Demokratische Regime versus Autoritäre Regime?
Diskussionsbeitrag von Prof. Dr. Hermann Klenner, Berlin, auf der Bundeskonferenz der KPF am 18. April 2021
In seinem Eingangsreferat hat Thomas Hecker die vom »Westen« vorgenommene Neuaufteilung der Gegenwartswelt in einerseits autoritäre und andererseits demokratische Staaten als eine Weiterführung der Schurkenstaats-Theorie und -Praxis von US-Präsident Bush aus dem Jahre 2001 sowie als heutige Erscheinungsform von psychologischer Kriegsführung charakterisiert. Und er schlussfolgert: Wer sich mit jener Aufteilung in demokratische und autoritäre Staaten gemein macht, mache sich mitschuldig. Mitschuldig an Kriegsvorbereitungen. [1]
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Um mit der Klarstellung wenigstens bei einer der elementaren Begrifflichkeiten innerhalb dieses Beitrages zu beginnen, ist auf etwas scheinbar Verblüffendes hinzuweisen: Während in früheren Zeiten die Autokratie (was in etwa autoritärem Regime gleichzusetzen sein dürfte) neben der Aristokratie und der Demokratie als eine der drei Staatsformen verstanden wurde [2], wird man im geltenden deutschen Verfassungsrecht (auch in dessen Kommentierungen) der sich als Demokratie verstehenden Bundesrepublik Deutschland nach den Gegensatz-Fachworten autoritär oder Autokratie vergeblich suchen. Man ziehe das monumentale, von Ernst Benda (CDU), Werner Maihofer (FDP) und Hans-Jochen Vogel (SPD) in Berlin 1994 herausgegebene Handbuch des Verfassungsrechts heran; selbst in dem von Carl Creifelds begründeten Rechtswörterbuch (14. Auflage, München 2014) findet sich weder autoritär noch Autokratie; ebenso nicht in der von Hans Jörg Sandkühler in Hamburg 1990 (bzw. 1999) herausgegebenen vierbändigen Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften.
Aber nicht nur in dem sich als Verfassung verstehenden Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (seit dem 3. Oktober 1990 für ganz Deutschland geltend) ist als Gegensatzbegriff weder von autoritär noch von Autokratie die Rede. Auch das geltende Völkerrecht kennt weder den einen noch den anderen Terminus, wie das treffliche Standardwerk von Norman Paech und Gerhard Stuby: Völkerrecht und Machtpolitik in den internationalen Beziehungen, Hamburg 2013, belegt und die in München 1994 publizierte Völkerrechtsgeschichte von Karl-Heinz Ziegler historisch untermauert.
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Wohl aber gibt es seit Max Horkheimers Aufsatz von 1940, der sich allerdings auf die globale Tendenz zum Etatismus als Krisenstrategie des Kapitalismus in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts beschränkte, [3] eine eindrucksvolle Polit.-Literatur zum Begriff autoritäre Regime. Das in mehreren Auflagen publizierte Werk des deutsch-spanischen Harvard-Professors Juan José Linz (1926-2013), Mitglied der British Academy; Ehrendoktor der Universitäten von Granada, Madrid und Marburg, bietet eine komplexe Übersicht, in der freilich das heutige Gegensatzverhältnis zwischen USA (einschließlich Nato und BRD) einerseits und andererseits Russland und China nicht auftauchen konnte, denn die Erstauflage dieses Werkes ist bereits 1975 publiziert worden. [4] Linz bietet eine Typologie autoritärer Regime, indem er auflistet: a) Bürokratisch-militärisches Regime; b) Autoritärer Korporativismus; c) Autoritäre Regime in postdemokratischen Gesellschaften; d) Postkoloniale autoritäre Regime; e) Rassen-»Demokratie«; f) Praetotalitäre Regime; g) Posttotalitäre Regime.
