Biedermeier und Brandstifter (I)
Tim Engels, Düsseldorf
»Alle haben Streichhölzchen gegeben. Fast alle.« (Max Frisch)
Nun sind dreißig Jahre vergangen seit dem Brandanschlag auf ein Familienhaus in Solingen. Am 20. Oktober 2021 hat es dort wieder gebrannt, und Frau Sibel İ. und deren Kinder haben nur durch Zufall überlebt. Auch dieser Anschlag wird rassistisch motiviert gewesen sein, die Täter bis heute nicht gefunden. Im Frühjahr dieses Jahres meldete die ARD, dass die Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte wieder zugenommen hätten.
Als hätte es sie nicht gegeben: Kempten, Saarlouis, Hünxe, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Mölln … – vier von sechs in Westdeutschland – und in den vergangenen Jahren nach den »NSU«-Morden, die von den Betroffenen als »zweiter Anschlag« empfunden wurden: München, Chemnitz, Kassel, Hanau, Halle …
Sie alle haben sich förmlich eingebrannt in unser Gedächtnis.
Es ist anders, über Ereignisse zu schreiben, deren Zeitzeuge man war. Man ist näher daran, betroffener. Nun also die Nachbarstadt in Nordrhein-Westfalen, tief im Westen der Republik. Längst hatten sich die Wohlmeinenden zusammengefunden in Notruf- und Telefonketten, um ein wenig Schutz bieten zu können in diesen Baseballschlägerjahren (rbb, 2022). Doch »die paar gut gemeinten Lichterketten waren noch lange nicht genug« (Pur, »Neue Brücken«,Seiltänzertraum, 1993).
»Fünf Geschichten wurden in einer Nacht ermordet« (R. Hussein [1])
Am 30. Oktober des vergangenen Jahres ist Mevlüde Genç in Solingen gestorben. Diese Frau, vom Bundespräsidenten zur »großen Versöhnerin« erhoben, musste in jener furchtbaren Nacht erleiden, wie zwei ihrer Töchter, Gürsün (İnce) und Hatice, ihre zwei Enkelinnen Hülya und Saime, die damals so jung waren, wie unsere Kinder heute sind, sowie Gülistan Öztürk infolge des Mordanschlages elendig verbrennen. Hatice war genauso jung wie ich damals, als sie durch Nazihand sterben musste. Die Bilder von ihnen sehe ich immer wieder vor mir. Sie wollten Saimes Geburtstag feiern; es waren fröhliche, glückliche Menschen. Man fragt sich unweigerlich immer wieder: Wie können die Täter den Menschen so etwas nur antun?
Das ist die SS-Mentalität eines »Hauptscharführers« wie Moll, der in (Auschwitz-)Birkenau, dem größten Friedhof der ganzen Welt (Esther Bejarano), Kinder bei lebendigem Leibe verbrennen ließ und Jüdinnen, die ihm nicht gefielen, von seinem deutschen Schäferhund zu Tode reißen ließ.
Noch als Schüler ging ich zur Antifa, später in die VVN-BdA, auf der Schultoilette von Funktionären der mittlerweile verbotenen »Wiking-Jugend« (»WJ«) belästigt und bedroht. Ein Plakat dieses Vereins hing an der Wand des Zimmers von Christian Reher, einem der vier verurteilten Täter, daneben: »Rostock muss brennen«. Auch ein Flugblatt fanden die Ermittler dort: »Rassenmischung ist Völkermord«, offenbar Propagandamaterial der verbotenen »Deutschen Alternative – DA« des verstorbenen ehemaligen Berufssoldaten, Neonazis und V-Mannes Michael Kühnen, von dem der sogenannte »Aufbauplan Ost« stammt, um mit Hilfe der nach wie vor legal operierenden »Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front« (GdNF) Neonazistrukturen in der angeschlossenen DDR aufzubauen.
»Wer möchte nicht gern Opfer sein?«
Markus Gartmann war Mitglied der extrem rechten »DVU« und trainierte wie Reher und Köhnen in der Kampfsportschule »Hak Pao« des V-Mannes Bernd Schmitt, in der alte wie neue Nazis ein- und ausgingen.
