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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Das »Grandola«-Signal

Dr. Hartmut König, Panketal

 

Zum 50. Jahrestag der Nelkenrevolution in Portugal

 

Am 25. April 1974 gab ein Lied des bekannten Dichters, Komponisten und Sängers José Afonso das entscheidende Signal für die Erhebung oppositioneller Militärkräfte in Portugal. Dieses »Grandola, vila morena«, im Jahre 1964 für den städtischen »Musikver­ein Arbeiter-Brüderlichkeit« im Stil des für den Alentejo typischen Wechselgesangs geschrieben, war da längst ein Lied des Volkes. Aber in jener Nacht wurde es zum Gas­senhauer der Nelkenrevolution, die die verhasste Salazar/Caetano-Diktatur stürzte. Kurz nach Mitternacht hatte der Sender Rádio Renascença den Song über die »braun­gebrannte Stadt, Heimat der Brüderlichkeit« zweimal hintereinander abgespielt. José Afonso, der verbotene Künstler, sang sein Lied, das auch verboten war, denn Reizwörter wie guaidade (Gleichheit) oder fraternidade (Brüderlichkeit) aus dem Ketzermund hat­ten genügt, es auf den Index zu setzen. Nun erklang es als Weckruf zum bewaffneten Widerstand. In den frühen Morgenstunden, als Kämpfer der revolutionären Bewegung der Streitkräfte (MFA) in Lissabons Zentrum vorrückten, säumten Tausende Hauptstäd­ter die Straßen, schwangen sich auf die Militärfahrzeuge und steckten hier - wie überall im Land - den Aufständischen Blumen der Saison in die Gewehrläufe: rote Nelken. Die Revolution erhielt so ihren Namen.

Die Diktatur des »Estado Novo«

Gestürzt wurde die Diktatur des »Estado Novo« (»Neuer Staat«), jenes repressiven Staatskonstrukts, das Portugals neuer Ministerpräsident Salazar im Jahre 1932 instal­liert hatte. Salazar war eine Kreatur des Militärregimes, mit dem der Putschistengeneral Carmona seit 1926 das Land regierte. Der aus einfachen Verhältnissen stammende und als Ziehkind der katholischen Kirche exklusiv ausgebildete Salazar avancierte unter Carmona zum Finanzminister und erhielt von ihm unbeschränkte Handlungsvollmacht. Bereits in dieser »Finanzdiktatur« brauchte er auf Parteien oder Gewerkschaften keine Rücksicht zu nehmen. Das schärfte den Despotismus, mit dem er später als Premiermi­nister, der Unterstützung einer reaktionären Dreifaltigkeit von Kirche, Armee und Groß­grundbesitzern gewiss, das Land 36 Jahre lang regieren würde.

Der bereits bestehenden Pressezensur folgten ein Streikverbot sowie die Einschrän­kung der Versammlungsfreiheit. Nach dem unverkennbaren Vorbild faschistischer Orga­nisationen in Deutschland wie der SA und der Hitlerjugend wurden Milizen sowie ein Jugendverband aufgebaut. Parlamentarier konnte in Portugals Einparteiensystem nur werden, wer Salazars »Nationaler Union« angehörte. Andere Parteien waren verboten. Oppositionelle wurden von der geheimen Staatspolizei PVDE (seit 1945: PIDE) verfolgt, eingekerkert und ermordet. Mit dem spanischen Franco-Regime war Salazar im »Bloco Ibérico« solidarisch verbunden. Im zweiten Weltkrieg ging Portugal zu den Alliierten und den faschistischen Achsenmächten auf gleiche Distanz oder – je nach Auslegung – Nähe: Rüstungsrelevante Rohstoffe für Hitlerdeutschland, Flugplätze und Häfen auf Madeira sowie den Azoren für anglo-amerikanische Truppen. In der Nachkriegszeit stell­te Salazars blutige Diktatur für die antisowjetische Westphalanx kein Hindernis dar, Portugal als Gründungsmitglied in die NATO aufzunehmen. Die geostrategische Bedeu­tung des Landes und die antikommunistische Expertise seiner Führung galten als exzel­lente Empfehlung. Mit derselben Wertschätzung zeichnete die alte Bundesrepublik Salazar 1953 mit dem Großkreuz ihres Verdienstordens aus.

Militärs an der Seite des Volkes

Waren ihre Besitzungen in Afrika und Asien von der kleinen iberischen »Herrennation« allzu lange als Unterpfande vermeintlicher Weltgeltung kujoniert worden, wurde das Salazar-System ab 1961 in aufwändige Kolonialkriege verwickelt. Besonnene Kräfte in der Armee, darunter der konservativ orientierte General Antonio de Spinola, gingen angesichts der Malaise der portugiesischen Gesellschaft, die durch die ruinösen Kriegs­aufwendungen nur verstärkt wurde, auf Distanz zu Salazar. Als der Diktator 1968 eine Gehirnblutung erlitt, rückte Marcelo Caetano als Regierungschef nach, ohne dass sich an der repressiven Ausrichtung des Staates oder seiner wirtschaftlichen und sozialen Dysfunktion Wesentliches änderte. Portugal hatte das geringste Pro-Kopf-Einkommen, die höchste Säuglingssterblichkeit, das niedrigste Bildungsbudget und folglich die erschreckendste Analphabetenquote unter den Ländern Westeuropas. Zugleich aber die höchsten Militärausgaben.

