25 Jahre Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion – Deutschland noch zweigeteilt
Prof. Dr. Christa Luft, Berlin
Am 1. Juli 1990 trat die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion (WWS) zwischen der BRD und der DDR in Kraft. Damit rückte die staatliche Vereinigung in greifbare Nähe. Eine ostdeutsche Bevölkerungsmehrheit fieberte der Ablösung der »Alu-Chips«, wie die Mark der DDR gern abfällig genannt wurde, durch die harte D-Mark entgegen. Ein Betriebsbesuch führte mich als Mitglied der Modrow-Regierung im März 1990 kurz vor der Volkskammerwahl in eine Auerbacher Strumpffabrik. In den Werkhallen warnten Spruchbänder und Aufkleber der CSU-nahen Deutschen Sozialen Union vor »neuen sozialistischen Experimenten«. Befragt nach ihren Sorgen und Zukunftserwartungen, antwortete mir eine Wirkerin unter zustimmenden Gesten der Umstehenden: »Das Wichtigste ist, dass wir so schnell wie möglich die D-Mark kriegen, dann wird alles gut«. Wie dort leuchteten auch andernorts die Augen, wenn die Rede auf das in Aussicht stehende harte Geld kam.
D-Mark-Fieber
Den Höhepunkt fand das in der skandierten Losung »Kommt die D-Mark bleiben wir, kommt sie nicht, gehen wir zu ihr«. Ja sicher, man könnte sich damit lang gehegte Wünsche erfüllen. Verbreitet war die Annahme, die D-Mark trete zusätzlich in den ostdeut-schen Alltag und bereichere ihn. Dass jedoch mit ihrer Einführung gewohnte, als annehmlich empfundene soziale Errungenschaften verlustig gehen würden, war für viele kein Thema. Überdies hatte Bundeskanzler Kohl versprochen, niemandem solle es schlechter gehen als zuvor, dafür vielen besser. Es werde gelingen, die in der DDR neu entstandenen Länder schon bald wieder in blühende Landschaften zu verwandeln. Über den von den Ostdeutschen zu zahlenden Preis schwieg er. Bei einer Bundestagssitzung im Mai 1990 in Bonn, zu der der Volkskammerausschuss »Deutsche Einheit« eingeladen war, ließ Bundesfinanzminister Waigel die Katze aus dem Sack. Wir DDR-Abgeordneten saßen auf der Parlamentstribühne, als der Bayer sich über das Fernsehen an die deutschen Landsleute wandte und sagte: Wir (also die BRD) geben euch das Beste, was wir haben - die harte Mark und die soziale Marktwirtschaft. Das kostet uns natürlich was und dafür brauchen wir ein Pfand. Das ist die rasche Privatisierung des Volkseigentums, das in der bundesdeutschen Wirtschaftspraxis ein Fremdkörper sein würde.
Treuhand nimmt Kurs auf komplette Privatisierung des Volkseigentums
Kein Wunder also, dass als Pendant und zeitgleich zur Vorbereitung der WWS auch die von der Modrow-Regierung Anfang März 1990 geschaffene Treuhandanstalt »zur Bewahrung des Volkseigentums im Interesse der Allgemeinheit« auf Geheiß der Bonner Seite von der de Maiziere-Regierung in eine Anstalt zur raschen und kompletten Privatisierung des volkseigenen Vermögens umgewandelt wurde. Die Treuhand wurde Herrin über 8.500 Kombinate und Betriebe, 20.000 große und kleine Einzelhandelsgeschäfte, 7.500 Betriebe der Gastronomie, 900 Buchläden, 1854 Apotheken, 3,68 Mio Hektar land- und forstwirtschaftliche Flächen und 25 Mrd. m² Immobilien. Den Marktwert dieses »Salats«, wie er nannte, was er unter seinen Händen habe, schätzte Treuhandpräsident Rohwedder nach Amtsübernahme auf rund 600 Mrd. D-Mark. Die in Niedersachsen abgewählte CDU-Finanzministerin Birgit Breuel, die nach Rohwedders bis heute nicht aufgeklärten Ermordung an die Spitze der Treuhand rückte, hinterließ nach vierjähriger Privatisierungsorgie einen Schuldenberg von 257 Mrd. D-Mark! Als »Argument« für diese grottenschlechte Bilanz sollte herhalten, die DDR-Kombinate und Betriebe seien mehrheitlich veraltet, nicht wettbewerbsfähig und umweltschädigend gewesen, hätten daher nur schwer oder nur mit erheblichen staatlichen Zuschüssen einen neuen Eigentümer gefunden.
