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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Utopieforscher ohne Utopie

Prof. Dr. Hermann Klenner, Berlin

 

Gewidmet ist der hier vorzustellende [1] Sammelband dem im Gefolge der Wende zum Un­iversitätsprofessor nach Halle an der Saale berufenen und dort bis zu seiner Emeritierung lehrenden Richard Saage. Der einstmalige Schüler der sozialdemokratisch verorteten Ge­lehrten Iring Fetscher und Helga Grebing hatte sich anfangs mit einer ganzen Reihe einschlägiger Beiträge an der von früheren DDR-Wissenschaftlern herausgegebenen, sozia­listische Alternativen diskutierenden Zeitschrift »Utopie kreativ« beteiligt; auch in die Leib­niz-Sozietät der Wissenschaften hatte er sich wählen lassen, zog es freilich vor, nach weni­gen Jahren aus ihr wieder auszutreten. Jedenfalls ist er, der stets betonte, kein Utopist zu sein, der produktivste Utopieforscher in Deutschlands Gegenwart. Sein Publikationsver­zeichnis – und das ist nun einmal die Visitenkarte eines Wissenschaftlers – weist einen be­wundernswerten Umfang wie Inhalt auf. Und nun wird er anlässlich seines 75. Geburtsta­ges mit einem ihm angemessenen Utopie-Band geehrt. Und diese also gerechtfertigte Eh­rung erfolgt, wie es der Zufall so will, exakt 500 Jahre, nachdem Thomas Morus mit sei­nem Büchlein über den auf der Insel Utopia angeblich verwirklichten, jeden­falls besten Staats­zustand einer ganzen Literatur-Gattung zu einem Namen verhalf.

Vom Reichtum utopischen Gedankenguts

Die zwei Dutzend Autoren der Anthologie bieten aus den jeweiligen Originalquellen erarbei­tete und die einschlägige Sekundärliteratur verarbeitende Erkenntnisse. Mit ihren For­schungsergebnissen erweitern, vertiefen und verallgemeinern sie den bisherigen Wissens­stand. Sie korrigieren Irrtümer, eröffnen neue Sichtweisen auf Altbekanntes, und keiner bil­det sich selbst ein oder belehrt uns darüber, dass wir in der bestmöglichen Welt von morgen bereits heute schon leben.

Um den Reichtum der erörterten Probleme wenigstens anzudeuten: Die seit langem und neuerdings wieder fragwürdig gemachte Urheberschaft des Begriffs und selbst des Na­mens »Utopia« dürfte nunmehr endgültig geklärt sein, denn es war eben doch nicht Eras­mus, sondern Morus, dem wir Werk und Wort verdanken. Weiterhin werden Einblicke in das utopische Gedankengut von Konfuzius, von Campanella, von Gustav Landauer, aber auch von Voltaire anhand seines ausgerechnet einen Leibniz ironisierenden Reiseromans, sowie vom Hegel-Freund und Marx-Lehrer Eduard Gans geboten. Es wird über den weithin unbekannten Johann Adolf Dori berichtet, der bereits um 1800 die Utopie des unbedingten Grundeinkommens – Katja Kipping, hör die Signale! – als Gebot der praktischen Vernunft entwickelte. In Gestalt von Utopias Speisehäusern wird die bisher im Verhältnis zur Soziali­sierung der Produktion weniger beachtete Vergesellschaftung der Reproduktion erörtert. Unter »mönchischer Strenge und ketzerischer Subversion« wird ernsthaft und mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis versehen das ebenso wie des Morus »Utopia« fünf­hundert Jahre alte Bayerische Reinheitsgebot des angeblichen Getränks der Arbeiterklas­se, des Biers also, beleuchtet, a Gaudi muss sein …

