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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Zwei Erzählungen

Walter Kaufmann, Berlin

 

Nacht über Shepparton

Auch zum Abend hin war es noch heiß am Kanal, wo Albert Klett und ich seit unserer Entlassung aus dem australischen Internierungslager in einer Hütte hausten. Die Tageshitze blieb im Holz wie Glut im Ofen, und es half nichts, dass wir eimerweise Wasser übers Wellblechdach gossen - in der Windstille drückte die Luft. Wir wichen zum Kanalufer aus. Dort aber plagten uns die Mücken, stachen uns in Stirn, Hals, Hände, Arme, ihr Sirren durchdrang das blubbernde Quaken der Bullfrösche, es sirrte uns im Ohr, bis wir, dem Ufer entwichen, vor der Hütte ein Feuer entfacht hatten, dessen Rauch die Mücken vertrieb.

Spät in der Nacht noch saßen wir auf Baumstümpfen beim glimmenden Feuer, erschöpft von der Plackerei in der Obstplantage, voll Ingrimm auch gegen Tom Cornish, den Sohn des Bosses, der stets jeden unserer Körbe nach unreifen Pfirsichen abgesucht hatte - auch heute wieder würde uns der Lohn gekürzt werden. Zum Teufel mit dem Kerl ... Saufraß, Plackerei von früh bis spät, und dazu diese stickige Bruchbude, in der wir hausen mussten. Über dem Feuer brühten wir Tee gegen den Durst und die Hitze, der Tee trieb den Schweiß und machte, dass wir uns kühler fühlten.

Als habe Albert während unseres Schweigens an nichts anderes gedacht, begann er plötzlich von seiner Zeit als Schlosser im Ruhrgebiet zu reden, und was er sagte, trug ihn aus der australischen Welt in die andere vor dem Krieg, der Welt von Gelsenkirchen.

»Glaub mir - das war keine Heldentat, den Brandsatz ins Sturmlokal der SA zu schleudern«, sagte er mir, »wo ich doch danach Brunos Fahrrad einfach fallen gelassen hatte und über die Hinterhöfe abgehauen war. Bis heute verfolgt mich das - immer denke ich, das Fahrrad könnte in die Klauen der Gestapo geraten sein, und dann ... Mit der Zeit ist in meiner Vorstellung aus dem Fahrrad eine Foltermaschine geworden, und Bruno, der uns all die Monate zusammengehalten hat, wird von der Gestapo gefoltert. Denn da, wo das Rad hergestellt worden war, hat Bruno gearbeitet - und dort hatte er es gekauft. Darum ist mir bis heute, als hätte ich eine Spur gelegt! Sieben Jahre ist das her seit ich aus Deutschland geflohen bin, und noch immer quält mich die Sache mit dem Fahrrad.«

Das Feuer war erloschen, und es war kühler jetzt in der Nacht. Hell strahlte das Kreuz des Südens im blauschwarzen Himmel. Ein Windhauch kam auf. In der Hütte, ausgestreckt auf unseren Strohsäcken, lauschten wir dem Rauschen der Blätter im Wind.

»Bist du noch wach?« fragte Albert.

»Bin ich.«

»Diesen Brandsatz zu schleudern«, sagte er, »und dann einfach zu verschwinden ... wo doch Umsicht und Weitblick zum Überleben gehörte.«

»Wer wird schon damit geboren«, sagte ich. »Das bringt doch erst die Erfahrung.«

»Mir zu spät«, erwiderte Albert dumpf, »viel zu spät!«

 

Der Einsiedler

Ich sehe ihn vor mir, als wäre ich erst gestern und nicht vor Jahren auf ihn gestoßen - ein alter Mann in den Sechzigern mit buschigen Brauen und weißem Haar, der gekrümmt ging wie unter einer Last und mit ziehendem Atem sprach, als drücke es ihm die Luft ab. Es kostete ihn Überwindung, auf Deutsch zu antworten und erst, als er mehr von mir und meiner Vergangenheit wusste, erbot er sich, mich durch den Wald auf den Weg zu bringen, der mich zu dem entlegenen böhmischen Dorf führen würde, das ich suchte. Ehe wir die Lichtung erreichten, von wo aus Dächer und Kirchturmspitze zu erkennen waren, hatte ich erfahren, dass er seit Kriegsende allein und nur auf sich gestellt in einem im Wald verborgenen Blockhaus lebte und sich um das Rotwild kümmerte, besonders im Winter zur Zeit der Futterknappheit. Nein, nicht das Alter, auch keine Krankheit habe ihn so gebeugt, sondern Hiebe - »fünfundzwanzig Peitschenhiebe im Lager Buchenwald ...«

