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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

20 Jahre ohne UdSSR. GUS – Eurasische Union

Egon Krenz, Dierhagen

 

Am 20. Dezember 2011 hatte Egon Krenz Gelegenheit, auf einer Konferenz im Westen der Republik Belarus zu sprechen, die dort am 20. und 21. Dezember aus Anlass der vor 20 Jahren vollzogenen Auflösung der UdSSR und der Gründung der GUS stattfand. (Vgl. auch http://news.belta.by/de/pointOfView?id=670038&pointOfView=1)

 

Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir, vor meinen Ausführungen zum Thema dieser Konferenz daran zu erinnern, dass Belorussland als Teil der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken einen großen Beitrag zur Zerschlagung des Hitlerfaschismus geleistet und dabei unermessliches Leid erfahren hat. Dies ist von deutschen Antifaschisten nicht vergessen. Es ist für mich aber beschämend, wie sich bestimmte deutsche Politiker der Gegenwart zu Ihrem Land, zu Ihrem Volk verhalten.

Das Wort nehme ich nicht als studierter Historiker, auch nicht als Vertreter einer Partei oder Institution. Ich spreche als Zeitzeuge, der seit 1985 an den Beratungen des Warschauer Vertrages und des RGW auf höchster Ebene teilgenommen hat. Das war die Zeit, als Gorbatschow sich anschickte, mit der Perestroika die "zweite Oktoberrevolution" durchzuführen – wie er damals sagte. Ich vertraute ihm und vertrat – wie sich später herausstellte – die irrige Auffassung, dass seine Politik ihre Wurzeln bei Lenin habe.

Inzwischen soll Gorbatschow in einer Rede gesagt haben: "Mein Lebensziel war die Zerschlagung des Kommunismus ... Am meisten konnte ich dafür in den höchsten Funktionen tun. Ich musste die gesamte Führung der UdSSR entfernen. Ich musste auch die Führung in den sozialistischen Staaten beseitigen" [Michael Gorbatschow, Vortrag an der Amerikanischen Universität in Ankara. Veröffentlicht in: Dialog Prag Nr. 146., Oktober 1999.]. Da ich diese Aussage für unglaublich hielt, fragte ich schriftlich bei ihm an, ob das Zitat korrekt ist. Eine Antwort erhielt ich nicht.

Wie schon die alten Lateiner wussten: Keine Antwort ist auch eine Antwort.

Ich empfinde Gorbatschows Bekenntnis, als Demütigung von Millionen Menschen, die ihn einst als Hoffnungsträger eines erneuerten Sozialismus sahen.

Die Tragik besteht darin, dass seine Politik einherging mit der Zerstörung einer Weltmacht, die trotz aller Unvollkommenheiten eine Alternative zum Kapitalismus war. Einer Weltmacht, die wesentlich dazu beigetragen hat, dass Europa von 1945 bis 1990 die längste Friedensperiode seiner neuesten Geschichte erlebte. Einer Weltmacht, ohne deren Beitrag zur Zerschlagung des deutschen Faschismus die Menschheit möglicherweise in die Barbarei zurückgefallen wäre. Diese welthistorischen Leistungen dürfen trotz notwendiger Kritik am Vergangenen niemals vergessen werden. Hitler konnte im heißen Krieg die Sowjetunion nicht zerschlagen. Das geschah erst 45 Jahre später infolge des Kalten Krieges, den beide gesellschaftlichen Weltsysteme gegeneinander geführt haben.

Die Zerstörung der UdSSR war für mich eine tiefe Zäsur der Weltgeschichte. Sie ist mit schwerwiegenden globalen Folgen verbunden, die bis in die Gegenwart reichen und weiter anhalten. Die Welt von heute ist weder gerechter noch sicherer geworden. 1991 kam nicht, wie viele Menschen gehofft hatten, ein besserer Sozialismus, sondern die Rekapitalisierung Osteuropas. Ohne das sozialistische Korrektiv zeigt der Kapitalismus nun unverhüllt sein menschenfeindliches Gesicht. Wir leben heute unter der Diktatur des Finanzkapitals. Die Finanzkrise wurde längst zu einer Systemkrise. Deutsche Konservative wollen ein Europa nach deutschen Plänen. Auf dem jüngsten CDU-Parteitag in Leipzig schwärmte einer ihrer Sprecher: "Jetzt wird in Europa deutsch gesprochen" [Rede von Volker Kauder am 15. November 2011 auf dem CDU-Parteitag in Leipzig.]. Altkanzler Helmut Schmidt sprach auch mir aus dem Herzen, als er so etwas "schändliche deutschnationale Kraftmeierei" [Rede von Helmut Schmidt am 4. Dezember 2011 auf dem SPD-Parteitag in Berlin.] nannte.

