Abschiebehaft macht krank
Ulla Jelpke, MdB
Seit dem Jahr 2002 begehen Flüchtlingsorganisationen den 30. August als Gedenktag für Todesopfer in Abschiebehaft. Die Dokumentationsgruppe der Anti-Rassistischen Initiative (ARI) Berlin hat für die Jahre 1993-2010 57 Menschen gezählt, die sich in Abschiebehaft das Leben genommen haben. Drei waren es im vergangenen Jahr. David M. aus Georgien erhängte sich mit einem Stück seines Bettlakens im Untersuchungsgefängnis Holstenglacis in Hamburg. Er war zuvor bereits aus Protest gegen seine Zurückschiebung nach Polen in einen Hungerstreik getreten. Der Fall hatte bundesweit für Aufsehen gesorgt, weil David M. angegeben hatte, 17 Jahre alt zu sein, das Jugendamt aber rechtswidrigerweise nicht eingeschaltet worden war. Der Hamburger Senat untersagte daraufhin die Inhaftierung unbegleiteter Minderjähriger. Ebenfalls im Hamburg erhängte sich Yeni P., eine Frau aus Indonesien, die sich nach ihrer Scheidung mehrere Jahre ohne Aufenthaltstitel in Hamburg aufhielt und nach einem Hinweis ihres Ex-Mannes festgenommen worden war. In Hannover-Langenhagen erhängte sich Slawik K., ein Aserbaidschaner, der auf Grund einer Verwechslung zu Slavik C. aus Armenien geworden war. Wider besseren Wissens und mit falschen Angaben besorgte die Ausländerbehörde bei der armenischen Botschaft Paßersatzpapiere für "Slavik C.". Erst breiter gesellschaftlicher Protest konnte verhindern, daß die Ausländerbehörde die Abschiebung seiner Witwe unmittelbar weiter betreiben konnte. Darüber hinaus sind in der Dokumentation 18 Fälle von Suizidversuchen aufgelistet, darunter auch der mehrfache Suizidversuch eines 17-jährigen Afghanen, der aufgrund massiver Gewalterfahrungen vor und während seiner Flucht durch Europa schwer traumatisiert war.
Ein Mittel der "Zuwanderungskontrolle"
Diese Zusammenstellung von Schicksalen aus der Abschiebehaft ist nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit. Selbstmorde und Suizidversuche kommen vor allem da ans Tageslicht, wo es vor Ort eine aktive Unterstützerszene für die Flüchtlinge gibt oder Betreuer von Wohlfahrtseinrichtungen Zugang zu Abschiebehaft und den Abschiebebereichen von Flughäfen haben. Ob es darüber hinaus noch weitere Fälle in den Justizvollzugsanstalten gibt, in denen Abschiebehaft vollzogen wird, kann nur spekuliert werden. Verwunderlich wäre es nicht.
Denn Abschiebehaft macht krank. Dies ist auch Ergebnis einer Studie des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes mit dem Titel "Quälendes Warten. Wie Abschiebehaft Menschen krank macht". Für diese Studie hat der Jesuiten-Flüchtlingsdienst in 22 Staaten der EU Erhebungen vorgenommen, in denen er selbst oder Partnerorganisationen Menschen in Abschiebehaft betreuen. Basis des Berichts zur Situation in Deutschland sind Interviews mit Häftlingen, dem Personal und den Seelsorgern des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in den Abschiebehaftanstalten in Berlin-Köpenick und München-Stadelheim.
Ziel des Untersuchungsprojekts war es, Schutzbedürftigkeit von Asylbewerbern und irregulären Migranten in der Abschiebehaft zu erforschen und zu analysieren. Als "schutzbedürftig" gelten im Flüchtlingsrecht vor allem unbegleitete Minderjährige, schwangere und alleinstehende Frauen, Familien, Alte und kranke Menschen. Im Zusammenhang mit Asylbewerbern geht es dabei vor allem um psychisch kranke, meist traumatisierte, Menschen. Auslöser für eine Traumatisierung können entweder die Erlebnisse sein, die zur Flucht geführt haben, zum Beispiel indem die Betroffenen Opfer oder Zeugen von Gewalt und Mißhandlungen wurden. Aber auch die Erlebnisse auf der Flucht selbst können zu Traumatisierungen führen. Häufig ist dies dann der Fall, wenn Asylsuchende bei ihrer Flucht von Schleppern mißhandelt wurden oder in die Fänge von Polizeibehörden geraten sind. Dies war zum Beispiel bei David M. der Fall, der in Ungarn Opfer schwerer Mißhandlungen in Polizeigewahrsam wurde. Die Untersuchung sollte zeigen, wie die Abschiebehäftlinge mit besonderem Schutzbedarf mit der Situation der Haft umgehen. Zweitens ging es darum zu untersuchen, wie Abschiebehaft selbst erst zu Schutzbedarf oder anderen besonderen Bedürfnissen in medizinischer oder psychologischer Hinsicht führt.
