Zur Kolonialfrage
Sahra Wagenknecht, Berlin
Rede auf der Veranstaltung „100 Jahre Sozialistenkongreß“ in Stuttgart 2007
Als die 884 Delegierten des Sozialistenkongresses 1907 über die Kolonialfrage debattierten, haben das die meisten von ihnen vermutlich in der Erwartung getan, daß das blutige Zeitalter des Kolonialismus für jene Generationen, die ein Jahrhundert später leben, nichts anderes mehr sein würde als ein dunkles Kapitel Vergangenheit, ein Thema für Historiker und für den Geschichtsunterricht.
Tatsächlich gibt es die alten Kolonialreiche mit ihren Kaisern und Königen an der Spitze heute nicht mehr. Auch die Zeiten, in denen man Farbige als Sklaven in Ketten legte und über die Weltmeere verschiffte, scheinen vorbei zu sein. Dennoch: die Ketten sind nicht verschwunden. Es hat sich nur das Material verändert, aus dem sie gemacht sind. Die Versklavung und Ausbeutung der sogenannten Dritten Welt ist heute um nichts weniger brutal als vor einhundert Jahren.
Eine der wichtigsten Ketten, die seit Mitte der achtziger Jahre die Wirtschaften der Entwicklungsländer stranguliert, sie in Lethargie und Zerfall getrieben und Milliarden Menschen von jeder Hoffnung auf ein besseres Leben abgeschnitten hat, heißt Schuldendienst. Dieser Schuldendienst gewährleistet seit über zwanzig Jahren einen jährlichen Nettogeldtransfer von den armen in die reichen Länder in inzwischen dreistelliger Milliardenhöhe. Und das Perfide ist, daß die Gesamtverschuldung trotz des steten Geldflusses nicht sinkt, sondern immer weiter steigt und inzwischen die gigantische Summe von über 3,2 Billionen Dollar erreicht hat. An diesem steigenden Trend wird übrigens auch der jüngste heuchlerisch als generöses Geschenk verkaufte Erlaß eines Bruchteils dieser Schulden für die ärmsten Länder nichts ändern.
Und mit der Last der Schulden wuchs und wächst erneut auch die Abhängigkeit der einstigen Kolonien von den kapitalistischen Großmächten und den von ihnen beherrschten Institutionen.
Den Schulden folgten die IWF-Diktate, die in der Regel jeden Keim einer selbsttragenden wirtschaftlichen Entwicklung im betreffenden Ländern zerstörten, die die Länder ausbluteten, sie zur Verschleuderung ihrer Rohstoffe und Ressourcen zwangen und so die Armut in die Höhe trieben. Ein Land wie Kongo etwa ist einer der größten Goldproduzenten und beherbergt 50 Prozent aller weltweiten Diamantvorkommen. Trotzdem ist das Land bitterarm, weil die Bodenschätze ausnahmslos von Minengesellschaften aus Europa und den USA ausgebeutet werden, die noch nicht einmal relevant Abgaben dafür zahlen.
Den Schulden folgte der Zwang zur Privatisierung. So koppelte die Weltbank seit Ende der 80er Jahre fast ihre gesamten Wasserkredite an irgendeine Form von Privatisierungsauflagen. Elementarste Güter werden so zum lukrativen Renditeobjekt internationaler Konzerne, mit katastrophalen Folgen gerade für die ärmere Bevölkerung.
Den Schulden folgte der Zwang zur bedingungslosen Marktöffnung und Kapitalmarktliberalisierung und schließlich zum Ausverkauf der wirtschaftlichen Kapazitäten. Unter dem Druck der Gläubigerstaaten haben die Entwicklungsländer seit Mitte der 80er Unternehmenswerte in Höhe von 730 Mrd. Dollar an ausländische Multis verkauft.
Wer heute über die Kolonialfrage spricht, der muß anerkennen: Die Politik der imperialistischen Länder tötet in ihren einstigen Kolonien auch heute noch; sie tötet durch massenhafte Armut und brutal verhinderte Entwicklungschancen, sie tötet durch Ausplünderung und Ausbeutung, sie tötet durch Dumpingpreise, die die örtliche Landwirtschaft und Kleingewerbe zerstören, sie tötet durch Herabspekulieren ihrer Währungen auf zwangsliberalisierten Kapitalmärkten mit allen verheerenden Folgen für wirtschaftliche Stabilität und Lebensverhältnisse.
Und sie tötet nach wie vor – genauer: weit mehr als in den zurückliegenden 50 Jahren – heute wieder durch Krieg, der immer da zum Einsatz kommt, wo die sanfte Macht ökonomischer Erpressung nicht ausreicht, oder auch, wo die imperialistischen Mächte sich nicht einig sind. Beim Einsatz internationaler Truppen im Kongo ging es beispielsweise nicht zuletzt darum, die kriminelle Privatisierung sämtlicher Bergbaukonzessionen zu Billigstpreisen an internationale Minenkonzerne abzusichern. Grauenvollen Metzeleien wie dem Abschlachten ganzer Volksgruppen in Ruanda lagen in letzter Instanz Stellvertreterkriege kapitalistischer Großmächte – in dem Fall zwischen Frankreich und den USA – zugrunde.