Warum bloß erzähle ich das alles erst heute. Wer aus der Schar von Häftlingen, die dieser Mann vorm Hungertod bewahrte, wird noch bezeugen können, was er mich in knappen Worten wissen ließ - wie ihm damals im Lager, weil er von Beruf Tierpfleger war, die Betreuung eines Menschenaffen befohlen worden war, den der Lagerkommandant sich hielt, einen zottigen, rotbraunen, schon betagten Orang-Utan.

»Ein wählerisches Vieh und so gefräßig«, sagte er und zählte auf, was täglich für den Affen herangeschafft werden musste. »Gemüse, Bananen, Apfelsinen, Säfte und gesüßter Tee, Reispudding und Marmelade. Und immer auch ein Ei. Können Sie ermessen, was das damals für unsereins bedeutete - ein frisches weichgekochtes Ei!«

Ich ahnte, was folgen würde - natürlich unterschlug er dem Affen zunächst die Eier, später auch das Gemüse, die besten Früchte und ein Großteil der Marmelade. »Es war einfach nicht mit anzusehen, dass das Vieh verschlang, wovon wir nur träumen konnten. Alle Orang-Utans sind Verschwender, aber dieser erst! In den Baracken starben die Männer vor Hunger, während der Affe - ach, Sie begreifen schon, was ich Ihnen sagen will.«

Natürlich begriff ich.

»Ich glaubte, das Tier hätte was zuzusetzen, fett genug war es ja gewesen, doch es machte erstaunlich schnell schlapp, verfiel förmlich vor meinen Augen und erholte sich auch nicht, als ich ihm wieder vorsetzte, woran es gewöhnt war. Schläfrig hockte es in der Ecke seines Käfigs und glotzte mich stumpf aus fiebrigen Augen an. Es war schon ein Wunder, wenn das Tier einen Arm reckte und nach einem Ast griff. Mir wurde angst, weil ich mir keinen Rat mehr wusste.«

Inzwischen waren wir zu der Lichtung und dem Weg gelangt, den ich gehen musste. Fern am Wiesenrand hob sich dunkel ein Rudel Rehe gegen den Himmel ab. Mit schnellem Griff hielt er mich zurück und nun schwiegen wir beide. Erst als das Wild uns witterte und floh, wandte er sich wieder zu mir. »Bei aller Tierliebe,« sagte er, »den Affen hasste ich. Mit jedem Bissen, den er lustlos verschlang, raubte er einem der unseren das Leben. Er litt, das war klar, ich aber verfluchte ihn. Was bloß fehlte ihm, warum erholte er sich nicht. Natürlich blieb sein Zustand dem Lagerkommandanten nicht verborgen - doch da war es schon zu spät. Das Tier verendete mitten im Überfluss. Und da auch ging mir auf, warum es so rapide bergab gegangen war mit ihm. Wussten Sie, dass ein Orang-Utan weit anfälliger für Tuberkulose ist als ein Mensch?«

»Sie hatten Tuberkulose?«

»So war es«, antwortete er. »Mich hätte der Lagerkommandant niemals als Pfleger bestimmen dürfen.« Er richtete sich mühsam auf und blickte mich an. »Das mit meiner Lunge hat sich in den Jahren gebessert«, sagte er noch. »Den Schaden von den fünfundzwanzig Hieben aber schleppe ich mit ins Grab.«

 

Der Schriftsteller Walter Kaufmann, 1924 geboren, ist deutscher und australischer Staatsbürger. 1985 bis 1993 war er Generalsekretär des PEN-Zentrums der DDR (s. auch »Mitteilungen« 1/2014, S. 21 f.).

 

 

Mehr von Walter Kaufmann in den »Mitteilungen«: 

2014-01: Yes, Your Honour – and proud of it!