Im Unterschied zu Juan José Linz befasst sich Anne Applebaum, eine mehrsprachige, hochproduktive, journalistisch wie wissenschaftlich tätige, preisgewürdigte, zuweilen auch an diesen oder jenen Universitäten lehrende US-Amerikanerin (inzwischen zusätzlich Polin), mit Autokratie-Problemen innerhalb von sich als demokratisch bezeichnenden Staaten der Gegenwart. In ihrem vielgepriesenen »Twilight of Democracy. The Seductive Lure of Authoritarianism«, New York 2020 (eine Übersetzung ins Deutsche ist bereits in diesem Jahr in einem Münchener Verlag unter dem Titel »Die Verlockung des Autoritären« erschienen) schildert sie »how did our democracy go wrong« und »how demagogues win«. Applebaum beklagt den internationalen Aufstieg rechtspopulistischer Politik und fragt, warum autoritäre, antidemokratische Herrschaft so populär geworden sei? Sie ist kein Freund von Politikertypen wie Trump oder Boris Johnson, von Orbans ungarischem Chauvinismus oder von Polens Klerikal-Konservatismus; Putins Russland hält sie für eine raffinierte Diktatur. Lobbyismus betrachtet sie als Gefahr für die Demokratie, aber das Reichtum/Armut-Verhältnis im Realkapitalismus ist ihr Problem nicht.
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Nun aber von der literarischen zur »offiziellen« Seite des Demokratie/Autokratie-Gegensatzes. In seiner ersten außenpolitischen Grundsatz-Rede seit Amtsantritt »On America’s Place in the World« hat US-Präsident Joe Biden im Franklin-Saal des Truman-Gebäudes von Washington am 4. Februar 2021 unverblümt den Führungsanspruch der Vereinigten Staaten von Amerika innerhalb einer Demokratie-Allianz gegen autoritäre Staaten wie China und Russland bekräftigt. [5]
Um gleich auf deutsche Verhältnisse überzuleiten: Heiko Maas, Mitglied der römisch-katholischen Kirche und der Gewerkschaft, SPD-Mitglied seit 1989 und seit März 2018 BRD-Außenminister im Kabinett Merkel IV hat sich von Anfang an zu dem Staaten-Gegensatz Demokratien/Autokratien wie auch zur Nato mit den USA an der Spitze bekannt, speziell in einem Interview von bereits September 2018 und dann Februar 2020. Besonders eindringlich kam das in seiner als Videobotschaft verbreiteten Rede zur Einweihung des Fritz-Stern-Lehrstuhls der Brookings-Institution vom 9. März dieses Jahres zum Ausdruck. [6] Unverblümt forderte er in ihr eine gegen die Autokratien, speziell gegen ein angeblich immer aggressiver und repressiver werdendes Russland gerichtete universelle Allianz der Demokratien, USA und EU voran. Die Journalistenmeinung, dass autoritäre Regime Pandemien effektiver bekämpfen können als Demokratien, hielt er für eine Unterstellung, was als eine gegen das angeblich auf Konfrontation gehende China gerichtete Argumentation zu verstehen ist. Dass die bundesdeutschen Kriegsausgaben seit 2014 um 50 Prozent gestiegen sind, fand seine Billigung ebenso wie die Entsendung deutscher Marine-Einheiten in den indo-pazifischen Raum sowie der »Schulterschluss« der BRD- mit den USA-Soldaten in Afghanistan. Eine Aggressionsberechtigung der EU wird aus ihrer angeblichen »responsibility to protect« abgeleitet, um deren Völkerrechtswidrigkeit kümmert man sich nicht.
Da die 30 Nato-Staaten unter dem permanenten Druck der USA im vergangenen Jahr 930 Milliarden Euro für das Militär ausgegeben haben und damit das fast Vierfache der vergleichbaren Ausgaben von China und Russland zusammengenommen, bedeutet die BRD-Anerkennung des unkaschiert erhobenen Führungsanspruchs der USA, mit dem Vasallen-Status Deutschlands innerhalb einer mit Krieg drohenden Konfrontationspolitik gegen den flächengrößten wie gegen den bevölkerungsreichsten Staat, beide als autoritäre Regime eingestuft, einverstanden zu sein. Dass es China gelungen ist, in wenigen Jahrzehnten nahezu eine Milliarde Menschen vom Hunger zu befreien, ist für die Reichen des Westens kein Argument, aber sie glauben aus der Uigurenfrage »Kapital« schlagen zu können, auch wenn wirklich Sachkundige die Tatsachen klargelegt haben. [7] Dass es die früheren Machthaber der Deutschen waren, die in die Sowjetunion einfielen und an die dreißig Millionen Menschen mordeten, wissen natürlich die heutigen Machthaber der Deutschen, aber sie begreifen es nicht.
