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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

75. Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens

Dr. Andrej Reder, Berlin

 

Am 8. März 2021 tagte das Nationalkomitee zur Durchführung der Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag der Unabhängigkeit Indiens und beschloss, sie am 12. März 2021 zu beginnen. Genau an diesem Tag vor 91 Jahren begann Mahatma Gandhi seinen historischen Salz­marsch gegen die berüchtigte Salzsteuer, die die britischen Kolonialherren allen Indern auferlegt hatten. 75 Wochen lang bis zum 15. August 2022 wird demnach landesweit dieses Jubiläum begangen.

Noch aus dem Gefängnis schrieb Jawaharlal Nehru, der erste Premierminister Indiens:

»Ich verabscheue den britischen Imperialismus ...; ich verabscheue das kapitalistische System; ich verabscheue die Art, wie Indien von den herrschenden Schichten Englands ausgebeutet wird … Indische Freiheit und britischer Imperialismus sind zwei Dinge, die unvereinbar bleiben ...« [1]

Am 15. August 1947 verkündete Nehru in Delhi feierlich die nationale Unabhängigkeit seines Landes vom britischen Empire. Im Zuge des Sieges der Antihitlerkoalition über den deutschen Faschismus und japanischen Militarismus und im Ergebnis des nationalen Befreiungskampfes des indischen Volkes unter Führung des Indischen Nationalkongresses (INK) entstanden auf dem indischen Subkontinent zwei unabhängige von religiös-politi­schen Gegensätzen geprägte Staaten Indien und Pakistan. Die Kolonialmacht war nicht länger in der Lage, den Subkontinent wie in den vergangenen 200 Jahren zu beherrschen, beabsichtigte aber, ihren Einfluss nicht gänzlich zu verlieren. Unter Nutzung religiöser Spannungen und darauf beruhender politischer Meinungsverschiedenheiten zwischen dem INK und der Muslimliga (ML) hat England in Geheimverhandlungen mit Muhammad Ali Jinnah, Präsident der ML, die Schaffung eines separaten islamischen Staates vereinbart. Die nationale Unabhängigkeit beider Staaten war zuvor durch verheerende Gewaltausbrü­che zwischen Hindus und Moslems belastet, die 1947 ihre jeweiligen Gebiete verlassen mussten, in denen sie jeweils Minderheiten waren. Bei diesem religiösen Exodus kamen damals etwa fünfzehn Millionen Menschen ums Leben.

Weit entfernt von einem Wohlfahrtsstaat

Die nationale Unabhängigkeit schuf günstigere Voraussetzungen für die soziale Befreiung und die Überwindung der ökonomischen Abhängigkeit vom Imperialismus. Die KP Indiens war damals die einzige Partei, die sich für antiimperialistische, antifeudale und antimono­polistische Ziele einsetzte. Sie verfolgte das Konzept einer nationaldemokratischen Revolu­tion zur Vertiefung der errungenen Unabhängigkeit. Die an die Macht gelangten Kräfte, indische Bourgeoisie und Großgrundbesitzer, waren an einer revolutionären Fortsetzung des nationalen Befreiungskampfes nicht interessiert. Ihnen ging es um den Erhalt und die Festigung der eigenen Herrschaft.

Vor allem die gravierenden sozialen Probleme sowie ungelöste Grenzfragen erwiesen sich als ernste Hindernisse für die weitere Entwicklung des Landes. Die nationale Befreiung eines ganzen Subkontinents vom britischen Kolonialjoch leidet unter der »Teile und Herr­sche«-Hinterlassenschaft bis heute. Während Indien, 1961 einer der Initiatoren der Bewe­gung nichtpaktgebundener Staaten, vom Objekt zum aktiven Subjekt der Friedens- und Entspannungspolitik in der Welt mutierte, entschied sich Pakistan im Kalten Krieg für eine enge Kooperation mit dem Westen. In Wahrung nationaler Interessen verfolgten die indi­schen Regierungen unter Nehru und Indira Gandhi in den ersten Jahrzehnten eine Politik der freundschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion, anderen sozialistischen Staaten und gegenüber Entwicklungsländern. Das Land befand sich allerdings stets im Spannungsfeld des Kalten Krieges beider Weltsysteme.