Ja, es gab neben hochmodernen Betrieben solche mit stark veralteten Produktionsan-lagen. Bei offenen Märkten hätten nicht alle überleben können, zumal sich mit der abrupten D-Mark-Einführung ihre Kostensituation einschneidend verschlechterte, Anpassungsfristen und -maßnahmen abgelehnt worden waren und die bisherigen Hauptabnehmer ostdeutscher Maschinen, Anlagen, Konsumgüter usw. in Osteuropa den Preis nicht über Nacht in konvertierbarer Währung bezahlen konnten.
Größte Vernichtung von Produktivvermögen in Friedenszeiten
3500 Betriebe wurden komplett abgewickelt. Selbst Produzenten von Spitzenerzeugnissen wie die Kombinate Textima oder Fortschritt Landmaschinen hatten keine Chance. Westdeutsche Konkurrenz übernahm deren Märkte. Korruption war Alltag. So wurden z.B. für ostdeutsche Werftenstandorte vorgesehene Gelder per Bilanzfälschung in den Westen zur Bremer Vulkan-Werft abgezweigt. Die ökonomischen und sozialen Folgen der hastigen Privatisierung waren gravierend. Entindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit, Abwanderung junger, hochqualifizierter Leute, Rückgang der Geburtenrate, Verödung ganzer Landstriche, entschädigungslose Enteignung der Ostdeutschen von dem, was sie mit ihren Händen nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen hatten, Vermögenstransfer in die alten Bundesländer sind Stichworte. Die zur Vermeidung einer sozialen Katastrophe notwendig gewordenen Finanztransfers in die neuen Bundesländer (seit 1990 ca. zwei Billionen Euro), darunter zur Alimentierung arbeitslos gewordener Menschen, sollten und sollen immer noch für Demut der dortigen Bevölkerung sorgen.
Dafür aber gibt es keinen Grund, denn es fehlte von Anfang an und bis heute
- die Gegenrechnung des Vermögenstransfers von Ost nach West (Auslands- und Verwaltungsvermögen, NVA-Vermögen, Grund und Boden…),
- die Berücksichtigung von Gewinnen der in den neuen Ländern tätigen Tochterunternehmen von Mutterhäusern, die in den alten Ländern ihren Sitz haben, wohin deren Steuern fließen,
- die Wirtschaftsleistung, die abgewanderte oder pendelnde hochqualifizierte Osteutsche in den alten Ländern erbringen. Allein bis 1993 zogen 1,4 Mio Menschen in den Westen,
- der zusätzliche Absatz von Westfirmen in den NBL, was deren Unternehmensgewinne erhöhte und dem Staat mehr Steuereinnahmen brachte.
Selbst westdeutsche Ökonomen kommen inzwischen zu dem Schluss: »Die Ostdeutschen haben die Vereinigung zum großen Teil allein bezahlt«, so Ulrich Blum im Jahre 2010 als damaliger Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung Halle.
Insgesamt handelte es sich um die größte Vernichtung von Produktivvermögen in Friedenszeiten, um einen beschämenden Umgang mit Beschäftigten und um Entwertung von Qualifikationspotenzialen. Im Freistaat Sachsen z. B. blieben von 1,2 Mio Industriearbeitsplätzen zu DDR-Zeiten am Treuhandende 160.000 übrig. Statt zur Nutzung vorhandener Potenziale und Kompetenzen sowie zur Orientierung auf Zukunftstechnologien kam es zum Nachbau West. Es entstanden vornehmlich verlängerte Werkbänke von westdeutschen oder ausländischen Unternehmen.
Die Folgen dieser Produktivkapitalvernichtung sind lang anhaltend, z. T. irreparabel.
Nach jüngst vorgelegten Untersuchungen des in Wien lehrenden Historikers und Kulturwissenschaftlers Philipp Ther über Entwicklungen des neoliberalen Europas nach dem Mauerfall brach die Wirtschaft in keinem anderen osteuropäischen Land so stark ein wie in der ehemaligen DDR nach Währungsunion und Vereinigung. Sie verlor 27 Prozent gegenüber dem Wert von 1989. Die gerissene Lücke füllten sofort vor allem westdeutsche Anbieter und sackten hohe Gewinne ein. Denjenigen, die privat am meisten profitiert hatten, wurde von der Kohl-Regierung 1997 überdies noch die Vermögensteuer erlassen.
