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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Offener Brief an die Berliner Landesvorsitzende der LINKEN

Dr. Hans Modrow, 10243 Berlin, Ministerpräsident a. D., Ehem. Abgeordneter der Volkskammer der DDR, des Deutschen Bundestages und des Europäischen Parlaments

 

Liebe Katina Schubert, als Landesvorsitzende unserer Partei und Abgeordnete des Landesparlaments bist Du natürlich über die Vorgänge am 10. Januar 2020 in Lichtenberg informiert. Daher kann ich auf die Details verzichten. Wichtiger scheint mir die Klarstellung der Rechtsgrundlage zu sein.

Hier wurde eindeutig gegen geltendes Recht verstoßen, weshalb politisches Handeln notwendig wird. Zumal davon ausgegangen werden darf, dass a) die übergriffige Polizei nicht aus eigenem Antrieb gegen die Blauhemden und -fahnen vorgegangen ist, und b) damit ein Präzedenzfall geschaffen wurde, der eventuell für ähnliche Aktionen als Orientierung und Legitimation gelten kann. Sofern man nicht widerspricht.

Dass die FDJ 1951 in Westdeutschland, d. h. in der alten Bundesrepublik, verboten wurde, sollte bekannt sein wie auch die Tatsache, dass mit dem Beitritt der DDR resp. der ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des GG am 3. Oktober 1990 dieses Verbot nicht auf das Gebiet der untergegangenen DDR einschließlich Berlin ausgedehnt wurde. Auch zu keinem späteren Zeitpunkt erfolgte eine solche Ausdehnung. 

Ich erinnere beispielsweise an ein Verfahren vor dem Berliner Amtsgericht im Frühjahr 2014 gegen zwei Personen, die bei einer Gedenkveranstaltung in der Bernauer Straße 2012 das FDJ-Emblem gezeigt hatten. Das Verfahren wegen angeblichen »Verwendens verfassungsfeindlicher Symbole« endete mit einem Freispruch, die Kosten des Verfahrens trug die Landeskasse.

Die Berliner Morgenpost kommentierte wie auch andere Zeitungen damals: »Das Tragen des FDJ-Symbols ist geschmacklos, aber nicht strafbar.« Und sie verwies darauf: »Ähnliche Verfahren waren bereits in anderen Bundesländern geführt worden. Zumeist wurden sie ohne ein Urteil eingestellt.« (Berliner Morgenpost vom 16. April 2014).

Als (Gesamt-)Berliner Landesvorsitzender der FDJ kandidierte ich 1958 für das Schöneberger Rathaus, also für das Landesparlament in Berlin (West). In meinem Wahlkreis Tiergarten erhielt ich zwar nur 3,7 Prozent der abgegebenen Stimmen, aber am Wahlkampf der FDJ wurde an keiner Stelle juristisch Anstoß genommen. Warum auch: Das Verbot von 1951 galt in der BRD, nicht für Westberlin.

Das war auch so nach 1961, nach dem Mauerbau. Die etwa viereinhalbtausend FDJler im Westteil der Stadt bildeten fortan eine eigenständige Organisation, die auch Mitglied wurde im 1945 in London gegründeten Weltbund der Demokratischen Jugend (WBDJ). 

Das sogenannte Viermächte-Abkommen von 1971 bekräftigte u. a. das Faktum, dass Berlin (West) kein Bestandteil der Bundesrepublik Deutschland ist. Folglich galten in (West-)Berlin auch nicht die dort gefassten Urteile, etwa das Verbot der FDJ von 1951.

Der im September 1990 zwischen den vier Mächten und den beiden deutschen Staaten geschlossene 2+4-Vertrag, der die Voraussetzung für die deutsche Einheit war, knüpfte an bestehende Rechtsgrundsätze an. Eine Revision von Verfassungsgrundsätzen sah auch der Einheitsvertrag nicht vor. 1996 hat das Bundesverfassungsgericht beispielsweise das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Ans. 2 GG bekräftigt. Dort heißt es: »Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.« 

Wenn also das Tragen von Blauhemden oder das Zeigen von FDJ-Symbolen in Berlin nie strafbar war und es noch immer nicht ist, dann war das Vorgehen der Polizei am 10. Januar 2020 gesetzlich nicht gedeckt. Das bedeutet: Nicht die FDJler begingen eine juristisch zu bewertende Straftat, sondern die aktiv handelnden Beamten der Polizei. Und ferner ist zu fragen: Handelte der Einsatzleiter aufgrund eigenen Ermessens oder auf Weisung des politischen Dienstherrn?

Dies, so meine ich, sollte auch parlamentarisch untersucht werden, um die Verantwortung zu klären, um Wiederholung zu vermeiden und um künftig geltende eindeutige Regelungen zu treffen. Hier geht es um Rechtsstaatlichkeit und nicht um das Handeln einzelner Wirrköpfe.

Und als Postskriptum vielleicht noch ein paar Fakten aus der Geschichte, deren Kenntnis für die  Beurteilung des Vorgangs hilfreich sind:

Die Gründung der FDJ erfolgte 1946 im Ostteil Berlins aufgrund der Entscheidung der Sowjetischen Militäradministration (SMAD). Die ehemalige Reichshauptstadt galt als Sitz des Alliierten Kontrollrates als »besonderes Gebiet«; die drei Westsektoren unterlagen der Kontrolle der USA, Großbritanniens und Frankreichs, während der Ostteil von der Sowjetunion mehr oder minder regiert wurde. (Dass diese Oberhoheit bis 1990 galt, machte Moskau nach der Öffnung der Grenze am 9. November 1989 deutlich: Botschafter Kotschemassow protestierte bei Krenz, weil die DDR nicht das Recht hatte, derartige Entscheidungen ohne die Zustimmung der vier Mächte zu treffen. Und die war nicht von Ostberlin eingeholt worden.)

Wegen der Zuständigkeit der vier Mächte für das »besondere Gebiet Berlin« erfolgte darum erst 1947, nach Prüfung durch die westlichen Siegermächte, die Zulassung der FDJ in den Westsektoren. Damit war die FDJ in ganz Berlin von allen vier Siegermächten zugelassen. Wie schon erwähnt, war ich seit August 1953 bis Januar 1961 der 1. Sekretär der FDJ-Landesleitung. Zugleich war ich auch Sekretär des Zentralrats der FDJ und damit ebenfalls verantwortlich für beide Teile Berlins.

Erst nach dem Mauerbau 1961 zerfiel faktisch der Landesverband in zwei Teile.

Die aktuelle Rechtslage erlaubte es, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel, einst selbst in der FDJ aktiv, heute im Blauhemd das Reichstagsgebäude betreten oder die Kabinettssitzung leiten könnte. Sie würde nicht gegen geltende Gesetze verstoßen, allenfalls gegen den Geschmack. Ich kann mir nicht vorstellen, dass auch nur ein Beamter in gleicher Weise, wie am 10. Januar 2021 in der Frankfurter Allee geschehen, gegen sie deshalb vorgehen und Hand anlegen würde.     

Mit besten Grüßen, Hans Modrow, Berlin – 15. Januar 2021

 

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