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Mitteilungen der Kommunistischen Plattform

Zum 100. Gründungstag der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken

Wolfgang Grabowski, Berlin

 

Zielstrebigkeit und Kompromisse

Mit der Gründung der Sowjetunion am 30. Dezember 1922 wurde wohl der wichtigste Schritt zur Festigung der revolutionären Entwicklung nach der Oktoberrevolution im größten Land der Erde unternommen.

Nacheinander waren die starken Heere der weißen Konterrevolution zerschlagen worden. Auch der Aufmarsch der internationalen Interventionstruppen der kapitalistischen Welt änderte daran nichts.

Lenin konnte seine Genossen überzeugen, dass das Land nun Frieden brauche, eine Atempause, auch wenn große Territorien von Russland mit dem Brest-Litowsker Vertrag abgetrennt worden waren.

Die Gründung ging einher mit Kompromissen im Inneren, wie auch nach außen. In dieser Zeit entwickelte sich Lenin in Windeseile zum hervorragenden Gestalter der Gesellschaft. Und er verstand die Leute einzubeziehen, ernst zu nehmen, er suchte geradezu den Dialog im Volk und unter den Aktivisten und Spezialisten. Man antwortete mit Vertrauen und Entgegenkommen.

So konnte der Gründungstag der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken mitbeachtlichen Ergebnissen beim Aufbau begangen werden: Der Friedensschluss, die Stärkung der Roten Armee, die Einführung der NÖP, was auf dem X. Parteitag der KPR(B) im März 1921 beschlossen wurde. Bis 1925 konnte auf dieser Grundlage die Volkswirtschaft wieder aufgebaut werden. Bildung und Kultur gingen mit großen Schritten voran.

Außenpolitisch konnte die UdSSR ihre Positionen bedeutend stärken. Da wäre vor allem der Abschluss des Vertrags von Rapallo mit Deutschland am 16. April 1922 zu nennen. Er bekräftigte die Lebensfähigkeit der Leninschen These von der friedlichen Koexistenz unterschiedlicher Staatensysteme. Der Vertrag half die internationale Isolierung der beiden Staaten erfolgreich zu bekämpfen. Die unterbrochenen wirtschaftlichen und diplomatischen Beziehungen wurden nach dem Prinzip der Meistbegünstigung wiederhergestellt. Man verzichtete auf Reparationen.

Im Zusammenhang mit dem Vertrag wurde die Lieferung von Industrieanlagen an Sowjetrussland vereinbart, mit denen auch die Ölfelder von Baku betrieben werden konnten. Die deutsche Seite verpflichtete sich, Lager und Tankstellen zur Vermarktung von Ölprodukten aus Sowjetrussland in Deutschland einzurichten. So sollte auch die Abhängigkeit von britischen und amerikanischen Öl-Multis eingeschränkt werden, die den Markt in Deutschland beherrschten.

1924 erfolgte die diplomatische Anerkennung durch Großbritannien, Italien, Frankreich und andere, 1925 durch Japan und 1933, wohl zuletzt, durch die USA.

1932-34 werden Nichtangriffspakte mit Polen, Frankreich, Finnland und anderen abgeschlossen. 1934 tritt die UdSSR dem Völkerbund bei.

Inmitten des erfolgreichen Aufbaus erliegt Lenin am 21. Januar 1924 den Folgen eines Attentats am 31. August 1918 im Moskauer Michelson-Werk. Das ganze Land trauerte. Und viele sind besorgt, ob der menschenfreundliche und kluge Kurs Lenins beibehalten werden kann. Für viele ist die Warnung Lenins vor dem groben Umgang Stalins mit den Menschen, auch mit den engsten Kampfgenossen allgegenwärtig. Soll das regierende Praxis werden und könnte das nicht zum Untergang führen? Leider ist das eingetreten.

