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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Zwei Schritte vor, einen zurück

Peter Steiniger, Berlin

 

Vorstoß im Westen: Die Nelkenrevolution vor 40 Jahren ließ Portugals Kolonialmacht kollabieren und bleibt ein politisches Lehrstück.

 

Als am 25. April 1974 ein weitgehend unblutig verlaufender Militärcoup einer »Bewegung der Streitkräfte« (MFA) einen Machtwechsel in Lissabon herbeiführte, war ein solcher dort längst überfällig. Beerdigt wurde ein anachronistisches Regime, das abgewirtschaftet hatte und seinem Ende nichts mehr entgegenzusetzen wusste. Nicht am heimischen Tejo, sondern auf dem Boden Afrikas hatte sich sein Schicksal entschieden. Europas letzte Kolonialmacht zerschliss sich hier seit Anfang der 1960er Jahre in Angola, Guinea-Bissau, Cabo Verde und Mosambik in permanenten, blutigen und kostspieligen Guerillakriegen gegen die Befreiungsbewegungen auf dem schwarzen Kontinent. Sie stand dabei in einer Front mit den Apartheidstaaten Südafrika und Rhodesien. Gegen Ende wurde fast die Hälfte des Budgets des rückständigen iberischen Landes für die Kriegskasse benötigt. Zehntausende Portugiesen entzogen sich durch Emigration dem Militärdienst oder wurden durch ihre Kriegserfahrungen zu Oppositionellen. Über die Wirtschaft im Armenhaus Europas herrschte eine kleine Clique von Plutokraten. Sie produzierte Rekorde bei Niedriglöhnen, Kindersterblichkeit, fehlender medizinischer Versorgung und Analphabetismus. Die Verhältnisse hemmten die ökonomische Entwicklung und standen im Widerspruch zum sozialen Wandel, den die begonnene Industrialisierung mit sich brachte.

Ihren Anfang hatte die klerikal-faschistische Diktatur in Portugal bereits 1926 genommen, als Militärs die junge, instabile Republik beseitigten. 1932 machten sie den reaktionären Wirtschaftsprofessor António Salazar zum Ministerpräsidenten. Bis 1968 hielt sich Salazar als Alleinherrscher im Amt. Hinter sich wusste er den hohen katholischen Klerus. Von Nazideutschland und mehr noch Mussolinis Faschismus in Italien inspiriert, etablierte er das Regime des »Estado Novo«. Mit geheimpolizeilicher Kontrolle, Willkür und Terror, der Unterdrückung von Parteien und Gewerkschaften, einem Streikverbot und der Gleichschaltung des geistigen Lebens sollten die überkommenen Verhältnisse zementiert werden. Als 1936 General Francisco Franco gegen die Volksfront-Regierung im benachbarten Spanien putschte, entsandte Salazar paramilitärische Hilfstruppen dorthin und leistete logistische Hilfe. Im Spanischen Bürgerkrieg kämpften aber auch tausende exilierte portugiesische Antifaschisten in den republikanischen Einheiten und viele davon bezahlten mit dem Leben. Als 1949 in Washington der Nordatlantikpakt NATO gegründet wurde, war auch Salazars Portugal als Bündnispartner im Kalten Krieg willkommen. Im Land selbst wich das Klima der Angst und Apathie nur langsam. Im Untergrund kämpfte kontinuierlich die 1921 gegründete Portugiesische Kommunistische Partei, viele ihrer Führer und Aktivisten verschwanden für lange Jahre in den Kerkern des Regimes oder im Konzentrationslager Tarrafal auf der Kapverdischen Insel Santiago, etliche wurden von der Geheimpolizei PIDE ermordet. Als 1968 Marcello Caetano die Nachfolge Salazars antrat und versuchte, unter dem Slogan »Entwicklung in Kontinuität« den Herrschaftsapparat zu modernisieren, um das alte Regime fortzuführen, war dessen Uhr bereits am Ablaufen.

Der Umsturz am 25. April 1974 weckte zunächst nur wenig Befürchtungen in Washington, London und Bonn. Stand doch an der Spitze der neuen Junta zunächst mit General Spinola ein konservativer Militär, der sozialen Aufruhr eindämmen und die Unabhängigkeit der Kolonien vermeiden oder herauszögern wollte.

