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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Auch in Deutschland sind Alternativen zum Kapitalismus möglich

Egon Krenz, Dierhagen

 

Liebe Jugendfreundinnen und liebe Jugendfreunde, das Jubiläum, an das wir heute erinnern, hat für uns geschichtliche, aktuelle und sehr persönliche Bezüge. Es ist verbunden mit unseren Lebensläufen, mit Höhen und Tiefen unserer Entwicklung, mit Träumen vom siegreichen Sozialismus und Realitäten einer bitteren historischen Niederlage. Die FDJ war Teil unseres Lebens.

Als wir uns vor 20 Jahren das erste Mal nach 1990 trafen, hatte Hans Modrow gerade das Buch herausgegeben »Unser Zeichen war die Sonne«. Er schrieb damals: »Wenn ich auf meine Zeit in und mit der FDJ … zurückblicke, hat der Jugendverband mein Leben nicht nur begleitet, sondern mitbestimmt und geformt.« Diese Erfahrung teilen mit ihm viele Bürger, die einst der FDJ angehörten. Das heutige Erinnern ist dennoch zwiespältig. 26 von den 70 Jahren leben wir bereits in einer Gesellschaft, die nicht unseren Jugendidealen entspricht.

Daher ist mir zuerst ein Punkt wichtig, der uns wohl alle miteinander verbindet: Wir alle haben der DDR viel von unserer Lebenskraft und Leidenschaft, von unserem Wissen und Können gegeben, immer in der Überzeugung, dem besseren Deutschland zu dienen. In der FDJ wollten wir unsere Ideale verwirklichen von einer Gesellschaft, in der der Mensch nicht des Menschen Wolf, sondern sein Freund ist, in der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen für immer beseitigt werden sollte.

Teile und herrsche!

Dann aber kamen die »jähen Wendungen«, vor denen in Reden zwar oft gewarnt wurde, aber wohl kaum jemand von uns konnte sich vorstellen, dass die gute und gerechte Sache, für die wir einstanden, auch verloren gehen könnte. Auf diese Weise kamen wir 1990 in einer uns fremden Gesellschaft an. Was heißt: Wir kamen an? Eine Begrüßungskultur für DDR-Bürger gab es nicht und auch keine Integrationsbemühungen, eher eine Unkultur der Ausgrenzung.

Jeder war nun auf sich selbst gestellt. Die neue Ordnung funktioniert nach dem alten Grundsatz: Teile und herrsche! Sie setzt darauf, die Solidarität, die uns einst stark machte, zu brechen und unser Leben ausschließlich zu individualisieren.

Unsere Lebensläufe änderten zwangsläufig ihre Richtung. Viele schafften es, sich eine neue Existenz aufzubauen. Manche wurden Kleinunternehmer mit Selbstausbeutung. Andere trafen sich auf dem Arbeitsamt oder in berufsfremden Branchen wieder, nicht wenige wurden trotz hervorragender Ausbildung Hilfsarbeiter oder blieben Hartz IV-Empfänger. Wenn wir uns heute begegnen, wissen wir voneinander: Das zurückliegende Vierteljahrhundert war für niemanden von uns einfach. Die meisten haben trotz alledem diese Zeit erhobenen Hauptes überstanden. Das spricht für Charakter. Einige unserer Weggefährten sind nicht mehr unter den Lebenden. Auch an sie denken wir heute. Günther Jahn, den der Tod kürzlich unerwartet aus unserer Mitte riss, pflegte über Nachwendeverhalten zu sagen »Eine mit Würde getragene Niederlage kann auch ein Sieg sein.«

Wer wollte bestreiten, dass die unterschiedlichen Nachwende-Erfahrungen auch Unterschiede in der Bewertung unserer Vergangenheit mit sich bringen können? Der Rückblick auf die DDR und auch die FDJ wird wahrscheinlich so vielfältig bleiben wie es einst die Bürger in unserem Lande waren. Jeder hat mit der DDR seine eigenen Erfahrungen gemacht. Rechthaberei und Besserwisserei taugen nicht zur Analyse eines Lebens, das eingebettet war in einen fast 45-jährigen Krieg, einen kalten zwar, aber immer am Rande einer möglichen atomaren Katastrophe.

Wer wirklich nachgedacht und sich nicht einfach auf dem Absatz umgedreht hat, um das Gegenteil von dem zu behaupten, was er bis 1989 gedacht hat, den brauchen unsere Jahre in der FDJ und mit der FDJ wirklich nicht zu reuen. Ich finde, wir hatten ein sinnerfülltes Leben, auch wenn es uns nicht vergönnt ist, zu den Siegern der Geschichte zu gehören. Unsere Ideale sind nicht schlechter geworden, weil wir sie im ersten Anlauf nicht verwirklichen konnten. Die sozialistische Idee – davon bin ich überzeugt – wird leben, auch wenn wir die Welt längst verlassen haben.

