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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

100 Jahre Baseler Sozialistenkongress

Dr. Peter Strutynski, Kassel

 

Friedensbewegung und Arbeiterbewegung zwischen Antimilitarismus und Patriotismus

 

Zweifellos gehörte der Baseler Sozialistenkongress am 24. und 25. November 1912 zu den Höhepunkten der proletarischen Antikriegsbewegung im Zeitalter des klassischen Imperialismus. Aufgeschreckt vom kurz zuvor entfesselten Balkankrieg kamen über 500 Delegierte aus 23 Staaten zusammen, um Verabredungen im Kampf gegen einen drohenden europäischen Krieg, der durchaus schon als kommender Weltkrieg wahrgenommen wurde, zu treffen. Bemerkenswert war der Ort der Versammlung: Die Sozialisten tagten im Münster von Basel, den ihnen der zuständige Pfarrer Täschler aus tiefer Überzeugung zur Verfügung gestellt hatte. Bemerkenswert aber auch die Ernsthaftigkeit der Beratungen und vor allem das einmütig verabschiedete "Manifest über die Kriegsgefahr und die Aufgaben des internationalen Proletariats", das kein geringerer als Jean Jaurès vorgetragen hatte. Jaurès wurde neun Monate später von einem französischen Chauvinisten ermordet - so als müssten die letzten großen Antimilitaristen aus dem Weg geräumt werden, bevor das große Völkermorden im August 1914 beginnen konnte. Das Manifest von Basel machte es der internationalen Arbeiterbewegung zur Aufgabe, den drohenden Krieg zu verhindern und, falls das nicht möglich wäre, "für dessen rasche Beendigung einzutreten" und die dabei entstehende politische Krise zu nutzen, um "die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen". Bemerkenswert - und von Lenin besonders lobend hervorgehoben - war schließlich auch die konkrete Zuweisung politischer Aufgaben an die verschiedenen nationalen Abteilungen der Arbeiterbewegung. Weniger deutlich blieb die Beschreibung der einzusetzenden Kampfmittel: Der Protest in den Parlamenten wurde an erster Stelle genannt, dann wurden "große Kundgebungen" erwähnt und drittens "alle Mittel", die euch die Organisation und die Stärke des Proletariats in die Hand geben". Keine Rede von Widerstand, Kriegsdienstverweigerung oder gar von Massenstreik.

Es muss für die internationale sozialistische Arbeiterbewegung seinerzeit eine bittere Erfahrung gewesen sein, dass die gewaltigen antimilitaristischen Manifestationen am Vorabend des 1. Weltkriegs den drohenden Krieg nicht aufhalten konnten, ja, dass eine weit verbreitete Antikriegsstimmung in der arbeitenden Bevölkerung und in großen Teilen der Intelligenz binnen Wochen und Monaten in eine Kriegszustimmung umschlug, die bisweilen chauvinistische Züge annahm. Dieser Meinungsumschwung ist in der historischen Literatur vielfach belegt. In der bürgerlichen Literatur wird er nicht selten denunziatorisch gegen die damalige Sozialdemokratie gewendet, der man zwar einerseits wohlwollend bescheinigt, dass sie damit endlich "im Staat" (man lese: im "Vaterland") angekommen sei, der man aber zugleich diese Abkehr von hergebrachten antimilitaristischen Positionen zum Vorwurf machte - als Beweis sozusagen für die moralische Verkommenheit der Arbeiterpartei!

