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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Der Schoß ist fruchtbar noch …

Dr. Hartmut König, Panketal

 

Vor 65 Jahren hatte »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui« im Berliner Ensemble Premiere

 

Am 30. Dezember 1995 sah ich am Schiffbauerdamm Bertolt Brechts Parabelstück »Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui«. In der großartigen Inszenierung von Heiner Müller brillierte Martin Wuttke in der Titelrolle. Das zeitrelevante, elektrisierende Spiel – die Bloßstellung des kleinen Ganoven Ui und der Umstände, unter denen er sich in sei­ner Welt zum Diktator erheben konnte – wurde an diesem Abend durch die Nachricht vom Tod Heiner Müllers unterbrochen. So lagen Trauer und Erkenntnisgewinn des Thea­tererlebnisses in einer eigenartigen Schwebe. Ich hatte den »Ui« schon als Schüler gele­sen und wusste auch vom grandiosen Erfolg Ekkehard Schalls, der seit der 1959er Pre­miere des Stücks am Berliner Ensemble die Titelrolle spielte – anderthalb Jahrzehnte lang, in über 500 Vorstellungen. Am 23. März jährt sich die Premiere jener »Ui«-Insze­nierung zum 65. Mal. Regie führte Manfred Wekwerth gemeinsam mit Peter Palitzsch, der schon im Vorjahr eine Stuttgarter Aufführung verantwortete.

Späte Ankunft einer Botschaft

Die Botschaft des Stücks zündete spät. Im finnischen Exil geschrieben, kam »Der auf­haltsame Aufstieg« erst nach Brechts Tod auf die Bühne. Die Intention des Autors, noch in den Kriegsjahren der kapitalistischen Welt den Aufstieg Hitlers dadurch zu erklären, dass er »in ein ihr vertrautes Milieu versetzt wurde«, hatte sich nicht erfüllt. Die Rezeptionsüberlieferung besagt, dass die »Geschichtsfarce«, wie Brecht den »Ui« auch nannte, in ihrer gleichnishaften Verfremdung zur Entstehungszeit mit wenig Interesse aufgenommen wurde. Als Fertigstellungstermin des unter Mithilfe von Margarete Steffin entstandenen Stücks notierte Brecht den 29. April 1941. Nebenbei: Die Erwähnung Steffins ist der häufig überlesene Dank Brechts an eine ihm damals unersetzliche Mitarbeiterin, die seine Manuskripte ordnete, Verlagsverbindungen hielt und, aus dem proletarischen Milieu stammend und mit Agitprop-Erfahrungen der kommunistischen Jugendbewegung ausgestattet, zugleich eine geschätzte Ratgeberin in Schaffensfragen war. Brecht hätte sie gern mit nach Amerika genommen. In Erwartung der Reisepapiere starb sie 1941 in Moskau an Tuberkulose. Brecht nannte sie seine »Genossin« und widmete ihr das Gedicht »Nach dem Tod meiner Mitarbeiterin M.S.«.

Die Uraufführung des »Ui«-Stücks war in den USA vorgesehen, wo Brecht im Juli 1941 eintraf. Er hatte Erwin Piscator kontaktiert, der den Text sofort übersetzen ließ und in dem von ihm begründeten und geleiteten New Yorker Dramatic Workshop vorstellte. Aber nicht allein an der renommierten Schauspielschule, die spätere Stars wie Marlon Brando, Tennessee Williams, Tony Curtis oder Harry Belafonte hervorbrachte, fand das Stück keine nennenswerte Resonanz. Es sollten fast zwei Jahrzehnte vergehen, bis eine aus Ruinen auferstandene deutsche Nachkriegsgeneration Inhalt und Sprache der Brechtschen Parabel zu begreifen begann und deren eindringliche Mahnung auf sich wirken ließ: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!«