Für mich hat der Rückblick auf die die DDR und die FDJ deshalb vor allem einen Zukunftswert. Sollten unsere Enkel oder Urenkel oder erst deren Enkel es einmal erneut versuchen, dann müssen sie nicht nur wissen, was wir falsch gemacht haben, sondern vor allem, welche bleibende Spur die DDR und mit ihr die FDJ in der Geschichte hinterlassen. Diese Spur bleibt für mich zukunftszugewandt: Wir waren trotz aller Unvollkommenheiten an einem großen historischen Projekt beteiligt, das da heißt: Auch in Deutschland sind Alternativen zum Kapitalismus möglich.

Neben dem Grundsätzlichen wird es noch in Jahrzehnten Spuren geben, die an die Taten der FDJ-Mitglieder erinnern. Eberhard Aurich zählt in einem Pressebeitrag dazu die Jugendobjekte von »Max braucht Wasser« über den Bau der »Drushbatrasse« bis hin zur »FDJ-Initiative Berlin«. Diese Spuren lassen sich nicht verwischen, auch wenn inzwischen ganze Anti-DDR-Einrichtungen daran arbeiten.

Damit bin ich bei der nächsten Frage, die mir im Zusammenhang mit unserem Treffen wichtig scheint. Sind wir Nostalgiker? Sind wir Unbelehrbare? Ewiggestrige? Nur, weil wir uns von anderen nicht ihre Sicht auf unser Leben aufdrängen lassen wollen, nur, weil wir unser Leben selbst bewerten wollen?

Auch wenn ich überzeugt bin, dass Ostalgie ein Modewort ist, das die Erinnerung und Besinnung auf gelebtes Leben in der DDR denunzieren soll, erinnere ich dennoch mit Freude immer wieder an die Tatsache, dass es in Deutschland einmal einen Staat gegeben hat, in dem die von der FDJ 1946 proklamierten Grundrechte der jungen Generation Verfassungswirklichkeit waren.

Die DDR brach das Bildungsprivileg der Reichen, wohl wissend, dass dies für bisher Privilegierte durchaus nachteilig sein konnte. Dafür aber hatten erstmals in der deutschen Geschichte Arbeiter- und Bauernkinder freien Zugang zu den hohen Schulen. Junge Leute gingen nach der Ausbildung zur Arbeit und nicht zum Arbeitsamt.

FDJ – eine antifaschistische Organisation seit ihrer Gründung

Die DDR duldete keinen Neonazismus und keinen Fremdenhass, wenngleich wir die Augen nie davor verschlossen, dass der Schoß, aus dem das kroch, noch lange fruchtbar blieb. Die DDR schickte keine Soldaten zu Kriegseinsätzen ins Ausland, sie bombardierte keine Brücken in Jugoslawien oder Tanklastzüge in Afghanistan, sie schickte keine Kriegsflugzeuge nach Syrien. Sie ist bis heute der einzige deutsche Staat, der nie einen Krieg geführt hat. Wenn die Erinnerung an solche Tatsachen Nostalgie sein sollte, will ich gern ein Nostalgiker sein.

In einem Punkt aber bin ich zu keinem Kompromiss bereit. Wer die DDR in eine Reihe mit dem Nazireich und die FDJ in Verbindung mit der Hitlerjugend bringt, dem widerspreche ich entschieden.

Haben etwa die Gründungsinitiatoren der FDJ – der Auschwitz- und Buchenwaldinsasse Hermann Axen mit der ihm von der SS eingebrannten Nummer 58787, der Mitbegründer der FDJ in England, der jüdische Exilant Horst Brasch, der Gefangene Erich Honecker mit 10-jähriger Hafterfahrung, der vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilte Mitbegründer des Nationalkomitees Freies Deutschland«, Heinz Keßler, der Brandenburg-Häftling Robert Menzel, der aus politischem Asyl in Schweden heimgekehrte Paul Verner und ihre Weggefährten aus sozialdemokratischen, christlichen und bürgerlichen Kreisen - haben sie etwa das Werk Hitlers fortsetzen wollen?

So absurd wie diese Frage ist auch die Behauptung des amtierenden deutschen Staatsoberhaupts, wir hätten 56 Jahre in der Diktatur gelebt. Wer Sinn für geschichtliche Realitäten hat, kann nicht 12 Jahre Nazi-Barbarei, 4 Jahre Besatzungszeit und 40 DDR-Jahre in einen Topf werfen. Das ist für viele nicht nur beleidigend. Es ist vor allem eine Verharmlosung des sogenannten »Nationalsozialismus«, der weder national noch sozialistisch, sondern einmalig verbrecherisch war.