Mit dem Ende der Sowjetunion haben ihre Partner in Asien, Afrika, Lateinamerika, die internationale kommunistische und Arbeiterbewegung, die weltweite Friedensbewegung und viele andere demokratischen Kräfte einen wichtigen Verbündeten verloren. Viele dort noch existierende Probleme haben ihre Ursache darin, dass es die UdSSR mit ihrer solidarischen Haltung für diese Völker nicht mehr gibt. In Europa wurden nach 1991 wesentliche Ergebnisse des Sieges der Sowjetunion über den deutschen Faschismus revidiert. Die Osterweiterung der NATO reicht bis an die Grenzen Russlands und anderer früherer Sowjetrepubliken. Die Welt erlebte und erlebt Kriege wie die gegen Jugoslawien, den Irak, Libyen sowie die Beteiligung deutscher Soldaten am Krieg in Afghanistan. NATO-Staaten drohen mit dem Einsatz militärischer Gewalt gegen Syrien und den Iran. Das Ende der UdSSR ist keineswegs, wie oft behauptet wird, das Ergebnis einer Freiheitsrevolution. Alle Fakten sprechen dafür, dass die Sowjetunion von oben zerstört wurde, von Teilen ihrer politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten. Letztlich von unterschiedlichen Fraktionen ihrer Kommunistischen Partei. Bewahrheitet hat sich Lenins Voraussage: Keiner kann den Kommunismus kompromittieren oder besiegen, wenn ihn die Kommunisten nicht selbst kompromittieren oder besiegen.

Die deutsche Bundeskanzlerin hielt kürzlich eine Rede, die unter dem Titel "Dokumente vom Mut und Lebenswillen" publiziert wurde. Sie nannte darin das Jahr 2011 ein "Gedenkjahr". Naheliegend wäre gewesen, sie hätte darin an den 70. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die Sowjetunion und die Verteidigung der Festung Brest durch die Rote Armee erinnert. Sie tat es nicht. Stattdessen freute sie sich, dass vor zwanzig Jahren die "Ära der Sowjetunion" zu Ende gegangen sei und der Westen Erfolge auf dem Balkan erreicht habe.

Im Klartext bedeutet Letzteres: Die NATO hat einen Krieg gegen Jugoslawien begonnen und gewonnen. Das wiedervereinte Deutschland brach den Grundsatz "von deutschem Boden darf nie wieder Krieg ausgehen". Es kämpfte an der Seite der USA ebenso mit, wie es heute an ihrer Seite Krieg in Afghanistan führt. Das wäre zu Zeiten des Bestehens der UdSSR und der DDR undenkbar gewesen.

Wir erleben gegenwärtig eine absurde Erinnerungskultur. Die Schuld an der einstigen Spaltung des Kontinents wird einseitig der Sowjetunion und den einstmals sozialistischen Ländern angelastet. Bei der Deutung der Geschichte der sozialistischen Länder werde ich unwillkürlich an das "Kommunistische Manifest" erinnert, in dem es heißt: "Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet …" [Marx/Engels "Manifest der Kommunistischen Partei".] Den nachwachsenden Generationen soll vermittelt werden, dass die sozialistischen Länder der "Hort des Bösen" waren. Auch ich schaue mit Zorn auf Stalins Verbrechen. Man darf die Sowjetunion jedoch nicht auf tatsächliche oder vermeintliche Verbrechen reduzieren. Mit einem nur auf Stalin verengten Blick wird die Geschichte des Kontinents auf den Kopf gestellt. Das Schanddatum deutscher Geschichte ist der 30. Januar 1933. Ohne die Machtergreifung durch Hitler hätte es keinen Zweiten Weltkrieg gegeben. Ohne Zweiten Weltkrieg hätte es keine Beschlüsse von Jalta und Potsdam gegeben. Ohne Kalten Krieg keine zwei deutsche Staaten, keine Grenze quer durch Europa. Ohne Gründung der NATO kein Warschauer Vertrag. Die Lehre aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts ist doch: Nicht der Sozialismus, sondern der deutsche Imperialismus, der Hitler hervorgebracht hat, war die Ursache allen Übels.