Besondere Beachtung verdient die sich mit der »Veralltäglichung« der Utopie in Gestalt ei­nes kommunalen Experiments im Roten Wien von 1927 beschäftigende Abhandlung, zumal der damals in der Arbeiter-Zeitung veröffentlichte Aufruf auch von Alfred Adler, Siegmund Freud, Hans Kelsen, Alma Mahler, Robert Musil, Anton Webern und Franz Werfel unter­zeichnet worden war. Gleiches gilt, wenn auch aus anderen Gründen für den Einfluss von Ernst Blochs utopischem Wollen auf die untauglichen Versuche mit untauglichen Mitteln linker DDR-Oppositioneller. Überraschendes Material findet sich in Essays, die sich anhand des Reiseberichts eines Afrikaners in das wilhelminische Deutschland mit der sogenann­ten, gegenwärtig in Mode gekommenen Cross-Kulturalität beschäftigen, auch mit ökologi­scher Utopie samt »Gender-Politics«, mit dem Verhältnis von Universalität und Diversität, mit dem Stellenwert der Utopie im zeitgenössischen, Richard Wagners »Die Kunst und die Revolution« von 1849 fortsetzenden Musiktheater bis hin zur Utopie einer totalen Vernet­zung in einem Arbeit und Freizeit lokal vereinigenden Firmencampus. Auch Gegenstücke von Utopien (sogenannte Dystopien) werden erörtert, die Fortschrittskritik Mereschkow­skijs sowie der Untergang des weißen und christlichen Abendlandes durch »multikulturelle Einebnung der Werte«, Wasser auf die Mühlen der Neuen Rechten also.

Bedeutung von Utopien für heute

Wie alle politischen Konzeptionen haben auch Sozial-Utopien eine analytische und eine normative Ebene: indem sich ihre Autoren bessere als die gegenwärtigen Gesellschaftsver­hältnisse (oder gar die allerbesten) ausdenken, kritisieren sie die in ihrer Gegenwart erleb­baren Zustände; sie orientieren damit auf ein künftig ganz anderes Zusammenleben der Menschen. Für dauerhafte Furore hatte seinerzeit Thomas Morus mit seiner besonders von Weitling und Kautsky in der Arbeiterbewegung bekanntgemachten Behauptung gesorgt, dass es überall dort, wo das Eigentum im Gegensatz zur besten aller Welten privatisiert ist, keine Gerechtigkeit geben könne, denn da ginge es den Bösewichtern immer am Besten. Man möchte die heutigen Transformationserzähler gern daran erinnern, dass uns der engli­sche Renaissance-Humanist Morus eine unerledigte Utopie hinterlassen und – wie zuvor schon Apostelgeschichte IV/32 mit ihrem urchristlichen Gemeineigentum – die Beseiti­gung des Privateigentums zumindest argumentierbar gemacht hat.

Was bei aller Vielfalt der erörterten Gesichtspunkte und des beigebrachten Materials be­denklich stimmt: In ihrer Gesamtheit lassen die Autoren des hier bekannt zu machenden Bandes jedoch kaum, wenig oder gar nicht erkennen, welche Bedeutung die Utopien von ehemals für die heutigen Zustände im Zusammenleben der Menschen haben oder wenigs­tens haben könnten. Das Missverhältnis zwischen dem, was im Hier und Heute tatsächlich ist, und dem, was im Hier und Heute wenigstens möglich wäre, aufzudecken, ist nun ein­mal für Wissenschaftler unverzichtbar, und Utopieforscher bilden da keine Ausnahme. Es hätte sich auch zu fragen gelohnt, ob Lenins Behauptung, man könne bei Marx auch nicht die geringste Spur von Utopismus finden, berechtigt ist.

In ihrem unter persönlich erschwerten Bedingungen, jedoch sympathisch-grantig geschrie­benen »Versuch einer Umorientierung« diagnostiziert Helga Grebing, bedeutende Historike­rin der Arbeiterbewegung und des Sozialismus in Deutschland: »Die deutsche Arbeiterbe­wegung braucht keine Utopien!« Das trifft nach des Rezenten unmaßgeblicher Meinung je­denfalls auf die heutzutage häufigste Utopie zu, die uns einzureden versucht, dass der ge­genwärtige Weltkapitalismus humanisiert werden kann, ohne seine Existenz zu gefährden. Was gebraucht wird, so Grebing mit Oskar Negt, ist ein begründeter, durch wissenschaftli­che Analysen abgesicherter Gesellschaftsentwurf, in dem es dann auch legitim ist, verges­sene oder als utopistisch abgelegte Traditionsströme des Sozialismus in Europa lebendig werden zu lassen.

Alexander Amberger/Thomas Möbius (Hrsg.): Auf Utopias Spuren: Utopie und Utopieforschung. Festschrift für Richard Saage zum 75. Geburtstag. Springer VS, Wiesbaden 2017 (430 Seiten, 69,99 € ).

Anmerkung:

[1]  Diese Rezension erschien am 14. Juli 2017 im nd in stark gekürzter Form. Da die Kürzungen inhaltlich entstellend sind, dokumentieren wir die Rezension – mit redaktionellen Zwischenüberschriften – in Gänze. Die Redaktion

 

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