Nun könnte man es sich einfach machen und dieser Kritik mit dem Hinweis auf die wahren Kriegstreiber und Kriegsprofiteure im wilhelminisch-imperialistischen Deutschland begegnen, die zuallererst in der Schwerindustrie an Rhein und Ruhr, im Schiffbau an der Küste und in all jenen großbürgerlichen und adligen Kreisen zu suchen waren, die zum einen ihren Konkurrenzkampf mit dem britischen Empire ausfechten wollten und zum anderen mit dem sozialdemokratischen Oppositionsspuk im Inneren gleich mit aufräumen wollten. Doch es geht hier weder darum, das gesicherte Wissen der seriösen Geschichtswissenschaft auszubreiten - wozu schon vor einigen Jahrzehnten Fritz Fischer und George W. Hallgarten einen wichtigen Grundstein gelegt hatten -, noch geht es darum, die ideologischen Schlachten der damaligen Kontrahenten in der Arbeiterbewegung nachzuzeichnen oder gar nachzuleben. Mich interessiert an dieser Stelle also nicht die "Verrats"-These, wonach aus ehemals den Frieden predigenden Arbeiterführern über Nacht - konkret mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten am 4. August 1914 - begeisterte Kriegsbefürworter geworden seien, die es geschafft hätten, ebenfalls "über Nacht" die große Masse der antimilitaristisch eingestellten Arbeitermassen in die Irre zu führen. So viel Charisma hatten diese Arbeiterführer nicht (Bebel, der über das Charisma verfügt hatte, starb bekanntlich 1913, ob er es mit allen Konsequenzen gegen den Krieg eingesetzt hätte, wissen wir nicht; das hätte aber durchaus seiner Persönlichkeit entsprochen). Jedenfalls nicht so viel Charisma, um aus Millionen antimilitaristischen Sozialdemokraten von einem Tag auf den anderen Militaristen zu machen. Solche Prozesse müssen tiefer angelegt sein und haben in der Regel einen längeren Vorlauf.

Mein Ansatz ist ein anderer. Ich möchte zeigen, dass die Arbeiterbewegung historisch weder eine pazifistische noch eine durchgängig antimilitaristische Bewegung war und dass sie auch heute strukturell mal so und mal so sein kann. Ähnlich verhält es sich mit der Friedensbewegung, die erstens nicht den Pazifismus erfunden hat und zweitens nie vor bellizistischen Anwandlungen gefeit war und ist. Und schließlich soll nach Ursachen für die mehr oder weniger hilflose ideologische und emotionale Auslieferung der Friedens- und Arbeiterbewegung an die Kriegspropaganda der je Herrschenden gefragt werden. Ich werde das im Folgenden thesenhaft versuchen.

1. Die moderne sozialistische Arbeiterbewegung, wie sie sich im 19. Jahrhundert unter dem bestimmenden Einfluss des Marxismus in Europa, Nordamerika und später weltweit ausgebreitet hat, trat keineswegs als Friedens- oder gar als pazifistische Partei auf den Plan. Vielmehr interessierte sie sich für den mit der industriellen Revolution entstandenen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit und war darauf aus, zur sozialen und kulturellen Hebung der Lage der Werktätigen beizutragen. Dies tat sie in den Anfängen entweder als radikal sozialreformerische oder als politisch-revolutionäre, d.h. die kapitalistische Gesellschaftsform umwälzende Bewegung. Der Kampf um den Frieden spielte demgegenüber kaum eine Rolle oder war dem Kampf um das Brot untergeordnet.

Hinzu kam, dass die Arbeiterbewegung jener Zeit von zwei unhinterfragten Voraussetzungen ausging: Einmal gehörte das Führen von Kriegen zum selbstverständlichen Recht souveräner Staaten. Das ius ad bellum, das Recht zum Krieg, war Bestandteil des damals geltenden Völkerrechts, das insofern seit dem Westfälischen Frieden 1648 von den souveränen Staaten - unabhängig von ihrer jeweiligen Staatsform und ihrem Regime - in Anspruch genommen wurde. Zweitens wurde die Existenzberechtigung bewaffneter Streitkräfte nicht in Frage gestellt. Alle drei Parteiprogramme der deutschen Sozialdemokratie, das Eisenacher Programm 1869, das Gothaer Programm 1875 und das Erfurter Programm 1891 forderten nicht die Abschaffung des Militärs, sondern dessen Umwandlung in ein Volksheer. Die "allgemeine Volksbewaffnung" war schon vorher ein Bestandteil der "Forderungen der Kommunistischen Partei" vom März 1848, nicht aber des zuvor verfassten "Kommunistischen Manifests". Zum Thema "Krieg und Frieden" formulierte das "Manifest" lediglich einen Zustand nach dem - als "gewaltsam" vorgestellten - "Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung": "Mit dem Gegensatz der Klassen im Innern der Nation fällt die feindliche Stellung der Nationen gegeneinander." Frieden ist also sowohl im Inneren als auch in den Außenbeziehungen erst mit der Überwindung des bürgerlichen Klassenstaats denkbar.