1947 war Indien vorwiegend ein rückständiges Agrarland. Im Gegensatz zu vielen anderen Kolonien verfügte es dennoch über ein nennenswertes Industrie- und handwerkliches Potential. Beeindruckt von den Errungenschaften der Sowjetunion favorisierte Nehru ein sozialistisches Gesellschaftsmodell (socialist pattern of society), einen Wohlfahrtsstaat, der die gravierende Ungleichheit der Menschen, insbesondere auf ökonomischem Gebiet überwindet, eine egalitäre Gesellschaft, in der keiner den anderen dominiert. Die Haupt­richtung der Entwicklung sollte den Erfordernissen des Landes entsprechen und frei von Gebrechen des Sozialismus und Kapitalismus sein. Im Rahmen der zwölf Fünfjahrespläne seit 1951 konnte Indien im staatlichen und im privaten Sektor bedeutende wirtschaftliche Ergebnisse erzielen. Sie haben jedoch die Ungleichheit zwischen Reichtum und Armut in nie gekanntem Maß vorangetrieben und stehen in krassem Widerspruch zur humanisti­schen Philosophie Mahatma Gandhis, dass die Armut die schlimmste Form der Gewalt sei.

Von einem Wohlfahrtsstaat ist das Land weiter denn je entfernt. Kapitalismus indischer Prägung, in die kapitalistische Weltwirtschaft integriert, bestimmt die Entwicklung. Große Teile der indischen Menschen leben weiterhin in Armut. [2] Besonders betroffen davon ist die ländliche Bevölkerung in den 600.000 Dörfern. Die ausgebliebene Landreform und die damit einhergehende generationsübergreifende chronische Verschuldung und Abhängig­keit von Millionen Bauern hat das Fass zum Überlaufen gebracht, als die BJP-Regierung Ende September 2020 drei Gesetze im Interesse der landwirtschaftlichen Konzerne verab­schiedete. Die bislang machtvollste Bauern- und Gewerkschaftsrevolte 2021 zwang die Regierung nach einem Jahr, diese Gesetze zurückzunehmen. Angesichts anhaltender Hun­gersnot im Land hat der indische Ministerpräsident den Weizenexport gestoppt. Das veran­lasste den deutschen Landwirtschaftsminister auf dem Agrarministertreffen der G7-Staa­ten in Stuttgart belehrend zu kommentieren, dass er das »sehr kritisch sehe«. [3]

In einem Grundsatzartikel zum 74. Jahrestag der Unabhängigkeit verwies die KPI(M) darauf hin [4], dass seit 2014, als die BJP (Indische Volkspartei) die Hebel der Staatsmacht erlangte, sich generell eine qualitative Veränderung vollzogen hat, nämlich eine »giftige Verschmel­zung von Hindutva (autoritärer hinduistischer Nationalismus) mit neoliberalem Kapitalis­mus, die alle Ideale des Freiheitskampfes – Demokratie, Säkularismus und nationale Sou­veränität – am stärksten gefährdet«. Premierminister Narendra Modi verkündete mehrfach, dass er bis 2022 ein »Neues Indien« schaffen wolle. Der RSS, straff organisierter hindu­nationalistisch-profaschistischer Kampfverband der BJP, strebt einen »Großindischen Staat« an, dem auch etliche Nachbarstaaten angehören sollen.

Indiens wachsende internationale Rolle

Das einstige Crown-Jewel des britischen Imperiums hat sich nach 75 Jahren zu einer bedeutenden Regionalmacht im Indo-Pazifik entwickelt. Mit über 1,3 Milliarden Einwoh­nern [5] und nahezu 900 Millionen Wahlberechtigten spielt die größte bürgerlich-parlamenta­rische Demokratie eine immer größere Rolle in der Weltpolitik.

Bereits 1974 offenbarte Indien seine wissenschaftlich-technischen Fähigkeiten, als es in Rajasthan eine unterirdische Nuklearexplosion vornahm. Es verfügt weit über 100 nukleare Sprengsätze und ist in der Lage, sowohl Mittelstecken- als auch Interkontinentalraketen herzustellen. Nach den USA, Frankreich, Japan, Russland und Südkorea nimmt Indien den sechsten Rang bei der Anzahl von Atomkraftwerken ein. Unter den größten Industriestaa­ten nimmt es ebenfalls den sechsten Platz ein. Der IT-Sektor spielt ebenso eine herausra­gende Rolle wie die Pharmaindustrie, weit über Indiens Grenzen hinaus.

Seit Erringung der Unabhängigkeit wurde das Land von unterschiedlichen parteipolitischen Zentralregierungen in Delhi im Interesse der Besitzenden geführt. Linke Fortschrittskräfte vermochten nur punktuell und zeitweise Alternativentwicklungen einzuleiten. Ihre Krise hält weiterhin an. Die jahrelange Zersplitterung (die kommunistische Bewegung ist seit 1964 gespalten) und Orientierung auf Parlamentarismus beeinträchtigte positive Ansätze insbesondere in den Unionsstaaten Westbengalen, Kerala und Tripura.

