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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Zum 25. Todestag von Michail Scholochow

Leseprobe

Geboren am 24. Mai. 1905, am 21. Februar 1984 gestorben. Es folgt eine Episode aus dem ersten Teil von "Der stille Don" (1928).

Mit seinem Roman "Der stille Don" erinnert Scholochow "an das Beste, was es je in der russischen Literatur gegeben hat" (Lunatscharski).

"Bei Scholochow", so Otto Gotsche, "gibt es keine Konfliktlosigkeit oder gar eine billige optimistische Schlußlösung; Konflikte in der Brust des Menschen, die sein Inneres zerreißen, die ihn zu Handlungen treiben, in denen er siegt oder zugrunde geht, der klaffende Konflikt des Kampfes des Neuen gegen das zerbrechende Alte – vor unsere Augen hält Scholochow den Spiegel, in dem wir uns alle selbst. erkennen."

"Die Jelansker und Wjoschensker haben sich erhoben. Fomin und die ganze Obrigkeit sind aus Wjoschki und Tokin geflohen. Vielleicht sind auch Kasanskaja, Schumilinskaja und Migulinskaja im Aufstand. Begreifst du, wonach das riecht?"

Die Adern an Grigoris Stirn und Hals schwollen an, grünliche Fünkchen blitzten in seinen Augen. Er konnte seine Freude nicht verbergen, seine Stimme bebte, ziellos glitten seine schwarzen Finger über die Knopflöcher des Mantels. "Und bei euch ... im Chutor? Was? Wie?"

"Nichts zu hören. Ich hab den Vorsitzenden gesehen, der lacht. ‚Mir ist’s gleich’, sagt er, ‚zu welchem Gott ich bete, Hauptsache, ein Gott ist da.’ So kriech schon raus aus deinem Loch!"

Sie gingen ins Haus. Grigori machte Riesenschritte, neben ihm tippelte der Hausherr und erzählte: "Im Jelansker Bezirk hat sich als erster der Chutor Krasnojarski erhoben. Vorgestern waren zwanzig Kommunisten aus Jelanskaja nach Kriwskoi und Pleschakow ausgezogen, um dort Kosaken zu verhaften. Aber die Krasnojarsker hatten Wind von der Sache bekommen. Sie versammelten sich und beschlossen: ,Wie lange wollen wir das noch dulden? Jetzt greifen sie nach unsern Vätern, dann kommen wir dran. Sattelt die Pferde, befreien wir die Verhafteten!’ An die fünfzehn Mann hatten sich zusammengefunden, lauter junge Draufgänger ... So begann der Tanz. Aus ist’s mit der Sowjetmacht, zum Teufel mit ihr!" ...

Das Gespräch war eben in Fluß gekommen – einer der Kosaken hatte zu erzählen begonnen, wie die Reschetowsker, Dubrowsker und Tschernowsker Fomin aus Wjoschenskaja vertrieben hatten –, als am Ende der Straße, die auf einen weißen, breitstirnigen Hang zuführte, zwei Reiter erschienen. Sie jagten die Straße herauf, hielten bei jeder Gruppe an, rissen ihre Pferde herum, fuchtelten mit den Armen und schrien etwas. Grigori erwartete ungeduldig ihr Kommen. ...

Die beiden Reiter galoppierten über die nächste Straßenkreuzung auf sie zu. Der vordere, ein alter Kosak in offenem Schafpelz, ohne Papacha, mit schweißtriefendem, rotem Gesicht und in die Stirn fallenden grauen Locken, brachte sein Pferd mit Bravour zum Stehen, bog sich im Sattel weit zurück und streckte den rechten Arm vor. "Kosaken, was steht ihr da herum wie die Weiber an den Straßenecken!" rief er aus. Zornige Tränen erstickten seine Stimme, seine dunkelroten Wangen bebten vor Erregung. ...

"Was steht ihr da, Söhne des stillen Don!" schrie der Alte noch einmal und ließ seinen Blick über Grigori und die anderen gleiten. "Sie erschießen eure Väter und Großväter, sie nehmen euch euer Hab und Gut, jüdische Kommissare verspotten euren Glauben, und ihr knackt hier Sonnenblumenkerne und geht zu Spiel und Tanz! Ihr wartet wohl, bis man euch mit der Fang­leine die Kehle zuschnürt? Wie lange wollt ihr euch noch an die Röcke eurer Weiber klammern? Alle Chutors des Jelansker Bezirks, jung und alt, haben sich erhoben. Aus Wjoschenskaja sind die Roten vertrieben. ... Und ihr, Rybnyer Kosaken? Ist euch das Leben nicht lieb? Oder fließt vielleicht Bauernkwaß statt Kosakenblut in euren Adern? Erhebt euch! Greift zu den Waf­fen! Der Chutor Kriwskoi hat uns geschickt, um alle zum Auf­stand zu rufen! Aufgesessen, Kosaken, solange noch Zeit ist!" Mit irren Augen blickte er um sich, sah einen Alten, den er kannte, und rief mit gekränkter, bebender Stimme: "Warum stehst du hier, Semjon Christoforowitsch? Deinen Sohn haben die Roten bei Filonowo in Stücke gehauen, und du verkriechst dich auf dem Ofen!"