2. Auch der Antimilitarismus in unserem heutigen Verständnis war der Arbeiterbewegung, auch der marxistisch orientierten Arbeiterbewegung, nicht in die Wiege gelegt worden. Insbesondere die deutsche Sozialdemokratie hatte zum Teil ein oberflächliches Bild vom "Militarismus", eben das des preußisch-deutschen Pickelhaubenstaates - verniedlichend dargestellt später in Zuckmayers grandiosem Lustspiel "Der Hauptmann von Köpenick". Sozio-ökonomische Fragen, die sich auf den strukturellen Zusammenhang von Klassenstaat und seiner inneren und äußeren Repressionsinstrumente bezogen hätten, waren zwar in zahlreichen Grundlagenschriften von Marx und Engels, später von Kautsky und Franz Mehring thematisiert worden und fanden auch Eingang in die sozialdemokratische Propaganda von Bebel, Wilhelm und Karl Liebknecht bis zu Rosa Luxemburg, sie stießen sich aber mit einer auch in den Unterschichten weit verbreiteten Staatsgläubigkeit, die ihrerseits historisch aus den kollektiven negativen Erfahrungen gescheiterter Revolutionen resultierte. Diese Staats- und Obrigkeitsgläubigkeit fand zunehmend Eingang in besser situierte Arbeitervertreter sowohl auf betrieblicher Ebene als auch in den Gewerkschaften sowie in den Repräsentativorganen von der Kommune bis zum Reichstag.

3. Ein tieferes Verständnis der Arbeiterbewegung in die theoretische Grundlage und Reichweite von Antimilitarismus entwickelte sich historisch erst vor dem Hintergrund des Eintritts des Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium. Dabei hatten wir es mit mindestens vier wichtigen Neuerungen zu tun: Erstens dem Beginn der Neuaufteilung der - bereits kolonialisierten - Welt, zweitens der neuen Qualität der Hochrüstung (z.B. die gigantische gegenseitige Flottenrüstung England-Deutschland), drittens der heraufziehenden Weltkriegsgefahr und viertens der theoretischen Möglichkeit der Selbstvernichtung der Menschheit. Darauf hatte Karl Liebknecht in seiner 1907 erschienenen Schrift "Militarismus und Antimilitarismus" geradezu visionär hingewiesen: "Und in der Tat können wir damit rechnen, dass, wenn auch in einer fernen Zukunft, die Technik, die leichte Beherrschung der gewaltigsten Naturkräfte durch den Menschen, eine Stufe erreichen wird, die eine Anwendung der Mordtechnik überhaupt unmöglich macht, weil sie Selbstvernichtung des Menschengeschlechts bedeuten würde…"

Um auf das Baseler Manifest 1912 zurückzukommen: So klar darin die Analyse des Imperialismus und der drohenden Weltkriegsgefahr, der sich gegenseitig aufschaukelnden Hochrüstung, des gegen den äußeren und "inneren Feind" gerichteten Militarismus formuliert war, so wenig konkret wurde die Frage der Gegenmacht benannt.

