 2015, S. 307-333.

[2]  Erika Sophie Schwarz, Von ganzen Herzen Bäuerin. Eine Familien- und Dorfchronik in Briefen, geschrieben von 1952 bis 1993. Schwerin 1999, S. 75.

[3]  Christel Panzig, Frauen auf die Traktoren oder in den Kälberstall? Chancen und Defizite beruflicher Entwicklung von Frauen in den LPG. In: Ilona Buchsteiner/Siegfried Kuntsche (Hg.), Agrargenossenschaften in Vergangenheit und Gegenwart. Rostock 2004, S. 132-133.

[4]  Quelle: Siegfried Kuntsche/Horst Matschke/Joachim Piskol (Red.), Wie wir angefangen haben. Erinnerungen, Berlin 1985, S. 273-276.

 

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2019-06: 60 Jahre ist es her – das Gesetz über die landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften vom 3. Juni 1959