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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Abschied von Hans Modrow

Bundessprecherrat

 

Selbst die Gegner der Linken bekundeten Hans Modrow ihren Respekt. Selten wurde in der »tagesschau« oder der »heute«-Sendung ohne jede Häme über den Tod früherer Repräsen­tanten der DDR berichtet. Wir möchten hier nicht wiederholen, was in den zahlreichen Nach­rufen über Hans geschrieben stand; so, dass er gekämpft hat, bis er wirklich nicht mehr konnte. Viele von uns kannten ihn sehr lange: Als 1. Bezirkssekretär der Berliner FDJ, als 1. Kreissekretär des SED in Köpenick, als Agit-Prop-Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, als Abteilungsleiter im SED-Zentralkomitee, als 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Dresden. In den »Wende« war er DDR-Ministerpräsident und später im Bundestag und im EU-Parlament – und immer aktiv in seiner, unserer Partei. Wir wollen heute besonders des mahnenden Hans Modrow gedenken, der am 17. Januar 2022 in Vorbereitung des Erfurter Parteitages an die damaligen Vorsitzenden der Linken, Susanne Hennig-Wellsow und Janine Wissler, schrieb. Seither ist unendlich viel geschehen und dennoch ist seine nachfolgend dokumentierte, leicht gekürzte Einschätzung von uneingeschränkter Aktualität. Wir werden Hans nicht vergessen und sein Vermächtnis bewahren.

Bundessprecherrat der KPF

 

Liebe Susanne, liebe Janine,

zum ersten Mal seit vielen Jahren blieb ich dem stillen Gedenken in Berlin-Friedrichsfelde fern, konnte nicht gemeinsam mit Euch und vielen anderen jene ehren, auf deren Schul­tern unsere Partei steht. Ich fehlte nicht aus politischen Gründen, wie manch anderer, son­dern aus gesundheitlichen: Ich lag im Krankenhaus. Die medizinischen Diagnosen sind nicht eben freundlich, weshalb ich es für angezeigt halte, meine Angelegenheiten zu regeln. Darum auch dieser Brief. Er soll zugleich mein Beitrag sein für die Diskussion im Vorfeld des Parteitages in Erfurt.

Die Partei DIE LINKE – hervorgegangen aus WASG und PDS, und diese wiederum aus der SED, welche ihre organisatorischen Wurzeln in der KPD und der SPD hatte – befindet sich in einer kritischen Situation. Diese entstand nicht erst durch das desaströse Resultat bei den Bundestagswahlen. Das Ergebnis machte die innere Verfasstheit lediglich sichtbar. Wenn die Partei sich nicht im Klaren ist, wofür sie steht und was ihr Zweck ist, wissen dies auch nicht die Wähler. Warum sollen sie ihre Stimme einer Partei geben, deren vordringlichstes Inter­esse darin zu bestehen scheint, mit SPD und Grünen eine Regierung bilden zu wollen?

Dass diese Vorstellung offenkundig in der Führung und unter den Mandatsträgern domi­niert, ist weder dem Wirken einzelner Genossinnen und Genossen zuzuschreiben noch das Resultat einer einzigen falschen Entscheidung. Es ist Folge einer jahrelangen, jahrzehnte­langen Entwicklung. Wann dieser Prozess einsetzte, und wer ursächlich dafür verantwort­lich zeichnet, lässt sich so wenig beantworten wie die Frage, ob der Realsozialismus nach dem 20. Parteitag der KPdSU 1956 oder mit dem Prager Frühling 1968 hätte gerettet wer­den können. Wir wissen es nicht. (…)

In der Partei, aus der ich komme, kursierte die Losung von der Einheit von Kontinuität und Erneuerung, wobei jedermann und jedefrau sah, dass die Erneuerung allenfalls Phrase war, um die Stagnation zu verdecken. Wohin dies am Ende führte, wissen wir alle. (…)

Am Ende meiner Tage fürchte ich die Wiederholung. Die politischen Folgen des Scheiterns vor mehr als 30 Jahren können wir im Osten Deutschlands besichtigen. Die Folgen des Scheiterns der Linkspartei werden ganz Deutschland und die europäische Linke insgesamt treffen. Das eine wie das andere ist irreparabel. Dessen sollten wir uns bewusst sein! Wir tragen darum eine große Verantwortung – jede Genossin, jeder Genosse und die Partei als Ganzes.

Als Vorsitzender des Ältestenrates war ich mir immer dieser Verantwortung bewusst. Wir haben gemäß der Bundessatzung der Partei gehandelt: »Der Ältestenrat berät aus eigener Initiative oder auf Bitte des Parteivorstandes zu grundlegenden und aktuellen Problemen der Politik der Partei. Er unterbreitet Vorschläge oder Empfehlungen und beteiligt sich mit Wortmeldungen an der parteiöffentlichen Debatte.« Allerdings musste ich, mussten wir erleben, dass unsere Vorschläge und Empfehlungen ohne sichtbare Wirkung blieben, wes­halb ich wiederholt auch öffentlich die Frage stellte, ob es dieses Gremiums überhaupt bedarf. Wir waren augenscheinlich überflüssig und lästig, was die Ignoranz deutlich zeigte. Unsere Erfahrungen brauchte niemand.