4. Opportunismus oder das Zurückschrecken vor der "revolutionären Tat", wie sie von Rosa Luxemburg in der Massenstreikdebatte als Option gefordert wurde, sind wohl die wichtigsten Gründe für die Begrenztheit des antimilitaristischen Widerstands gegen Rüstung und Krieg am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Dieser Opportunismus - der übrigens keineswegs nur ein Attribut der "Parteiführer" war - konnte ja gerade vor dem Hintergrund des Eintritts in die imperialistische Weltpolitik erst so richtig entstehen. Auf die Möglichkeit, den britischen Arbeitern Gratifikationen durch Extraprofite aus der Auspressung der Kolonien anzubieten, hatte bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts John A. Hobson ("Der Imperialismus") hingewiesen. Lenin knüpfte später in seiner Imperialismus-Schrift daran an und sprach in dem Zusammenhang von einer sich herausbildenden "Arbeiteraristokratie". In Deutschland dürfte zu jener Zeit die Hebung des Einkommensniveaus und des Status von Teilen der Arbeiterschaft durch den wirtschaftlichen Aufschwung und die Verheißung auf Belohnung durch den angestrebten "Platz an der Sonne" eine korrumpierende Rolle gespielt haben. Streiks und Arbeiterkämpfe waren damals eher in zivilen Branchen und Unternehmen zu verzeichnen, weniger in der Kriegsproduktion und der Schwerindustrie.

5. Die Entstehung der Friedensbewegung in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern, beruhte nicht auf der Durchsetzung einer moralisch-ethischen Haltung, die jegliche Anwendung von Waffengewalt grundsätzlich ablehnte, sondern orientierte sich an der am Ende des 19. Jahrhunderts breit diskutierten Vorstellung, die hoch gerüsteten Staaten, deren Spannungen untereinander sich im Zeitalter des Imperialismus hochschaukelten, dazu zu bringen, ihre Streitigkeiten vor einem Internationalen Schiedsgericht schlichten zu lassen. Signalwirkung hatte dabei eine Anregung von Zar Nikolaus II. Er hatte mit einem Manifest 1898 den Vorschlag gemacht, eine Internationale Staatenkonferenz einzuberufen, die dann ein Jahr später in Den Haag auch stattfand (1. Haager Konferenz). Verhandelt wurden damals Fragen wie die Einrichtung eines internationalen Schiedsgerichtsverfahrens oder die allgemeine Abrüstung. Immerhin mündeten diese Bemühungen in das I. Haager Abkommen zur friedlichen Erledigung internationaler Streitfälle 1907 (auf der 2. Haager Konferenz). Ansonsten herrschte - ähnlich wie in der Arbeiterbewegung - die Vorstellung, bei aller Ablehnung von Krieg und Gewalt im Notfall doch auch zur "Verteidigung" bereit zu sein. Bei einem äußeren Angriff sei es in jedem Fall legitim, sich mit Waffengewalt zur Wehr zu setzen.

6. Friedensbewegung war im Wesentlichen eine bürgerlich-kleinbürgerliche Bewegung - mit all den ideologischen Schwankungen und Unsicherheiten, die dieser Klasse eigen sind. Der Pazifismus-Forscher Karl Holl betont in seiner Geschichte des Pazifismus die "Homogenität in der sozialen Zusammensetzung" der Friedensbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts: "… zumeist waren selbständige Kaufleute, Industrielle, Bankiers, Anwälte, Beamte, Professoren, Pastoren beteiligt." So mussten auch die gesellschaftlichen und ökonomischen Grundlagen des Militarismus unverstanden bleiben. Rüstung und Militarismus waren nach Holl lediglich als "pathologische Erscheinung des nationalen und internationalen Systems interpretiert" worden. Das gewaltträchtige und anarchische internationale System müsse sich in ein harmonisches System internationaler Zusammenarbeit umwandeln lassen - wozu die internationale Schiedsgerichtsbarkeit der entscheidende Hebel sei. So lebte die bürgerliche Friedensbewegung von Anfang an in einem grundlegenden Widerspruch zwischen ihrem Friedensappell auf der einen und ihrer sozialen Zugehörigkeit zur herrschenden Klasse auf der anderen Seite. Diese konnte sich doch - schon vor der Epoche des Imperialismus - nur durch Militarismus und Krieg zur herrschenden Klasse entwickeln. Die Herausbildung der bürgerlichen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts waren bekanntlich ganz wesentlich begleitet von Krieg und Gewalt. Daneben ergaben sich für den bürgerlichen Pazifismus aber auch ideologische Einfallstore. Etwa wenn es um die Verteidigung der "zivilisierten Welt" gegen die Bedrohung durch die russische (zaristische) Gefahr ging. Ein führender Pazifist, Otto Umfrid, trat nach Beginn des Krieges sogar für eine "friedliche Expansion" Deutschlands ein - im Namen der deutschen "Kulturnation"!