Grigori hörte nicht weiter zu. Er stürzte in den Hof, führte sein Pferd aus der Spreukammer, grub seinen Sattel unter den Kuhmistziegeln hervor, daß die Nägel abbrachen und die Finger blutig wurden, und sprengte wie ein Besessener durch das Tor. ...

Grigori spürte in sich eine so wilde, unbändige Freude, einen solchen Zustrom von Kraft und Entschlossenheit, daß sich seiner Kehle unwillkürlich ein schriller, heiserer Schrei entrang. Seine verborgensten, bis dahin in Fesseln geschlagenen Gefühle machten sich frei. Hell und klar wie eine vom Mondlicht übergossene Straße schien ihm von diesem Augenblick an sein Weg.

Alles hatte er in jenen qualvollen Tagen erwogen und beschlossen, als er sich wie ein Tier in der Kuhmisthöhle hatte verkriechen, als er wie ein gehetztes Wild auf jeden von außen kommenden Laut, auf jede Stimme hatte lauschen müssen. Es war, als hätte er nie Tage des Suchens nach Wahrheit, des Schwankens, des Zwiespalts und der schweren inneren Kämpfe gekannt.

Wie der Schatten einer Wolke waren jene Tage verflogen, nun schien ihm all sein Suchen nichtig und leer. Was hatte es viel zu sinnen gegeben? Weshalb war die Seele auf der Suche nach einem Ausweg, nach einer Lösung der Widerspruche unstet umhergeirrt wie ein umstellter Wolf? Das Leben hatte sich gütig gezeigt, weise und einfach. Nun dünkte ihm bereits, es hätte in seinem Leben nie eine solche Wahrheit gegeben, unter deren Fittichen sich jeder hätte wärmen können, und aufs äußerste erbittert, dachte er: Jeder hat seine eigene Wahrheit, jeder zieht seine eigene Furche. Von jeher haben die Menschen um ein Stück Brot, um einen Streifen Land gekämpft, um das Recht zu leben, und sie werden darum kämpfen, solange die Sonne ihnen leuchtet, solange warmes Blut in ihren Adern rinnt. Kämpfen muß man gegen die, die einem das Leben, das Recht auf das Leben nehmen wollen; hart muß man kämpfen, ohne zu schwanken, fest muß man stehen wie eine Mauer, die Rotglut des Hasses, die Standhaftigkeit wird dir der Kampf schon geben. Nur seinen Gefühlen keinen Zwang antun, man muß ihnen freien Lauf lassen wie der Wut – so ist es.

Die Wege der Kosakenschaft kreuzen sich mit denen der land­armen Bauern Rußlands, mit denen des Fabrikarbeitervolks. Kämpfen muß man gegen sie auf Leben und Tod! Man muß ihren Klauen die fette Donerde, den mit Kosakenblut getränkten Boden entreißen. Man muß sie, wie einst die Tataren, aus dem Gebiet verjagen. Man muß Moskau aufs Haupt schlagen und ihm einen Schandfrieden aufzwingen. Auf einem schmalen Pfad gibt es kein Ausweichen: Wer wen? Einer muß stürzen. Haben wir’s mit ihnen versucht? Haben wir die roten Regimenter ins Kosakenland gelassen? Ja, wir haben’s versucht. Nun aber: Säbel raus!

So dachte Grigori, von blindem Haß verzehrt, als ihn sein Gaul über die weißmähnige Decke des Don trug. Einen Augenblick lang regte sich Widerspruch in ihm: Reiche gegen Arme, aber nicht Kosaken gegen Rußland. ... Mischka Koschewoi und Kotlarow sind auch Kosaken und durch und durch rot. ... Aber voller Grimm verwarf er diesen Gedanken.

Alfred Kurella schreibt im Nachwort der im Verlag Kultur und Fortschritt Berlin 1968 erschienenen Ausgabe (den Auszug entnahmen wir den Seiten 206 bis 210) des Romans:

"Was uns beim Lesen dieses Romanes bewegt, ist das Gefühl, das jede große Tragödie in uns wachruft. Hier ist es das Scheitern eines seinen Anlagen, seinem Lebensbeginn nach liebenswerten und wertvollen Menschen, dem aber durch viele von ihm unabhängige Umstände die Möglichkeit genommen wurde, den Anschluß an die vorwärts und aufwärts führenden Kräfte seines Volkes zu finden. Grundsätzlich hatte er die Möglichkeit und auch viele Voraussetzungen dazu. ...

Warum, warum war es Grigori Melechow nicht vergönnt, diesen Anschluß zu finden?...

Es ist das große Verdienst Scholochows, uns mit diesem Meisterwerk ... auf den ernsten, tragischen Zug aufmerksam gemacht zu haben, der jeder großen Umwälzung der Geschichte innewohnt. Für die Folgen jahrhundertelang angehäufter Ungerechtigkeit muß die Menschheit auch dann noch bezahlen, wenn das Grundübel an der Wurzel zerstört ist, wenn die neue Gerechtigkeit sich schon in der Geschichte durchgesetzt hat. Und bezahlen müssen auch diejenigen, die den Kampf gegen die alte Ungerechtigkeit führen!"