Natürlich gibt es – wie in jeder Familie – auch in unserer Partei einen Generationenkon­flikt. Die Neigung der Nachwachsenden, den Rat der Alten als Belehrung oder Bevormun­dung zu empfinden, ist mir nicht fremd: Ich war schließlich auch einmal jung. Zu diesem Konflikt kommt auch noch der der unterschiedlichen Herkunft. (…) Ja, ich weiß, die Zusam­mensetzung der Partei hat sich geändert, viele junge Leute aus West wie Ost sind hinzuge­kommen. Sie kommen vornehmlich aus Städten und nicht vom Lande, haben andere Bedürfnisse und Interessen als wir damals, als wir in ihrem Alter waren. Umso wichtiger ist, dass wir ihnen bewusst machen, aus welcher traditionsreichen Bewegung ihre/unsere Partei kommt, was ihre Wurzeln sind und wofür Generationen gekämpft haben: nämlich nicht für die Stabilisierung des kapitalistischen Systems, sondern für dessen Überwindung.

Und den Charakter des Systems erkennt man nicht mit Hilfe des Ausschnittdienstes und der sogenannten sozialen Medien, sondern aus Theorie und Praxis und deren Verbindung. Ich scheue mich deshalb nicht, eine systematische politische Bildungsarbeit in der Partei zu fordern. Natürlich ist das kein Allheilmittel, aber nützlich, um die Welt zu erkennen und zu bestimmen, was die Aufgabe der Partei ist. Auch wenn deren Zustand im steten Wandel begriffen ist, ändert sich der Charakter der Klassengesellschaft nicht. (…) Die Sozialfor­schung spricht inzwischen vom Dienstleistungsproletariat, und meint jene abhängig Beschäftigten, die für wenig Geld arbeiten müssen, um zu existieren: Krankenschwestern und Pfleger, Verkäuferinnen im Supermarkt und Außendienstmitarbeiter in Logistikunter­nehmen, Angestellte bei der Post, im Handel, in der Gastronomie und im Tourismus und so weiter. Sie machen laut jüngsten Untersuchungen inzwischen bis zu 60 Prozent der Beschäftigten aus und sind kaum gewerkschaftlich organisiert. Sie sind ebenso Arbeiter­klasse wie die etwa 18 Prozent in Industriebetrieben Tätigen. Diese nahezu vier Fünftel der Gesellschaft kommen in der Wahrnehmung unserer Partei kaum vor. Es ist ja keine Klasse, keine Mehrheit, nur eine Randerscheinung …

Nicht weniger gefährlich ist diese absurde Äquidistanz zur Außenwelt. Man kann nicht zu allen Bewegungen und Staaten den vermeintlich gleichen ideologischen Abstand halten. Wer in das gleiche Horn stößt wie die kapitalistischen Kritiker Russlands und Chinas, Kubas, Venezuelas usw. macht sich objektiv mit ihren erklärten wirtschaftlichen und politi­schen Gegnern gemein. Wollen wir ihnen im Kalten Krieg behilflich sein beim Anrichten eines Scherbenhaufens wie in den Staaten des arabischen Frühlings, in Afghanistan, in der Ukraine und in anderen Staaten, wo die Geheimdienste und die Militärmaschinerie des Westens wüteten? Natürlich sollen wir nicht alles gutheißen, was in anderen Ländern geschieht. Aber bei unserer Beurteilung ist es nicht nur nützlich, sondern auch nötig, die Perspektive der anderen einzunehmen. Im Kampf um den Frieden darf es keine Neutralität geben. Der christlich-europäische Kulturkreis, aus dem wir ebenso kommen wie Karl Marx und der ganze Kapitalismus, kann nicht die Elle sein, mit der wir die Welt vermessen. Es gibt Kulturvölker, die uns Jahrtausende voraus sind. Und es gibt Prioritäten, die auch Willy Brandt setzte: Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. (…)

Berlin, 17. Januar 2022

In solidarischer Verbundenheit

Hans Modrow

Aus: »junge Welt«, 25. Januar 2022, Seite 3.

 

Am 15. März 2023, 15:00 Uhr, nehmen wir Abschied von Hans Modrow. Die feierliche Trauerveranstaltung für den Staatsmann und Partei-Neubegründer findet nicht auf dem Friedhof, sondern im Münzenbergsaal im ND-Gebäude statt (Berlin, Franz-Mehring-Platz 1). Jede und jeder ist willkommen. Von Blumengrüßen und Gebinden jedoch bitten wir Abstand zu nehmen.

Weitere Auskünfte: 0177 53 24 063.

 

Mehr von Hans Modrow in den »Mitteilungen«: 

2021-02: Offener Brief an die Berliner Landesvorsitzende der LINKEN

2014-06: Profil schärfen (Archiv)

2007-07: Es ist eine große politische Entscheidung