7. 100 Jahre nach Basel stellen sich für die Friedens- und Arbeiterbewegung andere Probleme. Sie lassen sich aber durchaus auf Grundmuster der historischen Auseinandersetzung zurückführen. Es müssen lediglich ein paar Begriffe geändert und ein paar Sachverhalte näher erläutert werden.

Entscheidend verändert hat sich die Einstellung breiter Bevölkerungskreise zu Krieg, Gewalt und Obrigkeit. Der zweimalige Weg in die Weltkriegskatastrophe, den die deutschen Eliten zu verantworten hatten, hat das Denken in militärischen Kategorien stark desavouiert. Dass von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehen dürfe, hat sich spätestens in der Folge des Zweiten Weltkriegs tief in das kollektive Bewusstsein der Menschen in West- und Ostdeutschland eingegraben. Dieses Bewusstsein verband sich in der Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs mit der Überzeugung, dass erfolgreiches Wirtschaften, soziale Wohlfahrt und internationale Anerkennung auch mit beschränkten Souveränitätsrechten und einer insgesamt zurückhaltenden Außenpolitik erreichen lassen. Bis zum heutigen Tag lässt sich die damit verbundene allgemeine Kriegsabstinenz der Bevölkerung in zahlreichen Umfragen und demoskopischen Studien belegen. (Dem widerspricht nicht, dass außen- und sicherheitspolitische Fragen so gut wie keine ausschlaggebende Rolle bei Wahlentscheidungen spielen. Da waren 1982 etwa 70 Prozent der [west-]deutschen Bevölkerung gegen die Raketenstationierung, aber der Raketenbefürworter Kohl konnte einen glorreichen Wahlsieg einfahren.)

Die kritische Haltung gegenüber Kriegseinsätzen der Bundeswehr - die nach der epochalen "Wende" erst möglich wurden - speist sich im Wesentlichen aus zwei Motiven: Deutschland solle sich nicht in Dinge einmischen, die es nichts angehen (was interessiert uns Afghanistan! Haben wir nicht genug eigene Probleme?) - eine eher in der Arbeiterklasse (um einmal diesen Begriff ohne nähere Eingrenzung zu verwenden) beheimatete Haltung. Ein anderes Motiv kommt aus der Überlegung, mit Militär, Intervention und Krieg keine tatsächlichen Fortschritte herbeiführen zu können, sondern allenfalls neues Leid über die betroffenen Länder und Menschen zu bringen. So argumentiert vor allem die Friedensbewegung, die heute vor allem wieder von Teilen der "Intelligenz", grob gesagt als den Mittelschichten getragen wird.

Zugleich interessiert und engagiert sich diese Gruppe aber auch für Menschenrechte und Demokratie (in aller Welt) und möchte - wo immer es geht - Menschen in ihrer tiefsten Not beistehen. Sie sind also sehr empfänglich für medial aufbereitete "schockierende" Zustände in der Dritten Welt und möchten am liebsten sofort helfen (ich nenne das das "Helfersyndrom"). Die Herrschenden wissen das geschickt auszunutzen, indem sie die militärische Komponente ihrer "Politik" ins Spiel bringen: Wenn im syrischen Bürgerkrieg Zivilpersonen ums Leben kommen: Muss man da nicht eingreifen um das Morden zu beenden? Dieser Mechanismus hat Teile der "grünen" Friedensbewegung während der Auseinandersetzungen auf dem Balkan in die Arme der NATO getrieben. Nicht umsonst ist uns der NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 als Einsatz zur Verhinderung einer "humanitären Katastrophe" gepriesen worden. Die aktuelle Debatte um die Schutzverantwortung ("Responsibility to Protect") haut in dieselbe Kerbe. Und es ist intellektuell so schön in Einklang zu bringen mit dem "linken" Anspruch, der nationalen Beschränktheit zu entkommen und internationale Solidarität zu zeigen.