Der Befund ist eindeutig: "Abschiebungshaft (hat) das Potential, verschiedensten Typen von Menschen Leid zuzufügen", diese werden "teilweise erst unter den Bedingungen von Abschiebungshaft" schutzbedürftig. Dabei schaffen es die meisten sogar über einen recht langen Zeitraum, ein positives Selbstbild von sich aufrechtzuerhalten. Doch bereits nach vier Wochen zeigen die zahlreichen Einschränkungen, denen Menschen in Abschiebehaft unterliegen, ihre Wirkung. Die Seelsorger des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes stellten zu diesem Zeitpunkt eine ernsthafte Zunahme von Streß sowie Depressionen fest, nach einem weiteren Monat verschlimmert sich bei den meisten dieser Zustand noch einmal. Die meisten wissen einfach nicht, warum sie in Haft sind, da bei der gerichtlichen Verhandlung über die Verhängung der Abschiebehaft oft nur die rudimentärsten Informationen mündlich übersetzt werden. Und diese bestehen zudem oft auch nur aus den juristischen Floskeln des deutschen Aufenthaltsrechts, mit denen eine Verhängung der Abschiebehaft begründet wird. Da ein Abschiebetermin zu diesem Zeitpunkt häufig noch nicht feststeht, wissen die Abschiebehäftlinge nichts darüber, wie lange ihre Haft dauern und wie sie enden wird – mit der Freilassung oder der Abschiebung. Den Abschiebetermin bekommen sie häufig erst am Morgen vor dem Tag der Abschiebung mitgeteilt – es wird also ein Klima ständiger Verunsicherung erzeugt. Auch über viele andere Dinge fühlen sich die Abschiebehäftlinge schlecht oder gar nicht informiert – auch dies führt auf die Dauer zu Streß.
Der Bericht listet eine Vielzahl an Faktoren auf, die zu einer deutlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes in Abschiebehaft führen: dazu zählt die reine Tatsache der Haft wie auch konkrete Probleme des Alltags: schlechtes oder gar zu wenig Essen, bei dem auf kulturelle Bedürfnisse keine Rücksicht genommen wird; das Fehlen von Vertrauenspersonen und der eingeschränkte Kontakt zu Freunden und Verwandten außerhalb der Hafteinrichtung; das Gefühl von Rechtlosigkeit und das Erleben von Diskriminierung durch Anstaltspersonal oder Mitgefangene; die allgemeine Langeweile und das Gefühl der Nutzlosigkeit. 90 % der Häftlinge gaben an, daß sich ihre psychische Gesundheit durch die Haft verschlechtert habe. Sie beschreiben Traurigkeit, Wutgefühle, Anspannungs- und Streßgefühle, Selbstmordgedanken und Verwirrung. Schlaf- und Appetitlosigkeit führen wiederum auch zu einer Verschlechterung des physischen Zustandes, viele der Häftlinge nehmen in der Abschiebehaft deutlich ab. Die Auswirkungen der Haft wiegen um so schwerer, je jünger die Häftlinge sind. "Die allgemeinen Auswirkungen der Haft, Isolation von der Außenwelt und die Lebensbedingungen in der Haft sind die herausragenden Probleme" so der Bericht zusammenfassend.