Arbeit am »Ui«-Stoff in politischer Sorge

Walter Benjamin hatte bereits 1934 notiert, dass sich Brecht mit dem »Ui«-Stoff beschäftigte. Der tat es zweifellos bei sorgenvoller Beobachtung des Niedergangs der Weimarer Republik und des frappanten Aufstiegs Adolf Hitlers, dem das große Kapital die Steigbügel hielt. Tatsächlich weckt das Szenarium des im Ganovenmilieu Chicagos angesiedelten Stücks Assoziationen an politische Entwicklungen der endzwanziger und dreißiger Jahre in Deutschland. 1928 schreibt Goebbels über die NS-Wahlkampfstrate­gie im »Angriff«: »Wir gehen in den Reichstag hinein, um uns im Waffenarsenal der Demokratie mit deren eigenen Waffen zu versorgen. Wir werden Reichstagsabgeordne­te, um die Weimarer Gesinnung mit ihrer eigenen Unterstützung lahmzulegen.« Bei den Wahlen im Mai bleibt die NSDAP noch bedeutungslos. Am 16. November 1928 spricht Hitler im Berliner Sportpalast. Der Auftritt ist grottenschlecht, der Redner bräuchte einen Schauspieler, der ihn das rhetorische und gestische Handwerk der Massensug­gestion lehrt, und er wird ihn finden. Aus den Reichstagswahlen im September 1930 geht die NSDAP mit 18,3 Prozent als zweitstärkste Partei hervor. Zur Parlamentseröff­nung erscheinen die Nazi-Abgeordneten geschlossen in ihren braunen Uniformen. Die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre erreicht Deutschland. Der Zahlungsverkehr bricht zusammen. Noch haben die Menschen die ausbeuterische Hyperinflation der zwanziger Jahre vor Augen und belagern die Banken. Im Oktober 1931 setzt sich die »Harzburger Front« – mit Hitler, Hugenberg sowie dem Ex-Reichsbankpräsidenten Hjal­mar Schacht – in einem Appell an Hindenburg für den baldigen Sturz der bürgerlich-demokratischen Verhältnisse ein. Der hatte sich zu seinem 80. Geburtstag von deut­schen Wirtschaftsbossen und Junkern das Stammgut seiner Familie in Westpreußen schenken lassen und wird im April 1932 zum Reichspräsidenten wiedergewählt. In die Korruptionswirren des »Osthilfeskandals« verstrickt und weitere Enthüllungen befürch­tend, beruft Hindenburg Hitler, der ihn offenbar erpresst, im Januar 1933 zum Reichs­kanzler. Einen Monat später steht der Reichstag in Flammen. Der junge Niederländer Marinus van der Lubbe wird für die von den Nazis strategisch kalkulierte Brandstiftung zum Tode verurteilt. Für Hitler ein Justizmord am Rande, denn der Reichstagsbrand taugt zu größerer Repression. Er ist Anlass für die Verabschiedung einer Notverordnung »zum Schutz von Volk und Staat«, auf Grund derer noch in der Brandnacht Verhaftungs­wellen gegen Mitglieder der KPD und andere Regimegegner anlaufen.

Bertolt Brecht emigriert. Was folgt, nimmt er schon jenseits der deutschen Grenzen wahr. Die im Mai 1933 beginnenden Bücherverbrennungen. Die im Inneren des Regimes ausgetragenen Machtkämpfe, die kulminieren, als SA-Führer Röhm von einer notwendigen »zweiten Revolution« spricht und seine Sturmabteilung unter Einbeziehung der Reichswehr zur entscheidenden deutschen Streitmacht küren will. Röhms Putsch-absichten werden in Anwesenheit Hitlers vereitelt, er und sein höheres Gefolge erschossen. In Berlin, wo Göring die »Säuberungsaktionen« leitet, werden General Kurt von Schleicher und Gregor Strasser, die der Beteiligung am Komplott bezichtigt sind, liquidiert. Am 25. Juli 1934 wird der österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß bei einem Putschversuch alpenländischer Nazis ermordet. Hitlerdeutschland bestreitet seine Beteiligung, was angesichts der späteren Einverleibung Österreichs (im Stück Cicero genannt) ein verlogenes Dementi ist. Hitlers Einmarsch in Wien werden weitere Eroberungen in Europa folgen.

Einladung zur Decodierung der Parallelen

Politische Geschehnisse in und um Deutschland jener Jahre (man lese auch die dem Stücktext beigegebene Zeittafel) sind in der Al-Capone-Szenerie des »Ui« gleichnishaft auffindbar und bereits im Prolog angekündigt: »Verehrtes Publikum, wir bringen heute … / Den Aufstieg des Arturo Ui während der Baisse! / Sensationen im berüchtigten Speicherbrandprozeß! / Den Dullfeetmord! Die Justiz im Koma! / Gangster unter sich: Die Abschlachtung des Ernesto Roma! / Zum Schluß das illuminierte Schlußtableau: / Gangster erobern die Stadt Cicero …« Zentrale Figuren des Stücks lassen an Spieler der politischen Bühne denken. Der alte Dogsborough an Hindenburg, Ui an Hitler, Giri an Göring, Hinkefuß Givola an Goebbels, Roma an Röhm. Fish ist Marinus van der Lubbe, und Dullfeet meint Dollfuß. Das epische Theater lädt zur Decodierung der Parallelen ein.