Die Kinder der Familie Genç wünschte Reher sich – er entwürdigte sie zu »Mistviechern« – zu erwürgen wie Katzenjunge. Da mag man dem damaligen Statthalter von Taşova [2] die Bemerkung nachsehen, dass es sich bei solcher Gesinnung um eine »von Bestien« handle. Es war eben nicht nur diese »Banalität des Bösen« (Hannah Arendt), sondern es war der seit über hundert Jahren virulente faschistische Terror, der den Kindern der Gastarbeiter*innen das Lebensrecht absprach und es ihnen brutal nahm. Er begann nicht 1990 und endete nicht 1993. Dieser Terror lässt sich nicht alleine psychologisch erklären. Der »stumme Schrei nach Liebe« wurde auch in diesem Solinger Prozess jugendpsychiatrisch oft bemüht. Die Musikgruppe »Die Ärzte« hat diesem Typus zur gleichen Zeit ein Lied gewidmet und ihn schlicht als »Arschloch« tituliert – viel mehr gab es dazu tatsächlich nicht zu sagen. [3] Konträr dazu stand der Ansatz sogenannter akzeptierender Jugendarbeit, die kritisch mit dem Tucholsky-Gedicht »Rosen auf den Weg gestreut …« umschrieben wurde. Und da man es offenbar vorgezogen hatte, die Neonazis nun auch im Osten der größer gewordenen BRD zu umgarnen, sie »lieb und nett« zu behandeln und zu küssen, so wie die Mutter eines der Angeklagten ihren Sohn im Gerichtssaal, was Mevlüde Genç als rücksichtslos empfand – sie hatte ja niemanden mehr, die oder den sie hätte küssen können; am Körper ihres Sohnes Bekir, der schwerste Verletzungen erlitten hatte, vermochte sie keine Stelle dafür zu finden –, muss sich dieser Ansatz heute vorwerfen lassen, unter anderem dem »Thüringer Heimatschutz« (»THS«) als Vorfeldorganisation des »NSU« den Boden bereitet zu haben. Wie viele könnten anderenfalls heute noch leben? Nach Recherchen der Amadeu-Antonio-Stiftung gehen seitdem mindestens 219 ermordete Menschen auf das Konto der Neonazis – wohlgemerkt erst seit 1990! Konstantin Wecker hat Amadeu Antonio Kiowa in der gleichnamigen Ballade ein würdiges Denkmal gesetzt. [4] Spätestens seit 1950 verläuft nach unzähligen Anschlägen und Tötungsdelikten in Westdeutschland und -europa eine Blutspur teils staatlich gelenkten rechten Terrors mit über hundert Ermordeten, während in der DDR bis 1987 keine gezielte Gewalt rechter Organisationen festzustellen war! Die Behauptung, der faschistische Terror im geteilten Deutschland sei nahezu gleich verteilt gewesen oder gar noch, die DDR sei schuld am Terror nach dem Anschluss, ist somit falsch und dient alleine der Diskreditierung des gewesenen Sozialismus bzw. der Untermauerung der eigens zu diesem Zwecke konstruierten antikommunistischen Totalitarismusdoktrin. Brandstiftung, Totschlag, Mord aus faschistischer Motivation gab es in der DDR nicht, auch wenn deren Bürger*innen keine »besseren Menschen« gewesen seien. Waren oder sind sie es wirklich nicht?
Lieber einen »staatlich verordneten Antifaschismus« als gar keinen
Stattdessen meinte man vor allem im tiefen Westen, sich über den vorgeblich »staatlich verordneten Antifaschismus« der DDR mokieren zu müssen. Nicht nur die Überlebenden der Terrorjahre hätten sich einen solchen lieber gewünscht als gar keinen.
Die beiden anderen Verurteilten Christian Buchholz und Felix Köhnen bewegten sich ebenfalls in der Solinger Neonaziszene. Rechtsrock – in der Region über viele Jahre von dem um die Jahrtausendwende vorgeblich ausgestiegenen Neonazi Thorsten Lemmer vertrieben – spielte bei allen Verurteilten eine nicht zu unterschätzende Rolle, dessen Verflechtungen auch mit dem Milieu des rechten Terrors bis heute festzustellen sind. Hierzu noch einmal Die Ärzte: »Zwischen Störkraft und den Onkelz stand ‘ne Kuschelrock-LP«.
Auch die »Böhsen Onkelz« sollen die Verurteilten gehört haben, bevor sie in der Innenstadt zufällig den Reher getroffen hatten, mit dem sie dann den Entschluss gefasst haben sollen, das Haus der Familie Genç in der Unteren Wernerstraße Nr. 81 in Brand zu setzen. An einer Tankstelle auf dem Weg, dessen Länge im Prozess eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hat, wollten sie sich Brandbeschleuniger besorgen. Denn ein von der Verteidigung eingeführter Sachverständiger gelangte zu dem Schluss, dass der Brand zu einem Zeitpunkt am frühen Morgen ausgebrochen sein müsse, als die Verurteilten unmöglich am Tatort hätten angelangt sein können. Am Ende glaubt das Gericht die von Gartmann gestandene Tatversion, die er mehrfach widerrief, weil er vom polizeilichen Staatsschutz mittels verbotener Vernehmungsmethoden dazu genötigt worden sei. Hiernach sollen Christian B. und er selbst Wache gestanden haben, während Christian R. und Felix im Windfang des Hauses mehrere Liter Benzin ausgeschüttet und angezündet hätten, womit Gartmann auch seinen besten Freund schwer belastete.