Diese Ergebnisse zur Situation in Abschiebehaft in Deutschland decken sich mit den Berichten aus anderen europäischen Staaten. Trotz dieser auch in der Politik und Verwaltung bekannten Auswirkungen wird nach dem Eindruck der Autoren "Abschiebungshaft in den letzten Jahren zunehmend als Mittel der Zuwanderungskontrolle eingesetzt". Mit anderen Worten: die zwangsweise Beendigung des Aufenthalts, wie es im Amtsdeutsch heißt, soll mit allen Mitteln sichergestellt werden. Mehr als die Hälfte aller Abgeschobenen werden vor ihrer Abschiebung in Haft genommen. Auch stieg der Anteil derjenigen, die ohne Vollzug der Abschiebung aus Abschiebehaft entlassen wurden, von 17 % im Jahr 2005 auf 27% im Jahr 2007. Aktuellere Zahlen liegen dazu leider nicht vor. Diese Zahlen sprechen jedoch eindeutig dafür, daß Abschiebehaft als Druckmittel gegen Menschen eingesetzt wird, die bei ihrer "Aufenthaltsbeendigung" nicht ausreichend durch die Besorgung von Paß- oder Paßersatzpapieren mitwirken. "Wenn ich die Hafteinrichtung vorher gekannt hätte, wäre ich niemals nach Deutschland gekommen", so einer der Abschiebehäftlinge, der in der Untersuchung des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes zitiert wird.
LINKE lehnt Abschiebehaft grundsätzlich ab
Bei den im Bundestag noch vor der Sommerpause verabschiedeten Änderungen im Aufenthaltsrecht bezüglich der Abschiebehaft haben die Forderungen des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes nach einer deutlichen zeitlichen Begrenzung der Abschiebehaft und Lockerungen im Vollzug sowie dem Ausschluß besonders schutzbedürftiger Menschen keine Rolle gespielt. Nötig geworden waren die Änderungen auch nicht etwa durch eine veränderte Haltung von CDU/CSU und FDP zur Abschiebehaft, sondern durch die Umsetzung der sogenannten "Abschieberichtlinie" der Europäischen Union (EU). Den entsprechenden Paragraphen im Aufenthaltsgesetz (§ 62 AufenthG) ist jetzt ein Passus vorangestellt, demzufolge Abschiebehaft das letzte Mittel sein soll, um eine bestehende Ausreisepflicht durchzusetzen. Damit wird einerseits schlicht die Richtlinie umgesetzt, die ebenfalls Abschiebehaft als "ultima ratio" definiert. Andererseits gilt dieses Prinzip in Deutschland ohnehin: für seine Beachtung sind die Amtsgerichte zuständig, die über die Abschiebehaft entscheiden müssen. Sie mußten auch bislang schon entscheiden, ob vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Abschiebehaft verhängt wird oder auch mildere Mittel (Meldepflichten, kurz befristete Duldungen, etc.) zur Verfügung stehen und im konkreten Fall ausreichend sind. Diese Abwägung wird häufig nicht in ausreichendem Maße vorgenommen, da sich Amtsrichter mit dem komplizierten Aufenthaltsrecht meist nicht auskennen. Es kann also bezweifelt werden, daß sich an der Praxis der Anordnung von Abschiebehaft nach der Neufassung des Gesetzes etwas ändern wird.
Dies gilt noch für einen weiteren Punkt. Die Neufassung des Gesetzes formuliert, grundsätzlich sei die Abschiebehaft in speziellen Einrichtungen zu vollziehen; seien diese nicht vorhanden, dann sollten Abschiebehäftlinge getrennt von den Strafgefangenen untergebracht werden. Der Jesuiten-Flüchtlingsdienst und andere Nicht-Regierungsorganisationen leiten aus der Richtlinie aber ein klares "Trennungsgebot" ab und argumentieren, daß in gesonderten Einrichtungen für Abschiebehäftlinge deutliche Erleichterungen im Vergleich zu Strafanstalten möglich sind. Dies zeigt das Beispiel des Berliner Abschiebegewahrsams im Vergleich zur Haftanstalt Stadelheim in München: in Berlin kann deutlich häufiger Besuch empfangen werden, der auch Essen mitbringen darf, das auf Herdplatten zubereitet werden kann; die Abschiebehäftlinge in Berlin dürfen Mobiltelefone besitzen, in München sind nur zwei oder drei Telefonate im Monat über die anstaltseigenen Telefone möglich; die Einschlußzeiten erschweren dabei den Kontakt der Insassen untereinander. Auch hier hält die Bundesrepublik also am status quo fest.