Damit kehrt sich der traditionelle Internationalismus der sozialistischen Arbeiterbewegung, die überall demselben Klassengegner gegenüberstand, in sein Gegenteil: im Schulterschluss mit der eigenen herrschenden Klasse militärisch in fremden Ländern für Menschenrechte zu intervenieren, im Ergebnis aber diese Länder (wieder) unter den Einfluss der imperialen Staaten zu bringen.

Von "Opportunismus" lässt sich insofern sprechen, als viele Anhänger eines so gewendeten Solidaritätsbegriffs gern die "herrschende Meinung" auf ihrer Seite wissen. Es lebt sich einfacher im ideologischen Einklang mit den Leitartikeln von FAZ, SZ, FR und taz, als ständig wider den Stachel der Mainstream-Medien zu löcken.

Natürlich wirkt das "süße Gift" der ideologischen Zugehörigkeit zum Mainstream auch in der Arbeiterklasse. Hier kommen aber auch materielle Interessiertheiten dazu. Man versuche nur einmal, Kolleginnen und Kollegen in Rüstungsbetrieben dazu zu bewegen, für Alternativen einzutreten! Und haben nicht im Interesse der Sicherung des "Standorts Deutschland" Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihre Gewerkschaften seit zwei Jahrzehnten auf Lohnbestandteile und Sozialleistungen in einem Ausmaß verzichtet, dass die Gesellschaft in eine regelrechte soziale Abwärtsspirale geraten ist?! Die politische Bindung an die Herrschenden kann unter Bedingungen neoliberaler Umverteilung von unten nach oben nicht mehr über die Besserstellung der "Arbeiteraristokratie" gelingen, sondern nur noch über den Ausweis der "Alternativlosigkeit" einer solchen Politik und den geschürten Chauvinismus gegenüber jenen, denen es noch schlechter geht als uns, z.B. den Griechen.

Fazit: Friedens- und Arbeiterbewegung stehen heute also von drei Seiten unter Druck: Einmal von Seiten des herrschenden sicherheitspolitischen Diskurses, der Militär und Krieg wieder zum allgemein akzeptierten Mittel der Politik gemacht hat - ohne dass die große Masse der Bevölkerung dies als ein Mittel der Herrschenden entlarven würde, den Imperialismus wieder hegemoniefähig zu machen. Zum zweiten hat die Arbeiterklasse alle Hände voll zu tun (und müsste eigentlich noch viel mehr tun), sich gegen die alltäglichen Zumutungen von Kapital und Staat zur Wehr zu setzen, so dass sie das politische Interesse an Fragen der internationalen Politik weitgehend verloren hat (es gab andere Zeiten, etwa Anfang der 70er Jahre, als es um die Ostverträge, oder Anfang der 80er Jahre, als es um die Raketenstationierung ging). Und zum dritten dienen Menschenrechtsdiskurs und Helfersyndrom als Einfallstor für die Akzeptanz der Wiederkehr des Kriegs in die Politik.

Zum Autor: Dr. Peter Strutynski, Politikwissenschaftler, Mitglied der AG Friedensforschung, Kassel, www.ag-friedensforschung.de; Sprecher des Bundesausschusses Friedensratschlag. Eine erweiterte Fassung dieses Beitrags erscheint in den "Marxistischen Blättern" 6/2012; Autoren: Hermann Kopp und Peter Strutynski.

 

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