Um diese Wahrheit aus der Welt zu schaffen, versuchen die Herrschenden den Eindruck zu erwecken, als sei rot gleich braun, Sozialismus gleich Faschismus. Das ist nicht nur eine Diskreditierung des Sozialismus, sondern ist auch eine Verharmlosung des Faschismus. Von bestürzender Aktualität ist das warnende Wort von Bertolt Brecht: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch." [Zitat aus Brechts Stück Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui.] Medien berichten derzeit über 182 rechtsextreme Morde seit der Vereinigung beider deutscher Staaten, über Terroraktionen von Neonazis in Deutschland, von Märschen rechtsextremer Kolonnen und von Aktivitäten einer rechtsextremen Partei. Viele Menschen fragen sich jedoch, warum der Staat bestenfalls halbherzig auf die Neonazis reagiert und die NPD immer noch nicht verboten ist? Dies hängt auch damit zusammen, dass die Verteufelung der Sowjetunion und der DDR, der Antikommunismus insgesamt, aufwendiger betrieben wird, als die Auseinandersetzung mit dem Neonazismus. Der wichtigste europäische Erinnerungstag ist für mich nicht das Datum, an dem die Sowjetunion oder die DDR aufhörten zu bestehen, sondern der 8. Mai 1945, jener Tag, an dem Deutschland und Europa vom Faschismus befreit wurden.

Gorbatschow behauptet, er habe 1985 den verbündeten sozialistischen Ländern Freiheit und Souveränität gegeben. Gesagt hat er es. Getan nicht. Jedenfalls nicht gegenüber der DDR. Kürzlich haben Gorbatschow-Vertraute 1.400 Seiten Protokolle [Alexander Galkin, Anatoli Tschernajew, "Michael Gorbatschow und die Deutsche Frage" Moskau 2006 russ. S.246. Übersetzung Horst Richter a.a.O. S. 118.] über die die Haltung ihres Chefs zur "deutschen Frage" veröffentlicht. Wenn wahr sein sollte, was da drin steht, trifft zu, dass Gorbatschow spätestens seit 1987 die DDR als Pfand nutzte, mit dem er wucherte, um das Vertrauen der USA und der alten Bundesrepublik zu buhlen.

So erscheint auch mein Gespräch, das ich am 1. November 1989 in Moskau mit ihm hatte, in einem neuen Licht. Ich fragte ihn damals: Welchen Platz hat die DDR in Deinem "Europäischen Haus"? Ich erinnerte daran, dass die DDR im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges und des folgenden Kalten Krieges entstanden war. Sie ist, so sagte ich, auch ein Kind der Sowjetunion. Meine Frage an ihn lautete: Steht die Sowjetunion weiterhin zu ihrer "Vaterschaft"? Seine Antwort: Die deutsche Einheit steht nicht auf der Tagesordnung. Die Sowjetunion und die DDR wären Bündnispartner für immer.

Liest man heute allerdings, was sein Mitarbeiter Anatoli Tschernajew nur wenige Tage später seinem Tagebuch anvertraut haben will, dann wird die Heuchelei deutlich, mit der die DDR behandelt wurde: "Eine ganze Epoche des sozialistischen Systems" so heißt es dort, "ist zu Ende gegangen… Das ist das Ende von Jalta… Seht, was Gorbatschow gemacht hat. In der Tat, er hat sich als groß erwiesen…" [Ebenda.] Nein, einen Freund hinter seinem Rücken aufzugeben, nenne ich nicht "groß".

1949 nannte die sowjetische Regierung die Gründung der DDR einen "Wendepunkt in der Geschichte Europas" [Siehe Telegramm J.W. Stalins zur Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 an die DDR-Führung.]. Auch die Aufgabe der DDR und ihre Einverleibung in die Bundesrepublik Deutschland war eine Zäsur in der europäischen Geschichte. Das von seinen Konzernen und Banken beherrschte vereinte Deutschland wurde, was einige europäische Politiker immer befürchtet hatten, zum dominierenden Staat in der Europäischen Union. Die Gegensätze innerhalb Deutschlands verlaufen heute zwischen oben und unten, zwischen arm und reich, und sie verschärfen sich, wie erst unlängst eine Studie der OECD bestätigte. Doch auch zwischen Ost- und Westdeutschland sind die Unterschiede nach zwanzig Jahren nicht beseitigt. Noch immer erhalten die Bürger im Osten Deutschlands weniger Lohn und niedrigere Renten, herausragende Wissenschaftler der DDR wurden aus Hochschulen und Forschungseinrichtungen entfernt und oft durch weniger qualifizierte Kräfte ersetzt. Die mühsam errichtete industrielle Basis der DDR wurde weitgehend zerstört oder den westdeutschen Monopolgruppen angegliedert.

Die Erfahrungen der Völker der Sowjetunion und der anderen sozialistischen Länder beim Aufbau einer ausbeutungsfreien Gesellschaft sind für die heutigen und künftigen Generationen unverzichtbar. "Sozialismus oder Barbarei" sei die Perspektive der Menschheit, meinte Rosa Luxemburg bereits vor 100 Jahren. Ich denke, die Menschheit wird sich für das Erste entscheiden.

Genosse Egon Krenz begeht am 19. März 2012, begleitet von vielen guten Wünschen, seinen 75. Geburtstag.

 

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