Die Hauptforderung der NGO in der Debatte über die Abschiebeparagraphen waren aber die Dauer der Abschiebehaft, die nun weiterhin bis zu 18 Monate betragen kann (Menschenrechtsorganisationen fordern drei Monate Höchstdauer), und die gesetzliche Verankerung von milderen Mitteln zur Sicherstellung der Abschiebung als die Abschiebehaft. Die Inhaftierung von Minderjährigen und Familien sollte verboten werden, auch das hat die Koalition abgelehnt. Selbst wenn die Inhaftierung Minderjähriger mittlerweile auf Einzelfälle beschränkt ist, bleibt sie ein Skandal. Einzig DIE LINKE hat im Bundestag deutlich gemacht, daß sie Abschiebehaft grundsätzlich, als unverhältnismäßigen Eingriff in die Freiheitsrechte der Betroffenen, ablehnt.
Die Studie des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes macht noch einen anderen Skandal in der EU offensichtlich, bei dem es um die Wahrung der Interessen besonders Schutzbedürftiger geht. Die EU-Richtlinie verbietet die Inhaftierung von Asylbewerbern. In Deutschland dürfen Asylbewerber nur in wenigen Ausnahmen in Haft genommen werden (bei Antragstellung in der Haft und bei denen, die für die Durchführung ihres Verfahrens in einen anderen EU-Staat abgeschoben werden). Sie kommen grundsätzlich in Erstaufnahmeeinrichtungen unter und werden dann auf die Kommunen verteilt, wo sie entweder in Gemeinschaftsunterkünften oder in selteneren Fällen in Wohnungen untergebracht werden. Sie dürfen diese Einrichtungen verlassen und sich eingeschränkt (innerhalb des Bezirks der Ausländerbehörde) bewegen.
Rechtslage und Praxis in vielen anderen EU-Staaten sind noch restriktiver. In zahlreichen Staaten werden Asylbewerber in geschlossenen Aufnahmeeinrichtungen untergebracht, die sie nicht verlassen dürfen (grundsätzlich in Malta und Slowenien). Dies gilt vor allem dann, wenn sie – was in der Natur der Sache liegt – illegal eingereist sind (Zypern, Tschechische Republik, Griechenland, Ungarn, Lettland, Großbritannien, Bulgarien) oder beim Grenzübertritt angehalten werden (Belgien, Niederlande, bei Einreise über einen Flughafen auch Deutschland und Portugal). Die Höchstdauer der In-Gewahrsam-Nahme variiert stark – von 14 Tagen in Deutschland bis zu 20 Monaten in Lettland. Höchst unterschiedlich ist auch die Länge der Abschiebehaft für Migranten ohne legalen Aufenthaltstitel (also auch abgelehnte Asylbewerber). In Spanien und Portugal darf die Abschiebehaft 60 Tage nicht überschreiten, Portugal ist zudem der einzige Staat in der Erhebung, der mildere Mittel als die Abschiebehaft ausdrücklich im Gesetz auflistet. Trauriger Spitzenreiter ist Bulgarien, wo die Höchstdauer 35 Monate beträgt, bei einer durchschnittlichen Haftzeit von über 14 Monaten. Aus rechtsstaatlicher Sicht äußerst bedenklich ist, daß in vielen EU-Staaten die Anordnung der Abschiebehaft eine reine Behördenmaßnahme ist und nicht oder erst nach mehreren Tagen von einem Gericht überprüft bzw. angeordnet werden muß. Dies hat in Großbritannien und Schweden dazu geführt, daß Abschiebehaft in Einzelfällen mehrere Jahre andauern konnte. Die Umsetzung der Richtlinie wird – wenn sie tatsächlich auch in der Praxis erfolgt, was bei den Richtlinien zu Asyl und Migration oft nicht der Fall ist – also in einigen Staaten tatsächlich zu einer leichten Verbesserung führen, jedenfalls was den Rechtsschutz betrifft. An der grundsätzlichen Ausrichtung der europäischen gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik auf Abschottung und Abschreckung ändert das aber nichts.
Die Reden im Bundestag, die Ulla Jelpke am 14. April 2011 und am 7. Juli 2011 aus Anlaß der Beratungen über den Gesetzentwurf zur Umsetzung von EU-Richtlinien im Aufenthaltsrecht (darunter die sogenannte Rückführungsrichtlinie) gehalten hat, können unter www.linksfraktion.de nachgelesen werden.
Mehr von Ulla Jelpke in den »Mitteilungen«:
2011-04: Abwehr statt Integration
2010-09: »Rückführung« ins Elend