Das Leben ist schön
Dr. Ilja Seifert, Berlin
Zum Welt-Downsyndrom-Tag, 21. März
Wenn er seine Diabolo-Rolle auf dem Seil zwischen den beiden Dirigentenstäben jongliert, spart das Publikum nicht mit Applaus. Oskar Sch. ist ein Künstler. Er tritt auf großen Bühnen ebenso selbstsicher auf wie bei Straßenumzügen oder vor Fernsehkameras. Oskar redet nicht viel. Er zeigt, was er kann. Die Diabolo-Rolle läuft über das Tragband. Sie schnellt mehrere Meter hoch über Oskars Kopf, um geschickt aufgefangen zu werden, bevor sie den Boden erreicht. Sie umkreist den Künstler, scheint – in der Luft schwebend – vor seinem Gesicht vorbeizulaufen. Oskar weiß, was er kann. Fast huldvoll, jedenfalls selbstbewußt nimmt er den Beifall entgegen. Er hat ihn sich verdient.
Natalie D. verfolgt einen klaren Lebensentwurf. Die junge Frau will Schauspielerin werden, eine Familie gründen und als Persönlichkeit des öffentlichen Lebens zeigen, was ihr alles möglich ist. Überall verbreitet sie die eine Botschaft: Das Leben ist schön! Natalie D. ist eine Kämpferin. Sie kämpft gegen stigmatisierende Gentests. Eine ihrer Eigenschaften besteht darin, daß ihr 21. Chromosom dreibeinig ist: Trisomie 21 wird auch Down-Syndrom genannt. Syndrom klingt nach einer medizinischen Diagnose. Natalie fühlt sich aber ebensowenig krank wie Oskar Sch. oder Arthur H. Diese Trisomie empfinden sie nicht als »Abweichung« von irgendeiner »Norm«. Für sie ist das ein Teil ihrer individuellen genetischen Ausstattung. So wie die Augenfarbe oder die Schuhgröße.
Vielfalt statt »Norm für Mensch«
Diese Menschen werden »geistig behindert« genannt. Ob gewollt oder ungewollt: Da klingt Abwertung mit. Da wird von einer »Normausstattung« mit genetischen Merkmalen ausgegangen, die »Abweichungen« als »Defizite« identifiziert. Gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte kommt das bei Betroffenen als Bedrohung an. Von stigmatisierender Abwertung ist nur ein kleiner Schritt zu ausgrenzender Diskriminierung. Und in Erinnerung an die staatlich gelenkte »Euthanasie« durch die Nazis ist auch der Weg zu »Lebenswert«-Kategorien nicht weit. Die uns gegenwärtig peinigende Corona-Quarantäne zeigt ja ganz praktisch, daß schon wieder »Triage«-Kriterien definiert werden. Und welche Ergebnisse kommen heraus? Gerettet werden – im Notfall – diejenigen mit den besten Überlebenschancen! Nicht die am schwersten Kranken, sondern die Fittesten. So ist es auch kein Wunder, daß bei den Impfprioritäten Menschen mit Behinderungen und hohem Assistenzbedarf überhaupt nicht vorkommen. Sollten also irgendwann Beatmungsgeräte wirklich knapp werden, sind es genau diese, denen man die erforderliche Behandlung zuerst verweigert. Drastischer kann man kaum ausdrücken, wie brutal jede »Lebenswert«-Diskussion humanistische Werte über Bord wirft. Neoliberales Kosten-Nutzen-Denken ist für all diejenigen lebensgefährlich, deren Bedarf an Solidarität und Gemeinsinn höher als beim Durchschnitt liegt. Die Alternative heißt: Nachteilsausgleich, nicht Teilhabe-Entzug.
Nachteilsausgleich statt Teilhabe-Entzug
Da klingt es in den Ohren so mancher Zeitgenossen ziemlich trotzig, daß Natalie D. sich ein Kind mit Down-Syndrom wünscht. Aber sie findet ihr Leben – wie gesagt – schön. Das Gleiche möchte sie ihrem Kind bieten. Wer kann das nicht verstehen?