Gerade in diesem Zusammenhang kann man feststellen, daß die heutige weltpolitische Entwicklung auffallende und erschreckende Parallelen zur Situation von vor hundert Jahren zeigt. Deshalb gibt es, denke ich, einige sehr wichtige Dinge, die wir von den Sozialisten, die zu dieser Zeit gelebt und gekämpft haben, lernen können.
Damals wie heute hat man es mit einer massiven Militarisierung, mit einer Zunahme kriegerischer Konflikte und einem verschärften imperialistischen Konkurrenzkampf um Rohstoffe, Handelswege und Märkte zu tun. „Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.“ Mit diesen Worten hatte der deutsche Reichskanzler von Bülow im Dezember 1897 die deutsche Kolonialpolitik begründet. Was dies bedeuten sollte, wurde in den folgenden Jahren immer offensichtlicher. Das deutsche Reich, dessen industrielle Entwicklung verspätet begonnen hatte, drängte aggressiv auf eine Neuaufteilung der Welt. Im Jahr 1903 wurde die Bagdadbahn gebaut, was – ebenso wie das aggressive Flottenwettrüsten – zu immer schärferen Konflikten vor allem mit Großbritannien führte, das seine Interessen insbesondere im Nahen Osten bedroht sah.
Auch Afrika war Schauplatz heftiger Konflikte – zwischen Deutschland und Frankreich sowie Großbritannien einerseits, aber zugleich zwischen den Kolonialmächten und den unterdrückten Völkern. So reagierte beispielsweise das deutsche Reich im Jahr 1904 auf einen Aufstand der Hereros in Südwestafrika, indem es etwa 100.000 Menschen niedermetzeln ließ. Selbst heute, 100 Jahre später, kann sich die deutsche Entwicklungsministerin übrigens noch immer nicht zu einer offiziellen Entschuldigung für diese Verbrechen durchringen – aus erbärmlicher Angst vor Entschädigungsforderungen ...
Die Gefahr, die uns auch heute durch forcierte Aufrüstung und durch die Entsendung deutscher Soldaten auf den Balkan, nach Afrika und bis an den Hindukusch droht, darf nicht unterschätzt werden. Denn auch heute wird um die Neuaufteilung der Welt gekämpft – und wenn friedliche Mittel nicht ausreichen, um den Zugang zu Märkten und Rohstoffen durchzusetzen, greift man immer schneller und ungehemmter zu den unfriedlichen.
Die aggressive Verfolgung vor allem deutscher Interessen hat zur Zerstückelung Jugoslawiens und zum Krieg der NATO gegen Serbien geführt, ebenso wie die aggressive Verfolgung US-amerikanischer Interessen derzeit auf die Zerstückelung des Irak und das Schüren eines blutigen Bürgerkriegs dort aus ist.
Die von Bush senior so getaufte Neue Weltordnung, in der das Völkerrecht mit Füßen getreten und wieder ungeniert Kriege um Öl und andere Ressourcen geführt werden, markierte einen Durchbruch in dieser Richtung. Ihm folgte 2001 mit der Erklärung des zeitlich und räumlich unbegrenzten Kriegs gegen den Terror eine neue Welle ungehemmter Aggression. Und Europa – nicht zuletzt unter deutschem Einfluß – rüstet sich, bei künftigen Schlachten noch weit stärker als bisher als eigenständiger Akteur dabeizusein. Um so wichtiger ist es, daß die Linke in Deutschland von der Entwicklung der Jahre 1907 bis 1914 lernt.
Die erste Lektion lautete damals und heute: Von deutschem Boden darf kein Krieg mehr ausgehen! Die Auslandseinsätze der Bundeswehr müssen beendet und die Truppen zurückgeholt werden, aus der NATO muß man austreten, sofern es nicht gemeinsam gelingt, dieses Kriegsbündnis aufzulösen, und imperialistischen Mächten wie den USA sollte man verbieten, deutsche Flughäfen oder Militärbasen für ihre Kriege zu nutzen.
Die zweite und kaum weniger wichtige Lektion lautet, daß auch die schönsten Programme und Beschlüsse gegen den Krieg nichts nützen, wenn dahinter nicht der feste Wille steht, auch den Beschlüssen gemäß zu handeln. Denn auch auf dem Sozialistenkongreß 1907 wurden gute Beschlüsse gegen den Krieg gefaßt: So konnte Rosa Luxemburg im Bündnis mit den russischen Sozialisten Lenin und Martow eine Erklärung durchsetzen, die lautete: „Falls der Krieg dennoch ausbrechen sollte, sind [die sozialistischen Parteien] verpflichtet, für dessen rasche Beendigung einzutreten und mit allen Kräften dahin zu streben, die durch den Krieg herbeigeführte wirtschaftliche und politische Krise zur Aufrüttelung des Volkes auszunutzen und dadurch die Beseitigung der kapitalistischen Klassenherrschaft zu beschleunigen.“
Doch wie wir wissen, wurde der rechte Flügel in den Sozialdemokratien fast aller Länder in den Jahren 1907 bis 1914 so stark, daß an eine praktische Umsetzung dieses Beschlusses im Jahr 1914 nicht zu denken war. Es kam zur Bewilligung der Kriegskredite durch die SPD und damit zur Spaltung der Partei.
