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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Zur Frage der Nationalitäten oder der »Autonomisierung«

Wladimir Iljitsch Lenin (10. / 22. April 1870 – 21. Januar 1924)

 

 

(Fortsetzung)

Ich habe bereits in meinen Schriften über die nationale Frage geschrieben, daß es nicht angeht, abstrakt die Frage des Nationalismus im allgemeinen zu stellen. Man muß unter­scheiden zwischen dem Nationalismus einer unterdrückenden Nation und dem Nationalis­mus einer unterdrückten Nation, zwischen dem Nationalismus einer großen Nation und dem Nationalismus einer kleinen Nation.

Was die zweite Art von Nationalismus betrifft, so haben wir Angehörigen einer großen Nation uns in der geschichtlichen Praxis fast immer einer Unzahl von Gewalttaten schuldig gemacht, ja mehr als das, unmerklich für uns selbst fügen wir den anderen eine Unzahl von Gewalttaten und Beleidigungen zu – ich brauche mir nur meine Wolgazeit ins Gedächt­nis zurückzurufen und mich daran zu erinnern, wie man bei uns die Nichtrussen behandelt, wie man einen Polen nicht anders denn »Polacken« nennt, jeden Tataren als »Fürsten« ver­spottet, den Ukrainer nur beim Spitznamen »Chochol« ruft, alle Georgier und die Angehöri­gen anderer kaukasischer Stämme als »Kapkaser« verhöhnt.

Deshalb muß der Internationalismus seitens der unterdrückenden oder sogenannten »gro­ßen« Nation (obzwar groß nur durch ihre Gewalttaten, groß nur in dem Sinne, wie ein Dershimorda groß ist) darin bestehen, nicht nur die formale Gleichheit der Nationen zu beachten, sondern auch solch eine Ungleichheit anzuerkennen, die seitens der unter­drückenden Nation, der großen Nation, jene Ungleichheit aufwiegt, die sich faktisch im Leben ergibt. Wer das nicht begriffen hat, der hat die wirklich proletarische Einstellung zur nationalen Frage nicht begriffen, der ist im Grunde auf dem Standpunkt des Kleinbürger­tums stehengeblieben und muß deshalb unweigerlich ständig zum bürgerlichen Stand­punkt abgleiten.

Was ist für den Proletarier wichtig? Für den Proletarier ist nicht nur wichtig, sondern gera­dezu lebensnotwendig, sich seitens des Nichtrussen ein Maximum von Vertrauen im prole­tarischen Klassenkampf zu sichern. Was ist dazu nötig? Dazu ist nicht nur die formale Gleichheit nötig. Dazu ist nötig, durch sein Verhalten oder durch seine Zugeständnisse gegenüber dem Nichtrussen so oder anders das Mißtrauen, den Argwohn zu beseitigen, jene Kränkungen aufzuwiegen, die ihm in der geschichtlichen Vergangenheit von der Regie­rung der »Großmacht«nation zugefügt worden sind. [...]

Deshalb erfordert in diesem Falle das grundlegende Interesse der proletarischen Solidari­tät und folglich auch des proletarischen Klassenkampfes, daß wir uns zur nationalen Frage niemals formal verhalten, sondern stets den obligatorischen Unterschied im Verhalten des Proletariers einer unterdrückten (oder kleinen) Nation zur unterdrückenden (oder großen) Nation berücksichtigen.

Niederschrift: M. W. 31. XII. 1922            Lenin

 

Quelle: W. I. Lenin, Die letzten Briefe und Artikel, Dietz Verlag Berlin, 1982, S. 20-25.

Der Begründer des Sowjetstaates Wladimir Iljitsch Lenin, »der an den Schlaf der Welt rührt« (J. R. Becher, H. Eisler), starb vor 100 Jahren, am 21. Januar 1924. Er führte die Oktoberrevolution 1917 zum Sieg, überlebte am 30. August 1918 das gegen ihn gerichtete Attentat knapp, ohne sich davon wieder zu erholen. Seine letzten Briefe und Artikel gelten als politisches Vermächtnis.