Über Ursachen des unglaublichen Niedergangs der UdSSR

Im Absatz zuvor wurde ein wesentlicher, wahrscheinlich der wichtigste Faktor des tragischen Niedergangs des ersten Landes mit antikapitalistischem Anspruch erwähnt. Es ist nicht vorstellbar, wie viele Menschen Opfer des Stalinschen Personenkultes, der Repressalien wurden. Unglaublich, dass dennoch der Angriff der faschistischen Bestie zurückgeschlagen werden konnte und die Sowjetunion Weltmacht wurde. Die Sowjetunion war die Hauptkraft der Antihitlerkoalition und später in der Lage, mit Jurij Gagarin den ersten Menschen ins Weltall zu schicken. Solche Kraft hatte das Land schon erreicht.

Ein weiterer Grund lag in der mangelnden volksdemokratischen Einbeziehung der Massen in die Entscheidungsfindung. Der oben beschriebene Arbeitsstil Lenins war halt nicht allge­genwärtig, sondern oft nur Worthülse. Dies hätte aber in einer Gesellschaft mit anderem Anspruch und materiell-gesellschaftlichen Möglichkeiten nicht sein müssen.

Selbstloser Einsatz und den Möglichkeiten entsprechender Wohlstand der Mehrheit

Bei aller Bedeutung selbstlosen Einsatzes für die Ideale des sozialistischen Wirkens dürfen die materiellen Dinge nicht vernachlässigt werden. Im Gegenteil, sie müssen zum guten Gedeihen der Sache Einsatz finden.

Als wir von 1955 bis 1961 zum Studium in Moskau waren, sprach man dort von den »Goldenen Jahren der Sowjetunion« und meinte vor allem den beachtlichen materiellen Wohlstand, Lebensmittel und Konsumgüter. Wir zählten in unserem benachbarten Käseladen 23 Sorten. Im Fischladen am Kalushskaja Platz bekamen wir immer Räucheraal. Wir benannten unsere Futtergemeinschaft nach diesem Tier. Allerdings machten sich die Moskauer nach unseren Feststellungen nicht viel aus dieser hiesigen Delikatesse. Kaviar, schwarzer und roter, wurde in Fässern angeboten, auch für Studenten erschwinglich.

Natürlich machten wir uns keine Illusionen, Arme sahen wir, natürlich, auch. Und Moskau war nicht die Provinz, die aber auch so manche Vorzüge hatte.

Die Produkte in Mensa und Buffets im Institut waren schmackhaft und billig. Das blieb auch so, als draußen die Waren stark verteuert wurden oder überhaupt nicht zu ergattern waren. Unsere Mitarbeiter der Botschaft nannten in den achtziger Jahren das ansehnliche Kaufhaus an unserer Metrostation »Jugo-Sapadnaja« »Nudelburg«. Nudeln gab es immer, Butter und Fleisch manchmal, eher selten. Unser Kind lrina kam fröhlich angerannt, sie hatte Zwiebeln erstanden. Wir erkannten die Läden aus der Studenten- und dem ersten Arbeitsaufenthalt kaum wieder.

Wir haben uns gewundert, wie lange die Einheimischen das ertragen konnten. Das Problem wurde verschärft durch »Vettern- und Vorteilswirtschaft« und ähnliche Verhaltensweisen, die so gar nicht zu dem Sozialismusbild passten. So war der Wettbewerb mit dem Kapitalismus nicht zu gewinnen. Wie sollte man da den Sprüchen über den kommunistischen Aufbau Glauben schenken. Immer weiter gingen Worte und Realitäten auseinander.

Und die Sowjetunion und wir mit ihr lebten über unsere Verhältnisse. Dem Wettrüsten konnte so auf Dauer nicht Stand gehalten werden. Länder, von denen wir annahmen, dass sie auch bald den Sozialismus entgegen gehen würden, erhielten beträchtliche Mittel, die zuhause fehlten. So wurde Afghanistan zum Fiasko. Lenin hatte immer für freundliche, aber neutrale Distanz geworben, die den Realitäten entsprach und beiden Ländern gedient hätte.

Die Vergreisung der Parteiführungen

Lenin war ein verhältnismäßig junger Mann, als er das Land zu führen hatte. In der späten Sowjetunion konnte das Generationsproblem nicht gelöst werden, wie auch in anderen sozialistischen Ländern nicht. In kurzen Abständen verstarben in der Sowjetunion drei überalterte Generalsekretäre. Die Lösung der Kaderfrage blieb ein Schwachpunkt.