Möglicherweise führte Brecht die Ablehnung des Stücks auch auf dessen Satireform zurück. »Man hört heute ganz allgemein,« schreibt er 1948, »es sei unstatthaft und aus­sichtslos, die großen politischen Verbrecher, lebendig oder tot, der Lächerlichkeit preis­geben zu wollen.« Und antwortet den Kritikern sogleich sehr entschieden: »Die großen politischen Verbrecher müssen durchaus preisgegeben werden, und vorzüglich der Lächerlichkeit. Denn sie sind vor allem keine großen politischen Verbrecher, sondern die Verüber großer politischer Verbrechen.«

Brechts frühes Plädoyer

Forderte Brecht zu jener frühen Zeit der geistigen Enttrümmerung schier Unmögliches? Waren die großen Verbrechen und die Skrupellosigkeit ihrer Verüber nicht zu monströs, um verlacht zu werden? Die faschistischen Hauptmächte niedergerungen, ihre Hauptak­teure gerichtet, deren materiellen und ideellen Verwüstungen indes katastrophal. Die Zahl der Opfer eine infernalische Bilanz: Die UdSSR verlor 20 Millionen Menschen, Polen und Deutschland je 6 Millionen, Jugoslawien über 1,7 Millionen. In den faschisti­schen Konzentrationslagern wurden über 11 Millionen Menschen verschiedener Natio­nalität ermordet. Die Verüber dieser Verbrechen dem Spott preiszugeben – war das nicht eine verharmlosende, folglich unstatthafte weil unwirksame Form der Geschichts­aufarbeitung? Neue politische Verbrechen, nun begangen von der Atommacht USA in Japan und Korea sowie von der französischen Kolonialherrschaft in Indochina und Alge­rien, waren noch zu Lebzeiten Brechts hinzugetreten und provozierten dieselbe Frage. Die Bejahung dessen, was Brecht so früh vorschlug, erforderte Zeit und verlangte Sou­veränität im Umgang mit der Methode des epischen Theaters. Wie soll man den späte­ren Jahrzehnteerfolg des »Ui« anders deuten, als dass Brechts Intention eine berechtig­te Hoffnung war? Man hatte verstanden: Das Stück in seiner Verhüllung enthüllt auf einprägsame Weise gewesenen Machtmissbrauch und stellt klar, dass er zu verhindern war. Zugleich ermahnt es die menschliche Zivilisation, denkbare Wiederholungen recht­zeitig zu erkennen und aufzuhalten.

Brechts Warnung vor faschistischer Gefahr und imperialistischer Welteroberung ver­stummte nicht in Jahrzehnten des kalten Krieges, der Entspannung, des Niedergangs des Realsozialismus in Europa, der eine Barriere für zügellose kapitalistische Machtent­faltung gewesen war. Sie versiegte auch nicht zu Zeiten jener demütigenden Hybris, mit der der Westen seinen geschichtlichen Endsieg behauptete. Es gab Momente, in denen die Welt am Abgrund stand. Heute begleitet uns Brechts Parabel durch scharfe »Werte­schlachten«: Washingtons Beharrung auf Weltherrschaft versus Aufbruch jener erstar­kenden US-skeptischen Staatenphalanx, die in eine multipolar verantwortete friedliche, sozial und ökologisch gerechtere Zukunft strebt. In der sich verändernden Welt mit einem emanzipierten Globalen Süden und einer rasant aufstrebenden chinesischen Volksrepublik als Magnet der Weltwirtschaft klammern sich die USA an die Trümmer alter Verhältnisse. Sie könnten in ihrer Ohnmacht transatlantische Vasallen in militäri­sche Abenteuer vom Ausmaß eines dritten Weltkrieges ziehen. Angesichts einer devot knicksenden Ampel, die Deutschland kriegsfähig machen will, hören wir wieder Brechts Mahnung: »Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!« Und die Lehre: Was da kriechen will, ist aufzuhalten!

 

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