Doch Portugal erwachte jäh aus seinem »Dornröschenschlaf«. Mit einem Mal richteten sich die Augen der Welt auf das kleine, fast vergessene Land an der Peripherie Westeuropas. Die Volksmassen brachten spontan einen revolutionärer Prozess in Gang, der reaktionären Kräften Paroli bot und in kurzer Zeit zu weitreichenden sozialen und ökonomischen Umwälzungen führte. Zum Symbol dieser Revolution wurden die Nelken, welche die Befreiten den Soldaten in die Gewehrläufe steckten. Eine herausragende Rolle spielten die Kommunistische Partei und die von ihr beeinflusste Gewerkschaftszentrale CGTP-Intersindical. Entscheidend war das Bündnis von zivilen Antifaschisten und dem linken Flügel der MFA. Unter den provisorischen Regierungen von Ministerpräsident Vasco dos Santos Gonçalves, welcher die Agenda der PCP mittrug, wurde das koloniale Kapitel beendet, im Land ein Sozialisierungskurs forciert. In Süd- und Mittelportugal ergriffen Landarbeiter und progressive Militärs 1974/75 die Initiative zu Bodenreform und Kollektivierung. Schlüsselindustrien und Banken wurden nationalisiert. Nur kurze Zeit, nachdem am 11. September 1973 General Augusto Pinochet mit US-Hilfe Chiles linken Präsidenten Allende gestürzt hatte, schien einen historischen Moment lang ein neues sozialistisches Projekt greifbar. Mitten im Kalten Krieg und dazu noch in einem europäischen NATO-Staat. In dieselbe Zeit fiel der Fall des Obristenregimes in Griechenland. Mit dem Tod des spanischen »Führers« Franco am 20. November 1975 bewegte sich bald auch Spanien in Richtung Demokratie. Der Westen fürchtete einen Dominoeffekt und ließ es nicht an internationalistischer Hilfe für antikommunistische Kräfte fehlen. Die Sozialisten (PS) und die neuen bürgerlichen Parteien in Portugal erhielten massive Unterstützung. In die Lissaboner US-Botschaft zog mit Frank Carlucci ein Mann ein, der Erfahrung im Fädenziehen für Umstürze besaß und später in CIA und Pentagon die Karriereleiter weit nach oben steigen sollte. Das konservative Element in Portugal war weiter stark. Objektive Bedingungen, die sich durch revolutionären Elan nicht überlisten ließen. Im Hinterland, vor allem im erzkonservativ geprägten Norden, kam die Revolution kaum an. Hier startete der Klerus antikommunistische Angstkampagnen. Im »Heißen Sommer« 1975 wurden die Büros der PCP mit Anschlägen überzogen. Mehrere Putschversuche rechter Militärs mussten vereitelt werden, es roch nach Bürgerkrieg und geheimdienstlicher »Strategie der Spannung«. Innerhalb der revolutionären Bewegung selbst wuchsen Differenzen in bezug auf Richtung und Geschwindigkeit der Entwicklung, die MFA zerfiel in Fraktionen. Die Sozialisten unter Mario Soares unterstellten den Kommunisten, das Land nach Sowjetmuster formen zu wollen. PCP-Generalsekretär Álvaro Cunhal, der 1964 mit seiner Schrift »Kurs auf den Sieg« den Umsturz aus dem Militär heraus bereits skizziert hatte, verfolgte jedoch eine Strategie, die sich an den nationalen Bedingungen seines Landes ebenso orientierte wie am internationalen Kräfteverhältnis. Dementsprechend standen die Sicherung der Demokratie, die Zerschlagung der Monopole und die Erkämpfung weitestgehender sozialer Rechte im Vordergrund. Als die am weitesten links stehende der provisorischen Regierungen von den Sozialisten und den weniger radikalen Militärs isoliert wurde, bewies er seine politische Kunst auch in der Defensive und vermied so im September 1975 eine Eskalation, welche eine blutige Abrechnung mit der Linken nach sich hätte ziehen können. Einige Ergebnisse der Nelkenrevolution konnten festgehalten werden, der Sozialismus als Staatsziel fand sogar Eingang in die neue Verfassung der Republik. Unter den gegebenen Bedingungen konnte ein Weg zum Sozialismus nicht erfolgreich eingeschlagen werden.

Viele revolutionäre Errungenschaften aus dieser Epoche wurden von den bürgerlichen und sozialdemokratischen Regierungen der nachfolgenden Jahrzehnte Schritt für Schritt revidiert. Mit der Aufnahme des Landes in die EU 1986 kam es ganz in der westeuropäischen Normalität an.

Die Erinnerung an diesen utopischen Moment ist den Herrschenden unbequem. Bis heute ist die PCP als prinzipientreue marxistische Organisation, taktisch flexibel und nicht an Dogmen erstickend, in und außerhalb der Parlamente eine Kraft von Gewicht im politischen Leben Portugals. Auch wenn die Verhältnisse damals und jetzt in vieler Hinsicht nicht vergleichbar sind: Der soziale Protest gegen das Brüsseler Diktat und die Troika speist sich auch aus der historischen Erfahrung, dass Unterdrückung kein unabwendbares Schicksal ist. Deshalb erklingt auch heute auf Portugals Straßen immer wieder das Lied der Revolution »Grândola, Vila Morena« des antifaschistischen Liedermachers José »Zeca« Afonso.

Der Autor wurde im Kindesalter von 1975-79 Zeuge der nachrevolutionären Entwicklungen in Portugal.

Literaturhinweis: Einen sehr lesenswerten kurzen historischen Abriss von Urte Sperling hat der Papyrossa-Verlag vorgelegt: Die Nelkenrevolution in Portugal, Köln 2014, 130 Seiten, 9,90 Euro.