Zerstörerisch haben sich ungelöste Nationalitätenprobleme ausgewirkt, die bis in unsere Zeit reichen.

Die Zerstörer

In Russland, wie auch in anderen ehemaligen Sowjetrepubliken bedauert man, ähnlich wie der russische Präsident oder wie der ehemalige Ministerpräsident Jewgenij Primakow, dass die Sowjetunion nicht mehr existiert. Primakow erklärte in einer Veranstaltung der Gesellschaft für Auswärtige Politik in Berlin, »Man hätte doch das Kind nicht gleich mit dem Bade ausschütten müssen«, zumal Reformen angedacht waren und ein landesweites Referendum eine 75-Prozent-Zustimmung zum Erhalt der Union ergab. Präsident Putin hat den Zerfall der Sowjetunion in einer Grundsatzrede in der Duma am 25. April 2005 als »größte geopolitische Tragödie des Jahrhunderts« charakterisiert, die »für das Volk Russlands ein wahres Drama wurde«.

Es war vor allem Jelzin, der die Auflösung betrieb, zusammen mit dem ukrainischen Präsidenten Krawtschuk, der unlängst half, das Minsker Abkommen zur Strecke zu bringen. Der dritte im Bunde war der belorussische Präsident Schuschkewitsch. Am 8. Dezember 1991 unterzeichneten die drei »slawischen Präsidenten« im belorussischen Beloweshskaja Putscha eine Erklärung zur Auflösung der Sowjetunion und zur Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Das war faktisch ein kollektiver Staatsstreich der slawischen Präsidenten, vom »demokratischen« Westen bejubelt. Brzeziński forderte, dass, nachdem die Sowjetunion sich selbst zerlegt hatte, nun Russland zu zerstückeln sei und dabei die Ukraine von Russland ferngehalten werde müsse.

Immer wieder orakelt man im Westen, dass der Kreml die Union zurückhaben will. Dagegen stehen Realitäten, sehr unterschiedliche Interessen, wie die Ukraine drastisch zeigt. Aber ab 1993 wuchs die Erkenntnis, vor allem im Kreml, dass Zusammenarbeit durchaus sinnvoll sein kann. Am 22. Januar 1993 wurde das auch heute noch gültige Statut der GUS beschlossen. In unmittelbarer Folge wurden als hauptsächliche Instrumente ein Vertrag über kollektive Sicherheit, ein Abkommen über den Schutz der Außengrenze und ein Abkommen zum Zahlungsverkehr abgeschlossen sowie ein Wirtschaftskomitee gegründet.

Bis heute wirkt sich aus, dass das Gründungsziel der GUS hauptsächlich darin bestand, eine einigermaßen geordnete Auflösung der Sowjetunion, eine »zivilisierte Scheidung« zu vollziehen, eine »Jugoslawisierung« zu vermeiden.

Die UdSSR gehört zur Weltgeschichte, mit vielen wichtigen Erfahrungen, die es verdient haben, im Blickpunkt zu bleiben.

In diesem Sinne sollten sich die Linken auch mehr mit der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) und der BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) beschäftigen. Hier wächst ein neuer Zusammenhalt, der Wesentliches aus der Vergangenheit aufgreift und eine neue Geschichte schreibt. Hauptakteure sind China und Russland, die eng zusammenarbeiten.

Die SOZ strebt eine neue Weltordnung an, die multipolar und demokratisch ist, die Interessen aller berücksichtigt, eine friedliche Koexistenz der Interessen, also Hegemoniebestrebungen der USA werden prinzipiell abgelehnt.

Wolfgang Grabowski war von 1973-1977 Leiter der Abteilung Sowjetunion des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, von 1977-1984 Gesandter der DDR-Botschaft in Moskau, von 1985-1988 DDR-Botschafter in Syrien und Jordanien und von 1989-1990 Botschafter in Indien. 2003 bis 2004 leitete er die Filiale der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau.

 

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