1974 setzte General Spinola mit seinem Buch »Portugal und die Zukunft« ein Ausrufe­zeichen, worin er sein Land in weitgehender politischer und wirtschaftlicher Isolation beschrieb und die Einstellung der Kolonialkriege forderte. Sie waren nicht zu gewinnen und kosteten doch Tausende Menschenleben sowie die Hälfte des Staatshaushaltes. Die Analyse des Generals hatte starken Einfluss auf die sich innerhalb der Streitkräfte formierende antidiktatorische MFA. Caetano, der den Ergebenheitsverlust der Truppe in sein Regime spürte, organisierte eine Devotionsversammlung des höheren Offiziers­korps, der Spinola und Generalstabschef Francisco da Costa Gomes demonstrativ fern­blieben. Beide wurden ihrer Ämter enthoben. Gerüchte über eine bevorstehende Inhaf­tierung oppositioneller Militärs beschleunigten den Aufstand. Caetano, der sich bei Anbruch der Erhebung in einer Polizeikaserne verschanzt hatte, übergab, bevor er sich nach Brasilien absetzte, die Macht an General Spinola, um sie nicht »der Straße zu überlassen«. Der Sieg aber tanzte auf den Straßen und Plätzen, MFA und Volk vereint in einer glücklichen Stunde der Geschichte.

Der Funke wird eingehegt

Bei den Strömungsauseinandersetzungen innerhalb der MFA, in der revolutionär-demo­kratische und bürgerlich-restaurative Gesellschaftsoptionen miteinander rangen, gelang es Ministerpräsident Vasco Goncalves während seiner einjährigen Regierungszeit (Juli 1974 – September 1975), mit einer Agrarreform sowie der Nationalisierung relevanter Industrieunternehmen, Versicherungen und Banken tiefgreifende Veränderungen im Land herbeizuführen. Die Mindestlöhne wurden erhöht, Urlaubs- und Arbeitslosengeld sowie der Mutterschaftsurlaub wurden eingeführt. Das Volk erhielt Zugang zu einem erstmals existenten staatlichen Gesundheitswesen. Das portugiesische Kolonialreich wurde aufgelöst. Goncalves, der seine kommunistischen Sympathien nicht verbarg, war alsbald Zielscheibe einer auf prokapitalistischen Kurswechsel bedachten Troika aus rechtem MFA-Flügel, aufgescheuchtem Klerus und einer aus dem Exil zurückgekehrten Führungsfigur der Sozialistischen Partei: Mário Soares.

Oberst Ramalho Eanes, der innerhalb der MFA bestrebt war, das Militär von den eman­zipatorischen politischen und sozialen Kämpfen innerhalb der Gesellschaft zu trennen, wurde 1976 in das Amt des Präsidenten der Republik gehoben. Mário Soares’ Partei ging im selben Jahr aus den Parlamentswahlen als stärkste Kraft hervor. Soares machte Vasco Goncalves’ Nationalisierungsmaßnahmen rückgängig und beendete die Agrarre­formen. Die revolutionäre Dynamik der Aprilerhebung, die in den Kommandozentralen des Kapitals zur Schnappatmung geführt hatte, wurde gestoppt, die Rückereroberung von Konzernen, Banken und Ländereien unter dem Applaus der alten Besitzerklasse eingeleitet. Die sich anschließenden Wegmarken Portugals in der westeuropäisch-trans­atlantischen »Wertegemeinschaft« sind bekannt.

Das ambivalente Erbe des April

Was ist das Erbe jenes April der Nelken? Der Sturz der faschistisch gefärbten Diktatur natürlich und die Herstellung bürgerlich-demokratischer Verhältnisse samt Ahndung der jahrzehntelangen Verbrechen der Geheimdienstschergen, die noch am Morgen der Revolution in die Volksmenge geschossen hatten. In der Nacht zum 27. April wurden die politischen Gefangenen aus der PIDE-Folterhölle Caxias befreit. Zum Erbe gehört die Beendigung der Kolonialherrschaft in Afrika und Asien, auch wenn etwa Angola und Mosambik noch opferreiche Wege in eine freie Nationalstaatlichkeit gehen mussten. Am 1. Mai wurde ein Gesetz zur Generalamnestie von Kriegsdienstverweigerern und Deserteuren der Kolonialkriege erlassen.

Das Kräfteverhältnis in der Welt hatte sich nach links bewegt. Die in Portugal gewagten Veränderungen waren in der progressiven Welt mit angespannter Freude verfolgt wor­den. Frank Bochow, mein unvergessener Freund aus FDJ-Funktionärstagen, war DDR-Botschafter in Portugal geworden. Und wenn wir zusammensaßen, erzählte er von der Aufbruchstimmung in seinem Gastland und den Hoffnungen der in der Legalität erstarkten KP unter Álvaro Cunhal. Dann sangen wir zum »Grandola«-Lied die Hymne der PCP »Avante camarada« und wussten doch aus den tragischen chilenischen Erfah­rungen, zu welchen Mitteln der Rückeroberung verlorenen Terrains der Imperialismus fähig ist. In Portugal ging er andere Wege.

Heute, nach einem halben Jahrhundert, ist die Deutungshoheit über die Errungenschaf­ten der Nelkenrevolution noch immer umkämpft. Wer die Einhegung des revolutionären Funkens, der die Goncalves-Zeit prägte, damals betrieb oder seither goutierte, wird die Ziele der Aprilrevolution in der unter konsolidierten kapitalistischen Verhältnissen wal­tenden bürgerlichen Demokratie als erreicht ansehen. Wer indes im harschen Lebens­alltag gegen Sozialabbau, Wohnungsnot, unzureichende Löhne und Renten, steigende Lebenshaltungskosten, eklatante Wohnungsnot oder Malaisen im Gesundheitswesen anzukämpfen hat, wird die Aprilerhebung für unvollendet halten. Wie auch immer die Zeit geht, das »Grandola«-Signal kann ein langes Leben haben. So wie die berühmten Eichen des Alentejo.

 

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