Der diesjährige Jahrestag fällt in eine Zeit turbulenter Ereignisse in Europa und im Fernost. Angesichts bitterer Erfahrungen des Kolonialismus sowie der Entwicklung seit 1947 ver­folgt die Republik (1950) Indien eine souveräne Außenpolitik. In Fortsetzung der traditio­nell freundschaftlichen Beziehungen (Hindi-Russi bhai bhai – Inder und Russen sind Brü­der) haben Indien und Russland auch nach dem Zerfall der Sowjetunion ihre Zusammenar­beit zum beiderseitigen Nutzen bis in die Jetztzeit fortgesetzt. Bei ihrem Gipfeltreffen in Delhi am 6. Dezember 2021 haben Wladimir Putin und Narendra Modi die Weichen zum Ausbau der »besonderen und privilegierten strategischen Partnerschaft« zwischen ihren Staaten gestellt. Nach dem Erwerb des russischen Luftabwehrsystems »S 400« wurden 28 weitere Abkommen, u.a. ein Joint Venture zur Herstellung von 750.000 russischen »AK-203«-Sturmgewehren sowie eine Verlängerung der militärisch-technischen Kooperation um zehn Jahre, vereinbart. Neben Fragen der bilateralen wirtschaftlichen und militärischen Kooperation wurde das russisch-indisch-chinesische Format (RIC) als entscheidendes Forum der mehrseitigen BRICS- und SCO-Programme [6] erörtert. Gelänge eine Art sicher­heitspolitische Harmonisierung des RIC-Formates, hätte das weitreichende geostrategi­sche Konsequenzen nicht nur für die indopazifische Region. Der 2007 ins Leben gerufene QUAD (Quadrilateral Security Dialog), dem neben den USA, Japan, Australien auch Indien angehört, würde seine Wirkkraft gegen die VR China einbüßen. Russland könnte vor allem infolge seiner strategisch bewährten Beziehungen zu China und Indien nicht zuletzt im mili­tärischen Bereich eine Art Scharnierfunktion erlangen. Diese Kooperation mit Russland be­sitzt für das südasiatische Land seit Jahrzehnten eine sicherheitsrelevante Dimension. Sei­ne Luftstreitkräfte sind zu 80 Prozent, die Seestreitkräfte zu 75 Prozent und die gesamten Streitkräfte zu 70 Prozent mit der Ausrüstung russländischer Herstellung ausgestattet. Noch in diesem Jahr könnten indische Astronauten unseren Planeten umkreisen.

Die Haltung Indiens und Chinas zum Krieg in der Ukraine wird von eigenen historischen Erfahrungen, von ihren nationalen Interessen sowie dem Respekt gegenüber den Sicher­heitsinteressen Russlands bestimmt. Trotz massiven Druckes seitens der NATO und der EU (Virtuelles Treffen von Präsident Biden mit Premierminister Modi am 12. April, Besuche von Boris Johnson am 21./22. April in Delhi und Ursula von der Leyen am 25. April, Narendra Modis Anwesenheit am 2. Mai in Berlin und auf dem G7-Gipfel Ende Juni 2022) ist Indien nicht bereit, seine nationalen Interessen den »wertebasierten« Weltordnungsam­bitionen der USA zu opfern.

Juli 2022

 

Anmerkungen: 

[1] Jawaharlal Nehru »Indiens Weg zur Freiheit«, Seiten 465-467, Rütten & Loening Berlin 1957.

[2] DownToEarth.org, 7.4. 2021. Seit 2011 sind in Indien keine statistischen Erhebungen über die Armut mehr erfolgt. Laut UNO-Angaben lebten 2019 364 Mio. Inder (28 Prozent der Bevölkerung) unter dem Existenzminimum von $1,90 täglich.

[3] »junge Welt«, 16. Mai 2022.

[4] Peoples Democracy, August 15th 2021: »Independence Day: At a Critical Juncture«.

[5] The Hindu 15.8.2021: In Indien leben 1,38 Mrd. Menschen, die sich in 22 Hauptsprachen und in 20.000 Dialekten verständigen.

[6] SCO: Shanghai-Cooperation-Organisation seit 2001.

 

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2021-09: Nie wieder Krieg von deutschem Boden!

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