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Um nun das Grundsätzlichste vorzubringen: Der landläufigen Entgegensetzung von demokratischen Regime versus autoritäre Regime liegt eine Demokratiekonzeption zugrunde, bei der eine formale Betrachtungsweise die Eigentumsverhältnisse in der Gesellschaft ausklammert. Für Sozialisten wie für Kommunisten gehört es aber seit Jahrhunderten zum Fundament ihrer durch Erfahrungen bestätigten und von Karl Marx später zur Theorie erhobenen Überzeugung, dass in der kapitalistischen Gesellschaft Herrschaft wie Knechtschaft in drei unterschiedlichen Formen existieren, nämlich in a) politischen, b) geistigen und c) ökonomischen Abhängigkeitsverhältnissen, wobei der politischen Unterdrückung ebenso wie der geistigen Verkümmerung die ökonomische Unterwerfung zugrunde liegt. [8] Daher überschreitet eine sich auf die politischen Freiheits- und Gleichheitsrechte beschränkende Demokratiekonzeption (so wichtig wenigstens diese ist!) den Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft nicht; sie führt im Wesentlichen nur zu einer Partizipation an den Ausbeutungs- und Verdummungsprozessen. So Rosa Luxemburg in ihrem berühmten (unvollendeten) Manuskript zur russischen Revolution: »Wir unterscheiden stets den sozialen Kern von der politischen Form der bürgerlichen Demokratie, wir enthüllen stets den herben Kern der sozialen Ungleichheit und Unfreiheit unter der süßen Schale der formalen Gleichheit und Freiheit«. [9]
Diesen Gedankengang zu Ende gedacht: Nicht in den Wahlen der Bürger oder der Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative liegt das Fundament der kapitalistischen Demokratie, sondern in der sich aus dem Eigentum an den Produktionsmitteln ergebenden Macht/Ohnmacht-Struktur der Gesellschaft. Zugespitzt formuliert: Das demokratische Regime des Kapitalismus basiert auf einem autokratischen Regime von Kapitalisten! Unterden Bedingungen der kapitalistischen Gegenwartsgesellschaften führtder offiziell vertretene Absolutheitsanspruch einer Entgegensetzung von demokratischen und autoritären Regime in die Irre. Mit ihr werden nämlich die tatsächlichen Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse innerhalb der Gesellschaft verschleiert. In genau diesem Zusammenhang sprach Friedrich Dürrenmatt von den Ideologen und ihren »Kosmetika der Macht«, [10] und rhetorisch fragte er, wozu eigentlich die Macht sich zu schminken brauche? Die Nutznießer dieser Verschleierung wissen darauf die Antwort, denn ihnen sind die ihnen Profit bringenden Kausalverhältnisse in der Gesellschaft natürlich nicht unbekannt. Für sie handelt es sich um eine bewusste Verschleierung, also nicht um Ideologie, worunter Marx wie Engels ein bloß falsches Bewusstsein von Unwissenden verstanden. [11]
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Die im Voranstehenden erörterte Vielseitigkeit des Gegensatzverhältnisses von Demokratie und Autokratie, von demokratisch und autoritär ermöglicht auch einige kritische Bemerkungen zum Entwurf des Wahlprogramms der Partei DIE LINKE vom Februar 2021 zur Bundestagswahl dieses Jahres. Die Zahl derer, die dieses Wahlprogramm Seite für Seite lesen, dürfte sich in Grenzen halten. In seiner Gänze und der Fülle seiner Gesichtspunkte macht es zuweilen den Eindruck, das Programm einer statt sich auf Machtwechsel konzentrierenden sich mit Regierungswechsel begnügenden Partei zu sein. Wenn in einem eigenen Abschnitt gefordert wird, »die Demokratie zu stärken« (statt sie erst wirklich