Wie in der Friedensfrage, so waren auch in der Kolonialfrage auf dem Sozialistenkongreß vor 100 Jahren bereits Tendenzen, die die künftige Entwicklung ankündigten, erkennbar: Hatte die sozialistische Internationale bis dahin noch jeder Kolonialpolitik eine klare Absage erteilt, so gab es plötzlich eine intensive Diskussion über die möglichen Vorzüge einer sozialistischen Kolonialpolitik. In der damaligen Antragskommission fand die Position, nach der die sozialistische Kolonialpolitik zur Zivilisierung von unterentwickelten Ländern beitragen könne, eine Mehrheit, und es gab nicht wenige Delegierte, die ganz im Sinne der herrschenden Politik erklärten, daß Europa bzw. Deutschland auf Kolonien angewiesen sei. Der Sozialistenkongreß „verwirft nicht prinzipiell und für alle Zeiten jede Kolonialpolitik, die unter sozialistischem Regime zivilisatorisch wird wirken können“, so hieß die Formulierung der Antragskommission.
Für die Sinnhaftigkeit einer „sozialistischen Kolonialpolitik“ sprach sich im Namen der deutschen Delegation unter anderen der bekannte Vertreter des rechten Parteiflügels Bernstein aus. „Wir müssen von der utopischen Idee abkommen, die dahin geht, die Kolonien kurzweg zu verlassen“, so Bernstein, oder „eine gewisse Vormundschaft der Kulturvölker gegenüber Nichtkulturvölkern ist eine Notwendigkeit, die auch Sozialisten anerkennen sollten.“ Auch fehlte es nicht an Warnungen, die Kolonien könnten in die Barbarei zurückfallen, wenn man sie in die Hände der Eingeborenen zurückgeben würde.
Wer fühlt sich hier nicht an Diskussionen um den Abzug von Truppen aus Afghanistan oder dem Irak erinnert, wo das Argument, ein solcher Abzug könne zu Chaos, islamistischer Barbarei und blutigen Bürgerkriegen führen, immer wieder zu hören ist. Neuerdings sogar von einzelnen Stimmen aus der Linken.
Beim Sozialistenkongreß 1907 wurde der kolonialistische Resolutionsentwurf allerdings noch mit 128 gegen 108 Stimmen zu Fall gebracht und durch eine scharfe Verurteilung der imperialistischen Kolonialpolitik ersetzt. Es ist auch heute die zentrale Aufgabe der Linken, alle vermeintlichen Argumente und Gründe für die Unterjochung und Ausbeutung anderer Nationen und Völker ebenso zurückzuweisen wie jeden Ansatz, der Kriegen – und sei es solchen mit UN-Mandat – auch nur eine Spur von Legitimität verleiht.
Es ist auf dieser Welt noch kein Krieg im Dienste von Freiheit und Humanität begonnen worden. Alle Kriege der vergangenen zweihundert Jahre hatten letztlich die gleiche Wurzel wie die koloniale und neokoloniale Ausplünderung der Entwicklungsländer: es geht um den billigen Zugang zu Rohstoffen, Energiequellen und strategischen Positionen zum Zwecke der Profitmaximierung. Insofern muß für unsere Antikriegsposition das gleiche gelten, was Clara Zetkin vor 100 Jahren in Bezug auf den Kampf gegen den Kolonialismus festgestellt hat: „Es gibt keine Kolonialpolitik außer kapitalistischer, und der Sozialismus bekämpft sie mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln und ohne einschränkende und verwirrende Klauseln.“
Ganz sicher werden die Kolonialfrage wie auch die Kriegsfrage so lange aktuell bleiben, wie der Kapitalismus die globale Wirtschaft bestimmt. In Lateinamerika erleben wir derzeit in einer Reihe von Ländern den Ausbruch aus dieser verheerenden Entwicklungslogik; das macht Mut und Hoffnung, und die uneingeschränkte Solidarität mit diesen Ländern sollte für jeden Linken eine Selbstverständlichkeit sein.
Dazu beizutragen, daß auch in Europa das Bewußtsein einer grundsätzlichen Alternative zur kapitalistischen Profitwirtschaft in die Köpfe zurückkehrt, ist eine der wichtigsten Aufgaben der Linken. Denn nur, wer Alternativen sieht, der wehrt sich auch. Und je stärker der Widerstand gegen kapitalistische Ausbeutung und ein neoliberales Regime in Europa wird, desto besser stehen die Chancen, auch das neokoloniale Regime der Ausplünderung und Ausbeutung auf internationaler Ebene zu überwinden.