Unterprivilegierter Status Ost mit Grundgesetz vereinbar gemacht
Im Ergebnis der radikalen Privatisierung entstand im Osten ein Defizit an Großunternehmen. Mit Ausnahme der Deutschen Bahn AG fehlen Firmenzentralen, in denen normalerweise Forschungs- und Marketingaktivitäten angesiedelt sind. Übrig blieb eine vorherrschend kleinteilige Wirtschaft, die naturgemäß weniger produktiv ist. Das BIP/Einwohner in den neuen Bundesländern stagniert bei knapp 70 Prozent des Westniveaus lt. aktuellem Bericht der Bundesregierung. Das Steueraufkommen je Einwohner betrug 2013 in den neuen Ländern 937 Euro und 1.837 Euro in den alten. Für eine kleinteilige Unternehmensstruktur ist ein geringerer gewerkschaftlicher Organisationsgrad der Beschäftigten typisch. Bis heute fehlt in der Industrie die Angleichung der Löhne und Gehälter an das Westniveau. Der Abstand zu den ABL beträgt im Schnitt immer noch 20-30 Prozent. Das reproduziert fortwährend ungleiche Rentenansprüche bei Männern und Frauen (aktueller Rentenwert ab 1. Juli 2015 im Osten 27,05, im Westen 29,21 Euro). Gleiches Rentenrecht soll erst 2019 in Ost und West gelten. Es zeigen sich gesundheitliche Beeinträchtigungen wegen Entwertung von Berufserfahrungen und Stress bei der Arbeitssuche, auch bei Gründung eigener kleiner Unternehmen.
Von der »Wahrung einheitlicher Lebensverhältnisse«, wie es zur Zeit des DDR-Beitritts zur Bundesrepublik ein Passus des Grundgesetzes noch gebot, ist keine Rede mehr. 1994 wurde er in »Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse« abgeändert. Damit wurde der unterprivilegierte Status Ostdeutschlands mit dem Grundgesetz dauerhaft vereinbar gemacht. Die von Politikern vor allem der alten Länder ausgehenden Debatten um die Beendigung, des Solidarpakts bzw. die Kürzung von Solidaritätszuschlag und Finanztransfers werden schärfer.
Vom Nachbau West zu zukunftsorientiertem sozial-ökologischem Umbau Ost
Der Gebrauch der gleichen Währung in zwei Landesteilen sichert nicht automatisch wirtschaftliche und soziale Konvergenz. Zu falsch waren die Weichenstellungen für die Dreifach-Union. Natürlich sind nach einem Vierteljahrhundert neben Verlusten und Anpassungsschmerzen der Ostdeutschen positive Entwicklungen nicht zu verkennen: Ausgebaute Infrastruktur, sanierte Wohnungen, leistungsfähiges Telekommunikationsnetz, eine Anzahl von Unternehmen, die sich auf den Märkten wieder einen Namen gemacht haben usw. Aber das Verhältnis zwischen Ost und West ist nicht frei von Spannungen. Dennoch bewerten 75 Prozent der Menschen zwischen Elbe und Oder die Vereinigung im Rückblick als positiv. Bei denen zwischen Elbe und Rhein sind es hingegen nur 45 Prozent. Das wird daran liegen, dass sie das Gefühl haben, durch die Einheit kaum etwas hinzugewonnen zu haben, denn attraktive soziale Errungenschaften der DDR kamen für sie gar nicht erst zum Tragen. So entstand der Eindruck, die Ostdeutschen hätten nichts Brauchbares in die Einheit eingebracht. Jetzt kommt es darauf an, vom Nachbau West endgültig Abschied zu nehmen und einen zukunftsorientierten Weg des sozial-ökologischen Umbaus einzuschlagen. Dabei gebührt Entwicklungsprojekten das Primat, die die Stärken und Traditionen der ost-deutschen Wirtschaft und Gesellschaft bewusst fördern. Nur so können die Potenziale der neuen Länder für eine selbsttragende Entwicklung zum Nutzen des ganzen Landes ausgeschöpft werden.
Juni 2015
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