Arthur H.s Berufswunsch steht schon lange fest. Er will mit alten Menschen arbeiten. In Einrichtungen erfreut sich der Mittzwanzigjährige bei Praktika und sonstigen Gelegenheiten großer Beliebtheit. Sowohl die Heimbewohner als auch die Kolleginnen und Kollegen schätzen seine Fähigkeiten sehr. Sie schätzen ihn sehr. Seine Persönlichkeit. Es zeigt sich, daß seine Methode von Streßbewältigung die Stimmung im gesamten Heim-Kollektiv zu verbessern geeignet ist. Es liegt nur an der Leitung, ihn fähigkeitsentsprechend einzusetzen. Für wen gilt das eigentlich nicht? Bei einem Menschen, dessen Leistungsvermögen a priori als »vermindert« eingestuft wird, denkt man aber eher daran. Es wäre mehr als wünschenswert, das zukünftig auf alle Arbeitende zu übertragen.
Und in den Ohren so mancher Behinderten-Verwalter klingt es ziemlich trotzig, wenn Oskar als Künstler angesehen werden will und Gage statt Werkstatt-Entgelt verlangt. Inzwischen gibt er seine Erfahrungen auch weiter. Er arbeitet als Trainer jüngerer Interessierter. Aber Nachteilsausgleiche sind an den Status »schwerbehindert« und »arbeitnehmerähnlich« gebunden. Als wäre er ein »menschenähnliches Wesen«!
Immerhin gibt es schon seit Jahrzehnten Studien – z.B. großer Konzerne in den USA –, die auch im verarbeitenden Gewerbe oder in Verwaltungen nachweisen, daß die Produktivität eines Arbeitskollektivs steigen kann, wenn eine sogenannte »leistungsgeminderte« Person dabei ist. Und auch die allgemeine Zufriedenheit, das individuelle Wohlbefinden innerhalb des Produktionsprozesses nimmt zu. Diversität ist also sogar wirtschaftlich attraktiv.
Einfach leben statt lebenslanger Therapie
Die drei jungen Menschen, von denen ich hier schreibe, können genauso »nervig« sein wie ich. Auch sie unterliegen schwankenden Launen. Auch ihnen sind weder Eitelkeit noch sonstige Fehlentscheidungen fremd. Wie sollte das auch anders sein? Sie sind nicht besser als Du oder ich. Aber auch nicht schlechter. Ihr Leben findet nicht unter ärztlicher Aufsicht oder der Ägide lebenslanger »Therapie« statt. Nein, sie leben einfach. Kurz nach der Geburt wurde eine Trisomie diagnostiziert. Aber diese Diagnose ist nicht aussagekräftiger als daß man blaue Augenfarbe oder großes Längenwachstum diagnostiziert. Auch diese Eigenschaften können – und sollen – nicht wegtherapiert werden. Sie gehören zu den individuellen Merkmalen der jeweiligen Person. Na und?
Den 21. März begehen wir als Welt-Downsyndrom-Tag. Warum eigentlich? Wo ich doch gerade darlegte, daß die Kenntnis dieser Diagnose für die Betroffenen keine wirklich nützlichen Konsequenzen hat.
Doch! Leider hat sie gewaltige Konsequenzen. Vor allem die, daß derartiges Leben immer weniger stattfindet. Vorgeburtliche Diagnostik sondert schon seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert monogenetische »Gen-Abweichungen« – zu denen eben auch Trisomie 21 gehört – rigoros aus. Das nährt die Illusion, daß Leben mit Behinderungen zukünftig nicht mehr sein müsse.
Wir brauchen den Downsyndrom-Tag also als Mahnung. Es sollte nicht um »Optimierung« von Menschen gehen, sondern um die freie Entfaltung der jeweiligen individuellen Fähigkeiten. Es geht um die Beseitigung von Barrieren und das Überwinden von Vorurteilen. Das gilt nicht nur für die »Starken«. Es gilt für Jede und Jeden.
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2020-04: Ein sittenwidriger Vergleich
2019-09: Lebens(un)wert?