Wenn die heute Herrschenden die Ursachen für aktuelle Ausländerfeindlichkeit und Rassismus der DDR anlasten wollen, so ist dies primitive Anti-DDR-Propaganda. Sie zeigt nur die Hilflosigkeit der Regierenden, die Quelle dafür in ihrer eigenen Politik zu erkennen und zu bekämpfen.

Beim Lesen der »junge Welt« empfinde ich stets Freunde darüber, dass die erste deutsche Tageszeitung der Jugend als linke Tageszeitung überlebt hat. Als sie noch Organ des Zentralrates der FDJ war, hat sie in Millionenauflage das »Tagebuch der Anne Frank« veröffentlicht. Das entsprach der Rolle der FDJ, die vom ersten Tage ihrer Gründung an eine antifaschistische Organisation war.

Zu Jahresbeginn ist das Urheberrecht für zwei völlig entgegengesetzte Werke abgelaufen: Das der Hetzschrift »Mein Kampf« und das des Werkes der Weltliteratur »Das Tagebuch der Anne Frank«. Der Umgang mit beiden sagt viel aus über die Atmosphäre in diesem Lande.

Man macht einen Wind um Hitlers Machwerk – mit oder ohne Kommentar – als könne man aus dem Buch erfahren, was Faschismus bedeutet.

Mir ist aber nicht bekannt geworden, dass deutsche Leitmedien oder Politiker auf die Idee gekommen wären, das einzigartige literarische Erbe von Anne Frank in Auflagen zu verbreiten, die es ermöglichen könnten, dass es viele junge Leute wirklich lesen, darüber sprechen und sich damit auseinandersetzen. Das wäre angesichts des Wieder-Aufflammens brauner Pest ein Zeichen des geistigen Widerstandes gegen die Brandstifter.

Keine Gleichheit der Deutschen vor der Geschichte

Schließlich liegt mir noch ein dritter Punkt am Herzen: Die FDJ wurde einst für ganz Deutschland gegründet. In der Bundesrepublik aber schon 1951 verboten, weil sie gegen die Remilitarisierung und für die deutsche Einheit eintrat. Für diese Ziele demonstrierten am 11. Mai 1952 in Essen 30.000 westdeutsche FDJ-Mitglieder. Der 21-jährige Philipp Müller wurde dabei von der bundesdeutschen Polizei erschossen. Das war und bleibt ein Verbrechen. Bundesdeutsche Geschichtsschreiber aber schweigen darüber.

Aktuelle Bezüge hat auch der folgende Fakt: Der westdeutsche FDJ-Vorsitzende Jupp Angenfort wurde zu 5 Jahren Zuchthaus verurteilt, obwohl er Abgeordneter des Landtages von Nordrhein-Westfalen war. Als er später seine Rente beantragte, fragte man ihn nach den Jahren, in denen er nicht sozialversichert war. Nachdem er geantwortete hatte, er sei in Haft gewesen, meinte die Bearbeiterin: Das müssen Sie unbedingt angeben. Dann bekommen Sie eine höhere Rente. Als er jedoch mitteilte, er sei in einem westdeutschen Zuchthaus gewesen, war es aus mit der Aussicht auf höhere Rente. Die stünde – so die Beamtin – nur »DDR-Opfern« zu.

Die Opfer des Kalten Krieges in der alten Bundesrepublik, darunter zehntausende FDJ-Mitglieder, sind bis heute nicht rehabilitiert. Es gibt nach wie vor keine Gleichheit der Deutschen vor der Geschichte. Wer aber die deutsche Nachkriegsgeschichte verstehen will, muss beide Staaten unter die Lupe nehmen. Hier die Hölle und dort der Garten Eden – so ist die Geschichte nicht verlaufen.

Zum Schluss eine zukunftsorientierte Information: Der immer noch aktive Weltbund der Demokratischen Jugend, dem auch die heutige FDJ angehört, hat an die russische Führung den Antrag gestellt, die XIX. Weltfestspiele der Jugend und Studenten 2017 anlässlich des 100. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution in Russland durchführen zu können. Präsident Putin hat diesem Antrag zugestimmt und die russische Gesellschaft aufgerufen, ein guter Gastgeber für die Jugend der Welt zu sein.

Hier im Saal sind Vertreter unterschiedlicher Generationen versammelt. Solche, die den Krieg noch erlebt haben und solche, die in den Frieden hinein geboren wurden. Wir alle, selbst die Jüngsten unter uns, sind inzwischen in die Jahre gekommen. Wir leben aber nicht in der Vergangenheit. Wir sind hell wach, wenn es um eine friedliche Zukunft für uns, unsere Kinder und Kindeskinder geht. In diesem Sinne allen ein herzliches Freundschaft!

5. März 2016, Ansprache auf dem »Treffen von Freunden«, anlässlich des 70. Jahrestages der Gründung der FDJ

 

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