Während des Prozesses erklärte Christian R. plötzlich, die Tat alleine begangen zu haben, wogegen spricht, dass Gartmann, der gegenüber wohnte, den Brand aufgrund der großen Stichflammen hätte gesehen haben müssen. Der Prozess geriet ihm zusehends unerträglicher.
Aber diese Ungereimtheiten und Widersprüche, die »Pannen« im Ermittlungsverfahren, die Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Staatsschutzabteilungen, dem Generalbundesanwalt, der die Ermittlungen an sich gezogen hatte, und dem BKA waren es wohl, die den polizeilichen Prozessbeobachter zu dem Schluss gelangen ließen, dass es sich um einen politischen Prozess gehandelt habe, bei dem aus Staatsraison eine Verurteilung hätte erfolgen müssen. Seiner Ansicht nach stecke hinter all dem der Verfassungsschutz!
Drei Tage vor dem Anschlag am 26. Mai 1993 endete die unsägliche »Asyldebatte« – all das erinnert auch an die sogenannte »Flüchtlingskrise« 2015 – mit der faktischen Abschaffung des Rechts auf politisches Asyl als unmittelbare Erfahrung der Naziverfolgten durch die sogenannte »Drittstaatenregelung«, nach der Geflüchtete nicht mehr über einen vermeintlich »sicheren Drittstaat« in die BRD einreisen können. In der Öffentlichkeit wurde dies als »Asylkompromiss« beschönigt.
Die wahren Täter
In der ganzen Stadt hatten wir »Die BrandstifterInnen sitzen in Bonn – auf zur Blockade des Bundestages« plakatiert. Es half alles nichts. Gregor Gysi war damals als Vorsitzender der »PDS/Linke Liste«-Fraktion der einzige Abgeordnete, der an der Bannmeile zu den über zehntausend Demonstrierenden sprach. Unweit des Tatorts stand am Schlagbaum an die Wand gesprüht: »Erst stirbt das Recht, dann der Mensch«. Die Grundgesetzänderung erfüllte die Forderung der Faschisten und war Öl auf die Feuer der Mordbrenner. Bis auf die damaligen Grünen, die PDS und einzelne Liberale haben sich alle anderen mitschuldig gemacht!
Literatur:
Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem – Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 2011, 2016.
Ellen Brombacher, Heinz Marohn, Gerald Schwember, Eine Studie über Rechtsextremismus oder die Fortsetzung der Totalitarismusdoktrin mit anderen Mitteln, in: Ellen Brombacher, Deutsch-jüdisches Familienbild – Meine Kindheitsmuster und Prägungen, Berlin 2022, S. 190-208.
Max Frisch, Biedermann und die Brandstifter, Nachspiel, Frankfurt a. M. 1996, 2020.
Metin Gür, Alaverdi Turhan, Die Solingen-Akte, Düsseldorf 1996.
Lotta – Antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen, Nr. 50, Winter 2012/2013: 20 Jahre Solinger Brandanschlag – 20 Jahre Abschaffung des Grundrechts auf Asyl, Oberhausen 2012.
Ingrid Müller-Münch, Biedermänner und Brandstifter – Fremdenfeindlichkeit vor Gericht, Bonn 1998.
Andrea Röpke/Andreas Speit (Hrsg.), Blut und Ehre – Geschichte und Gegenwart rechter Gewalt in Deutschland, Berlin 2013.
Ein abschließender Teil II dieses Beitrags folgt im Heft 6 oder 7/2023 der Mitteilungen. – Abbildung (nur in der Printversion): Aufkleber als Accessoires aus dem im April 2023 uraufgeführten Stück »Solingen 1993«des Düsseldorfer Schauspielhauses. Trailer, Pressestimmen und Termine: https://www.dhaus.de/programm/a-z/solingen-1993.
Anmerkungen:
[1] Schauspielerin des Stadt:Kollektiv in »Solingen 1993«, Schauspielhaus Düsseldorf.
[2] Türkischer Verwaltungsbezirk, aus dem die Familie stammt.
[3] Die Ärzte: https://www.youtube.com/watch?v=6X9CEi8wkBc.
[4] Konstantin Wecker: https://www.youtube.com/watch?v=6Hfc73WgPdU.
Mehr von Tim Engels in den »Mitteilungen«:
2020-12: Freiheit für Julian Assange!
2018-09: Konzern des Verbrechens
2018-07: Haarsträubend milde, um einen Hühnerdieb zu erfreuen