herzustellen), wird ein offensichtlich bürgerlicher Demokratiebegriff unterstellt, dem Genüge getan ist, wenn Lobbyismus nicht uferlos betrieben werden darf. Eine »gerechte Weltwirtschaftsordnung« zu fordern, ohne die Privateigentumsfrage an den Produktionsmitteln wenigstens aufzuwerfen, begnügt sich mit (durchaus sinnvollen) Verbesserungen innerhalb des Realkapitalismus. Verzichtet wurde von vornherein, die nationalen Gegensätze innerhalb der gegenwärtigen Weltwirtschaft aufzudecken, sie zu bewerten und den Führungsanspruch der einen Weltmacht (America first!) samt Vasallenbereitschaft z.B. Deutschlands zu be- und zu verurteilen. Wenn europäische Rüstungskonzerne gezwungen werden sollen, ihre Exporte in »autoritäre Staaten einzustellen«, oder wenn Deutschland sich nicht an »internationalen Polizei- und Geheimdiensteinsätzen beteiligen darf, die der Unterstützung autoritärer Regime wie Saudi-Arabien, Marokko, Türkei, Sudan und Ägypten dienen« (was sicher zu begrüßen ist), dann wird ein Autokratiebegriff verwendet, der einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise nicht standhält. Die Gefahr eines Weltkrieges geht gewiss nicht von den genannten Ländern, sondern von derjenigen Weltmacht aus, die Atombomben besitzt, stolz ihr riesiges, auf noch weitere Vergrößerung bestimmtes Waffenarsenal präsentiert, in Afghanistan und in mehrere afrikanische Länder eingefallen ist, in Guantanamo und anderswo foltert und völkerrechtswidrig allen anderen Staaten ökonomisch, politisch und militärisch ihren Dominanzanspruch aufzuzwingen versucht.
Da Deutschland in dieses Weltsystem eingebunden ist, wäre es für eine deutsche Partei von Linken lebenswichtig, sich anlässlich von Wahlen programmatisch realitätsgemäß zu äußern.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Mitteilungen der Kommunistischen Plattform der Partei DIE LINKE, Jg. 30, Heft 5/2021, S. 1-16; sowie: Ellen Brombacher (ed.), Klartexte, Berlin 2009, bes. S. 284-308.
[2] So: Immanuel Kant, Rechtslehre (1797), Berlin 1988, S.155, 299, 521.
[3] Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Frankfurt 1987, S. 293-319: »Autoritärer Staat«.
[4] J. J. Linz, Totalitarian and Authoritarian Regime, in: Fred Greenstein (ed.),Handbook of Political Science, Reading 1975, Bd. 3, S. 175-411. Deutsche Ausgabe: Linz, Totale und autoritäre Regime, Berlin 2003 und Potsdam 2009. – Hingewiesen sei auch auf: Linz, »Autoritäre Regime«, in: Dieter Nohlen (ed.), Wörterbuch STAAT UND POLITIK, München/Zürich 1995, S. 40-43; H. J. Lauth, »Autoritäre versus totalitäre Regime«, in: D. Nohlen (ed.), Lexikon der Politik, Bd. 1, München 1995, S. 27-32; Hans-Peter Krebs, »autoritäter Populismus«, in: Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 1, Hamburg 1996, Sp. 779-784.
[5] Vollständiger Text der 20-Minutenrede: de.usembassy.gov/de/tag/us-president (4. Febr. 2021), Amerika Dienst der USA-Botschaft in der BRD.
[6] Vgl. Bulletin der Bundesregierung, Nr. 37-2, vom 10. März 2021, bes. S. 5 f.
[7] Vgl. Uwe Behrens, Feindbild China, Berlin 2021, S. 177-193: Die Uiguren-Frage.
[8] So: Marx, in: MEGA, Bd. I/22, S. 365 (deutsch in: MEW 17/440).
[9] Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 363.
[10] Friedrich Dürrenmatt, Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht, Zürich 1969, S. 50.
[11] MEW 9/494; 39/97.
Mehr von Hermann Klenner in den »Mitteilungen«:
2020-09: Laudatio auf einen Rector Magnificus, auf Heinrich Fink
2018-12: Feuchtwanger
2017-08: Utopieforscher ohne Utopie